Fredy Daxboeck
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Nur Susanna blieb verschont. Zusammengekauert hockte sie in einer Ecke, stumm vor Entsetzen. Betrunken, wie sie waren, ließen sie das kleine Bündel Mensch dort liegen.
In dieser Nacht tobte ein Gewitter, das die Wolken mit einem wahren Feuerwerk erleuchtete, der Regen tanzte auf dem Dach und die Luft war erfüllt mit dem Geruch von Ozon, nasser Wolle und Schwefel.
* * *
Der neue Morgen begrüßte Stefan Kovacic mit einer kühlen, klaren Brise, der Himmel im Osten war von einem dunklen Violett, in dem tiefhängende orange-rote Wolken dahinzogen. Er stand im Schatten der tropfenden Bäume, auf der Straße vor ihrem Büro neben Zoran Novak und schaute auf den Bus, der keine zehn Schritte vor ihm angehalten hatte. Touristen in ihren bunten Klamotten mit Rucksäcken und Gepäck, als wären sie für Wochen unterwegs, fielen aus der Tür, ohne auf die Pfützen zu achten, in die sie traten. Sie lachten laut, unterhielten sich ausgelassen, schauten zum Himmel hinauf und freuten sich über den neuen Tag. Der Regen gestern Nacht hatte die Luft gereinigt, der Morgen die Landschaft mit Nebel überzogen und der Wind vertrieb nun die letzten Reste.
Seine rechte Hand öffnete und schloss sich im Sekundentakt und er atmete die feuchte Kühle, die der Morgen brachte.
Vielleicht ist es gut, ein wenig umzurühren und Gerüchte zu streuen, dachte er. Wenn ich die Kerle nicht finde, muss ich sie aus ihrem Versteck locken. Er schaute nachdenklich zu ein paar Kindern die Straße hinunter, die unter den Bäumen spielten.
Er wusste nicht, ob es ein Einzelgänger war, der nur manchmal ans Tageslicht kam oder eine Gruppe, die wie räuberische Heuschrecken in ihrem Wald einfielen oder irgendetwas dazwischen.
Es ist eine Ratte, dachte er. Und eine Ratte verkriecht sich in einem Loch. Ich muss nur das Loch finden, um ihn auszuräuchern. Genau genommen war es ohnehin bloß ein Verdacht, ein Bauchgefühl. Sie konnten bis jetzt nichts nachweisen, hatten keine verwertbaren Spuren.
»Ich werde im Laufe der Woche die Handvoll Jagdhütten besuchen, die verstreut im Wald stehen, danach die Camps mit Aussteigern, von denen ich weiß, und dann die Prepper, die sich neuerdings in den Wäldern herumtreiben.«
»Von denen wirst du nicht viel erfahren«, antwortete Zoran und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er spitzte die Lippen und formte aus dem Rauch kleine Kringel. Versonnen betrachtete er die aufsteigenden Ringe. Das Licht unter den Bäumen ließ sein Gesicht fahl erscheinen.
»Zumindest halten sie die Augen offen. Die sehen überall Verschwörungen und achten auf Details. Man muss ihre kruden Gedanken nur in die richtige Richtung lenken, sie bei Laune halten.«
Einen Augenblick lang gab Zoran keine Antwort, er blickte ihn nur schief an. Die Pupille seines rechten Auges war rund und schwarz, wie ein Tropfen schwarzer Tinte auf billigem Papier.
»Solltest du in ein Wespennest stochern, bekommst du vielleicht Probleme. Diese Typen sind nicht zu unterschätzen. Das sind Freaks. Auf der einen Seite hilflose Stadtmenschen, auf der anderen Seite unberechenbar und gefährlich.«
»Unberechenbare Idioten machen Fehler, die mir unter Umständen weiterhelfen«, winkte Stefan ab. »Außerdem glaube ich nicht, dass es Prepper sind. Die haben genug mit sich selbst zu tun. Die kämpfen gegen die Regierung, Umweltschützer und gegen ihre eigenen Ängste. Nein! Es sind ganz normale Menschen, nette Nachbarn und Ehemänner. Die sind die wahren Monster unter uns.«
Sehr viel später am Abend starrte Stefan auf den Mond, der sich tief unter ihm auf dem Fluss spiegelte. In seinen Augen lag ein schmerzliches Leuchten, als er vor zwanzig Minuten zu der Weggabelung gekommen war und ihm bewusst wurde, dass ihn dieser Pfad wieder einmal genau an die Stelle am Fluss führen würde, wo er das Mädchen aus den Wurzeln eines toten Baumes geborgen hatte. Seine Gedanken waren heute bei ihr, denn in seinen Träumen sah er sie immer noch manchmal in den Wellen winken. Und trotzdem fühlte er sich nicht unbehaglich dabei, eher gestärkt in seinem Bestreben, die Mistkerle, die ihr dies angetan hatten, zur Strecke zu bringen.
Er hatte sich am Licht der Sterne orientiert, das von hoch oben einfiel, von dort, wo die Heimat der Götter war, während hier unten nach wie vor die Hitze des Tages über dem Wald hing und die Zikaden in den Sträuchern lärmten.
Es war ein guter Tag gewesen. Kein erfolgreicher, aber er konnte immerhin einige Möglichkeiten ausschließen, damit die Grenzen enger setzen und die Schlinge, die er um die Mörder ziehen wollte, allmählich zuziehen.
Warum erwarte ich immer mehr von einem Tag, als er vielleicht verdient hat, dachte er, und lauschte auf das Gezwitscher von Nachtvögeln im Wald hinter ihm und dem verhaltenen Knacken eines trockenen Astes. Er verharrte für einen Augenblick und hielt die Luft an, aber die Vögel zwitscherten unbeirrt weiter.
Bei drei Hütten, die er heute aufgesucht hatte, hatte er niemand angetroffen. Sie standen leer. Das Unkraut hoch und verdorrt. Spinnweben hingen an den Fenstern und Türen. In weitem Umkreis keine Spuren von Menschen. In einer weiteren Hütte ein junges Pärchen, offenbar frisch verliebt oder verheiratet, die nur Augen für sich gehabt hatten und die Einsamkeit sichtlich genossen. Sie waren überrascht, Besuch von einem Ranger zu erhalten.
Stefan hatte sie beruhigt und ihnen versichert, dass er und seine Kollegen ein Auge auf alle Touristen hätten. Es konnte nicht schaden, wenn die Leute meinten, die Ranger hätten tatsächlich alles unter Kontrolle. Jetzt fehlte ihm bloß noch das große Blockhaus, das am Rande seines Reviers und am einsamsten gelegen war. Obwohl er sich nicht viel davon versprach. Das Haus stand zu weit weg vom Geschehen. Dorthin verirrte sich kein Wanderer. Diese Gegend war den Jägern vorbehalten, die ihrerseits nur selten an den Fluss kamen.
Er wandte sich um und ging zurück zu seinem Lagerplatz, das Feuer war bis auf eine helle Glut herabgebrannt. Der Mond tauchte die kleine Lichtung in fahles Licht. Das silberne Kochgeschirr neben dem Feuer funkelte wie ein Spiegel in der Sonne. Sein Schatten kroch langgezogen und schemenhaft vor ihm über den Boden, am anderen Ende der Lichtung sang eine Nachtigall. Stefan rollte seinen Schlafsack als Unterlage aus, legte sich darauf, schlüpfte unter eine dünne Decke und schlief ein.
Die erste Andeutung des neuen Tages schimmerte schwach am östlichen Horizont. Die Sterne verblassten bereits, als er sein Lager abbrach, Erde über die Reste des kleinen Feuers streute, die Steine unter die Bäume warf und alle Spuren beseitigte, die verrieten, dass er hier gewesen war. Er rollte Schlafsack und Decke zusammen, packte den Rucksack und machte sich auf den Weg.
Am frühen Vormittag fand er die schmale Zufahrt, die zu dem Blockhaus führte, wie er hoffte. Zum wiederholten Mal in dem folgenden Fußmarsch, dachte Stefan an das Mädchen im Fluss. Sie war die treibende Kraft, die ihn weitergehen ließ. Ihr Antlitz, dass ihm seelenlos entgegengeblickt hatte, als er zu ihr hinuntergestiegen war. Vorwurfsvoll, im Entsetzen dessen, was mit ihr geschehen war.
Er hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, umzukehren, vielleicht einen Pfad weiter nördlich zu finden oder aufzugeben und die Suche an einer anderen Ecke weiterzuführen, als die Hütte endlich vor ihm auftauchte.
In einem offenen Fenster spiegelte sich zwischen den Eichen die Sonne und stach ihm scharf in die Augen. Stefan blieb stehen und starrte auf das Haus, aus soliden Stämmen auf ein Fundament aus unbehauenen Steinen gebaut, die teuren Wagen, die auf der Lichtung standen. Selbst im Schatten schwitzte er in seiner Kleidung. Er spürte den leichten Wind, der über die Bergkämme blies, befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und schnaubte abfällig. Neben dem Haus stand eine Gaslaterne, wie es sie in den kleinen verstreuten Dörfern in den Bergen gab. Vermutlich durch eine unterirdische Leitung gespeist. Eine ausgeblichene Markise blähte sich über der Veranda in der morgendlichen Brise. Sein Blick schweifte weg zu den Bäumen. Ein dunkler Schatten lag auf seinem Gesicht und er rieb sich gedankenverloren über die Stirn. Dann trat er auf die Lichtung, damit sie ihn im Haus sehen konnten und wartete.
Vorsichtig. Man konnte bei Leuten, die so einsam wohnten, nie wissen, wie sie reagierten.
Schließlich setzte er sich in Bewegung, ging auf die Hütte zu, den Rücken gerade und versuchte so viel Selbstbewusstsein auszustrahlen, wie ihm möglich war.
Das Geländer der Veranda war von der Sonne aufgeheizt. Er ließ die Hand darüber gleiten und stieg die Stufen hoch, blieb einen Augenblick stehen, hielt inne. Dann stellte er den Rucksack ab, klopfte mit den Knöcheln an die Tür und blickte über die Schultern zurück, ohne selbst zu wissen, was ihn nervös machte.
Eine lange Minute erhielt er keine Antwort, hörte aber, wie sich drinnen etwas bewegte. Ein Scharren, das ächzende Geräusch des Holzfußbodens, der sich unter den schweren Tritten eines Menschen bog, dann Stille.
Wieder klopfte Stefan, diesmal lauter.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein Mann tauchte dahinter auf. Das Gesicht wirkte blutleer, verkatert, seine Augen hatten rote Ränder, die Haut war straff über die Knochen gespannt.
»Was is´«
»Guten Morgen. Mein Name ist Stefan Kovacic. Ich bin Ranger der Stadt und hätte ein paar Fragen an sie. Darf ich reinkommen.«
Der Mann zögerte einen Moment mit der Antwort, senkte den Kopf, um nachzudenken, was ihm sichtlich schwerfiel. Das Saufgelage von letzter Nacht war ihm deutlich anzusehen. Dann trat er zurück, das Gesicht angewidert verzogen.
»Klar, kommen sie herein«, sagte er mit einem Winken, drehte sich um und schlurfte den Flur voraus, ohne weiter auf ihn zu achten. Stefan Kovacic drückte die Tür hinter sich zu und folgte ihm in die Küche.
»Hier ist mein Ausweis.« Er griff in seine Brusttasche, aber der Mann hielt eine Kanne in die Höhe und blinzelte verständnislos.
»Lassen sie stecken, ich glaube ihnen auch so.« Er versuchte ein Lächeln, das zur Grimasse erstarrte. »Kaffee? Ist frisch aufgebrüht. Wir haben gestern ein wenig über die Stränge geschlagen, wenn sie verstehen? Ich brauche selbst erst einen halben Liter davon, um mich zu finden. Im Moment stehe ich noch ziemlich neben mir.«
»Gerne, danke«, antwortete Stefan. »Es handelt sich nur um einen zwanglosen Besuch. Hätten Sie was dagegen, wenn ich mich setze, Herr ...?«
»Börnstein. Heimo Börnstein«, sagte der Mann und drehte Stefan den Rücken zu.
Der Ranger schaute sich unauffällig um. Die Küche war sauber aufgeräumt. Keine Teller, keine Gläser, kein schmutziges Geschirr. Nichts deutete auf ein Besäufnis unter Männern hin, wie ein damit verbundenes Chaos, aber was hatte er erwartet, eine Absteige, die wie eine Höhle aussah? Durch die Tür konnte er im Raum gegenüber eine Bar sehen, auf der Flaschen und Gläser standen.
»Sie wohnen ziemlich weit ab vom Schuss, wenn ich das so sagen darf. Hier ist kilometerweit keine Siedlung, nicht einmal eine Jagdhütte.«
»Mhm, ist eine Ecke weg von der Stadt, ja«, erwiderte Börnstein und kratzte sich am Kopf. »Das war mir nicht richtig bewusst, als ich die Hütte gekauft habe. Ich war nur einmal da und dachte, nette Hütte und viel Platz. Da kann man auch mit Freunden ein paar Tage verbringen, ohne dass es eng wird.« Er holte zwei Tassen aus dem Schrank über der Spüle und drehte sich um.
»Milch, Zucker, Gebäck?« Stefan lehnte dankend ab und nahm die Tasse Kaffee entgegen. Der Mann ließ sich neben Stefan auf einen Stuhl fallen, folgte seinem Blick und blies die Luft aus den Wangen. Ein amüsiertes Funkeln trat in seine Augen.
»Wir haben gestern ein klein wenig mehr getrunken, ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.« Er lehnte sich zurück und fuhr mit der einen Hand immer wieder über den anderen Handrücken.
Stefan lächelte gutmütig und nippte am Kaffee. »Ich denke, ich habe sie schon mal in der Stadt gesehen.«
»Ja, kann durchaus sein. Ich kaufe alles was ich brauche in der Stadt ein. So komme ich unter Leute, wenn ich hier meine Zeit verbringe und kann auch ein bisschen zurückgeben.«
»Nette Absicht. Verbringen sie viel Zeit in unserem Wald.«
»Nein, leider. So gut wie nie. Eine Woche im Frühling, ein paar Tage im Sommer und zwei Wochen im Herbst. Ich nehme mir öfter mal vor, mehr Zeit zu verbringen, schaffe es aber nicht wirklich.« Sein Blick ging zum Fenster hinaus, auf die Lichtung, wo die Hitze der Sonne fast spürbar war.
»Ich habe das Haus gekauft, weil ich eine Möglichkeit gesucht habe auszuspannen. Der Tretmühle zu Hause zu entkommen. Ich hätte auch eine baufällige Hütte gekauft und sie von Grund auf renoviert. Aber das Haus ist in gutem Zustand, da hatte ich Glück. Dafür streife ich durch den Wald und lerne die Umgebung besser kennen.«
»Mhm. Haben sie keine Angst, sich zu verirren? Der Wald ist riesig. Hier verirren sich die Menschen zu allen Zeiten. Wir finden sie manchmal, aber nicht immer.«
Heimo Börnsteins Augen musterten den Ranger und ein befremdliches Lächeln legte sich über seinen Mund. Seine Hände lagen reglos auf dem Tisch. Er wollte etwas sagen, wurde aber unterbrochen durch zwei Männer, die durch die Tür kamen. Sie trugen nur kurze Shirts und Unterhosen, waren unrasiert, rochen nach Alkohol, getrocknetem Schweiß, Testosteron und Hitze. Betreten blieben sie mitten im Raum stehen und schauten sich um, desorientiert. Ihre Gesichter so ausdruckslos wie frischer Brotteig.
»Guten Morgen«, begrüßte sie Stefan Kovacic und nickte ihnen freundlich zu.
»Morgen«, brummte der Größere, während der andere schwieg und wegschaute, als wunderte er sich, wie er hierhergekommen war.
»Das sind Freunde von mir und derzeitige Mitbewohner«, stellte sie Heimo vor und zeigte mit dem Finger auf sie. »Jeremy Gordon und Arno Daniels. Leute, das ist Stefan Kovacic, ein Ranger aus der Stadt.«
Er nahm seine Kaffeetasse zwischen die Hände und starrte mit leerem Blick hinein, als ob er in dem schwarzen Gebräu, aus dem noch immer leichter Dampf stieg, die Zukunft lesen konnte.
»Warum er uns die Ehre seines Besuchs erweist, hat er mir allerdings noch nicht verraten.«
»Ich muss unter die Dusche«, brummte Jeremy Gordon und ging nach draußen.
»Und ich brauche einen Kaffee«, sagte Arno Daniels, ließ sich auf einem Stuhl nieder und grinste verlegen.
»Steh auf! In der Küche ist ein Ranger. Verdammt, was will der bei euch? Hat das etwas mit den Mädchen zu tun? Ist er euch auf die Spur gekommen? Scheiße! In was bin ich da reingeraten?« Jeremy wedelte mit den Fingern vor Reinhard Frosts Gesicht und schnappte nach Luft. Der Raum war vom abgestandenen Geruch nach Alkohol, verschwitzten Leibern und Sex durchdrungen. Er ging zum Fenster, riss die Vorhänge zur Seite und stieß es weit auf.
Reinhard lag auf seinem Bett vergrub den Kopf unter dem Kissen und zog die Decke über sein Gesicht.
»Mach das Licht aus!«, ächzte er.
»Wach auf! Es gibt Probleme. Los! Raus aus den Federn!«
»Was ist? Was soll das?«
»Da unten ist ein Ranger, der Fragen stellt«, wiederholte Jeremy und ging in dem Zimmer auf und ab. Er grub seine Finger in die Schläfen und seinem Mund entwich ein Zischen.
»Scheiße!« Reinhard warf die Decke zurück, sprang hoch und schlüpfte fluchend in seine Hose. Er schüttelte mehrmals den Kopf und versuchte die Bildfragmente der letzten Nacht zu einem zusammenhängenden Film zu ordnen. Wieso war ein Ranger in ihrer Hütte? Hatten sie irgendetwas übersehen? Eine Spur gelegt?
»Ist er allein oder sind es mehrere?«
»Er ist allein. Sitzt mit Heimo beim Kaffee.«
Reinhard verharrte, dachte kurz nach, und setzte sich auf das Bett. Von unten drangen leise Stimmen durch die offene Tür. Dann ein kurzes raues Lachen. Er warf einen Blick durch das Fenster auf die Lichtung, konnte aber außer ihren vier Wagen, die unter den Bäumen im Schatten standen, kein weiteres Fahrzeug sehen. Der Ranger musste zu Fuß gekommen sein oder seinen Wagen am Weg zurückgelassen haben, um sie an der Flucht zu hindern.
»Kein Grund zur Sorge. Der ist vermutlich ohne bestimmten Grund auf seiner Runde bei uns vorbeigekommen. Vor ein paar Jahren war auch schon mal einer von ihnen zu Besuch. Mach bloß nicht die Pferde scheu. Die Kellertür ist gut getarnt, die findet er nicht. Außerdem kann er die Schlampen dort unten nicht hören, also lass es gut sein.«
»Mhm«, nickte Jeremy mit einem nervösen Funkeln in den Augen. An seinen Schläfen pulsierten grünlich schimmernde Adern.
»Ich gehe runter und du gehst unter die Dusche, damit es nicht aussieht, als ob du mich geholt hättest«, befahl Reinhard.
»Geht klar!«
Er angelte sich ein frisches Hemd aus dem Kasten und stieg die Treppe hinunter.
»Guten Morgen«, begrüßte er den Ranger und setzte ein überraschtes Gesicht auf. »Gibt es noch Kaffee?« Er sah sich in der Küche um, schnupperte an der Kanne, nahm eine Tasse aus dem Schrank, goss sich ein und setzte sich zu den Männern an den Tisch. Sein Blick wanderte durch den Raum, ein selbstvergessenes Tasten und blieb an einem zierlichen weißen Sportschuh hängen, der unter dem Vorratsschrank steckte.
»Guten Morgen«, erwiderte Stefan und stellte sich vor. »Dann sind sie also der Freund, der sich in den Wäldern zurechtfindet?«
»Na ja«, erwiderte Reinhard, und warf Heimo einen langen Blick zu. »Ich komme einigermaßen zurecht.«
»Ihr Freund hat mir gesagt, dass hauptsächlich sie beide die Hütte nutzen.«
Reinhard nickte abwartend und schaute wieder zu Heimo.
Er bemühte sich, nicht auf den Schuh zu starren und so womöglich den Kerl darauf hinzuweisen.
»Der Ranger geht einem Gerücht nach«, erklärte Heimo und widmete sich wieder seinem Kaffee. »Offenbar wurden in letzter Zeit ein paar tote Frauen gefunden.«
»Drei, um genau zu sein«, unterbrach ihn Stefan und beobachtete die Reaktion der Männer am Tisch, um zu sehen, ob seine Worte Wirkung zeigten. »Zwei der Frauen haben wir aus dem Fluss gezogen, eine wurde von einem Truck angefahren. Sie war fast noch ein Kind.«
Heimo und Reinhards Gesicht zeigten keinerlei Ausdruck. Arno Daniels klappte der Mund auf. Schweigen senkte sich über den Tisch.
»Ich muss leider sagen, dass wir des Öfteren Tote haben. Touristen oder Jäger, auch junge Frauen. Aber bei diesen drei Frauen handelt es sich um Personen, die sich eigentlich nicht in unseren Wäldern erholen wollten. Die aus verschiedenen Teilen des Landes als vermisst gemeldet waren. Das heißt, sie sind entführt und hierher verschleppt worden.«
»Verstehe«, sagte Reinhard und zwang seinen Blick in Richtung Fenster, weg von dem Schuh und dem Ranger, der ihn unverwandt anstarrte. Er fragte sich, ob sie ihn zu dritt überwältigen könnten oder ob er ihnen gefährlich werden würde. Der Schuh unter dem Kasten wurde für ihn immer mehr zum stummen Hilferuf.
»Sie denken, dass Leute wie wir, die sich in den Bergen aufhalten, damit zu tun haben?«
»Nein«, erwiderte Stefan ruhig. »Ich denke, dass ein Ungeheuer in den Wäldern sein Unwesen treibt, der diese jungen Frauen verschleppt, vergewaltigt, tötet und in den Bergen entsorgt.«
Es wurde absolut still am Tisch. Niemand gab eine Erwiderung von sich, weniger aus Scham oder Verlegenheit, als vielmehr in dem kollektiven Bewusstsein, dass der Ranger ihnen so nah gekommen war, wie sie es nie für möglich gehalten hätten, obwohl das nur eine Frage der Zeit war. Dann, nach einem sehr langen Moment räusperte sich Reinhard und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.
»Es sind eine Menge Leute im Wald unterwegs«, sagte er mit betretener Stimme, weil er die pochende Stille als unangenehm und gefährlich empfand. Er schaute zu Arno, der offensichtlich den Schuh entdeckt hatte und jetzt nervös um sich blickte. Draußen im Flur schlug eine Tür zu und alle Köpfe wandten sich dem Geräusch zu.
Mach bloß keinen Scheiß, dachte Reinhard.
»Mhm, und immer mehr Aussteiger, die sich Prepper nennen, in kleinen Camps versteckt. Sie verlegen ihre Camps ständig, wir wissen nie genau wo und wie viele es sind.« Stefan Kovacic streckte die Hand nach seiner Kaffeetasse aus und leerte sie in einem Zug.
»Meine Frage wäre, ob ihnen eines dieser Camps bekannt ist oder ob sie Leute kennen, die in Höhlen oder in einem dürftigen Unterschlupf hausen. Meist Gruppen von vier bis zehn Leuten. Vielleicht haben sie auch schon etwas Verdächtiges in dieser Richtung bemerkt?«
Die Männer am Tisch ließen ihre Blicke im Raum herumwandern, schauten zum Fenster hinaus, schüttelten den Kopf, aber vermieden sonst jeden Blickkontakt.
»Nein, wir sind erst seit zwei Tagen hier«, sagte Reinhard, und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Bis auf ein paar Wanderer weiter nördlich haben wir noch niemand gesehen.« Er lehnte sich zurück, streckte den rechten Arm aus und legte ihn in einer jovialen Geste auf die Lehne des leeren Sessels neben ihm.
Der Ranger erhob sich von seinem Stuhl, schob unentschlossen die Kaffeetasse hin und her und wandte sich um.
»Tut mir leid, dass ich hier einfach so aufgetaucht bin. Ich möchte sie bitten vorsichtig zu sein und uns verdächtige Vorfälle zu melden. Unternehmen sie auf keinen Fall etwas auf eigene Faust. Wer immer hier sein Unwesen treibt, ist gefährlich.«
Reinhard sprang auf, um den Blick des Rangers abzulenken. »Ich denke, wir können ganz gut auf uns aufpassen.«
Eine tiefe Falte tauchte auf Stefan Kovacics Stirn auf. »Es gibt ständig Leute, auf die man aufpassen muss, zumindest solche, die noch nicht begriffen haben, dass in unseren Wäldern Wölfe leben“, meinte er. Reinhard starrte ihn an, seine Augen wässrig, höhnisch, voller Gedanken oder Erinnerungen, die niemand erraten wollte, die Haut in den Augenwinkeln zerklüftet, wie die Berghänge an den Ufern der Tara.
Er folgte dem Ranger hinaus.
Stefan blieb einen Moment an der Tür stehen und drehte sich um, als ob er noch etwas sagen wollte, schwieg aber lauschend. Schließlich wandte er sich um, nickte Reinhard zu, und ging hinaus in den Sonnenschein, in den Wind, der in den Blättern der Eichen raschelte und den Lärm der Vögel und Insekten, die ihn wie einen Freund begrüßten.
Er nahm seinen Rucksack auf und stieg die Stufen der Veranda hinunter. Der Wind in den Bäumen ließ Schatten über sein Gesicht gleiten, die wie dunkle Geister vor seinen Füßen tanzten. Er fühlte sich ausgegrenzt, abgelehnt und sein Gesicht brannte, aber er konnte nicht sagen warum.
»Was meinst du, kommt er wieder, womöglich mit Verstärkung?«, fragte Arno leise, als sich Reinhard auf den Stuhl fallen ließ.
»Nein«, antwortete Heimo stattdessen. »Das ist bloß irgendein Scheißkerl von Parkwächter, die hier herumlaufen und auf die bescheuerten Touristen aufpassen.« Man konnte ihm die angestaute Sorge ansehen, die sein Gesicht verzerrten. So nah war ihnen noch nie ein Gesetzeshüter gekommen.
»Es sind zwei, soviel ich weiß, die das ganze Gebiet betreuen. Zwei, und einer kommt ausgerechnet zu uns.«
»Scheiße aber auch«, brummte Arno und holte den Schuh unter dem Schrank hervor.
* * *
Gerade als das letzte Blau des Himmels sich in das diffuse Grau der anbrechenden Nacht verwandelte, kam Kathalina Börnstein aus dem Hotel am Rande der Stadt, in dem sie sich mit ihrem Liebhaber getroffen hatte und ging zu ihrem Wagen. Der Schotter knirschte laut unter ihren Füßen, um den Mund trug sie ein leichtes Lächeln. Ihre Gedanken waren noch ganz bei der letzten Stunde.
»Ich vermisse dich schon jetzt«, hatte er zum Abschied gesagt und gelächelt. Nur diese Worte, aber die Worte, auf die sie gewartet hatte, weil es auch die Worte waren, die sie ihm in Gedanken ins Ohr geflüstert, in den Mund gelegt hatte. Sie hatte kein schlechtes Gewissen wegen ihres Seitensprungs. Heimo und sie hatten sich lange auseinandergelebt, waren nur noch wegen des Geldes und seinem Ruf als Familienmenschen zusammen. Ihr Liebhaber war auch verheiratet, aber sie wusste oder war sich allenfalls sicher, dass er sich scheiden lassen würde, sobald sie ihn dazu drängte.
Und die Kinder werden es begrüßen, dachte sie, und lächelte triumphierend. Sie hatte die beiden lange genug indoktriniert. Sie verabscheuten ihren Vater, auch der Junge. Er hasste ihn und seinen Job.
Ihre Nasenflügel bebten beim Atmen und bei den Gedanken an ihren Mann. Der Mund fest zusammengekniffen, hob sie den Kopf, als müsste sie ihren Gefühlen trotzen.
Der Wind wehte warm aus den Bäumen neben dem Parkplatz. Zwei Lichter tanzten auf der Zufahrtsstraße und ein Lieferwagen, aus dem es nach frisch gebackenem Brot duftete, kam aus dem hinteren Bereich des Hotels. Sie sah dem Wagen nach, bis er auf die Hauptstraße einbog und aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Kathalina öffnete die Fahrertür ihres kleinen Mercedes, setzte sich in den Wagen, schaltete in den ersten Gang, schaute in den Rückspiegel, fuhr los und rammte den Wagen vor ihr. Der Motor ruckte noch einmal und ging aus.
»Oh nein«, stöhnte sie erschrocken. »Das kann jetzt nicht wahr sein.«
Genervt setzte sie ein Stück zurück, stieg sie aus und betrachtete im Halbdunkel des Parkplatzes mit forschend abschätzendem Blick den Schaden. Die Stoßstange aus Kunststoff hatte einen Sprung, der über die ganze Länge lief und war bei dem anderen Wagen auf der rechten Seite nach innen gedrückt.
»Das hast du ja gut hinbekommen«, sagte sie und stieß den Atem aus. Die Luft kühlte allmählich ab. Sie sah sich um und überlegte, wie sie ihrem Mann den Unfallort erklären sollte. Bis auf eine Reihe von Wagen war der Platz leer. Keine Scheinwerfer von Autos, keine Menschen, die heranliefen, um nach dem Rechten zu sehen. Keine Zeugen.
Niemand, der ihr kleines Missgeschick gesehen hätte.
Das Licht vor dem Hotel wirkte kalt, mit einem blauen Schimmer, als wäre die Lampe mit Eis überzogen. Ihr Gesicht lag im Schatten. Sie hob die Hand, um die Augen abzuschirmen und schaute über den Parkplatz, von links nach rechts und wieder zurück. Langsam ging sie zu ihrem Wagen zurück, setzte sich hinter das Lenkrad und sah durch die Windschutzscheibe zu den Sternen hinauf. Eine eigenartige Gelassenheit durchflutete sie.
Dann fuhr sie vom Parkplatz weg, die Straße hinunter und bog in die nächste Seitengasse ab.
Zu Hause ging sie in das Arbeitszimmer ihres Mannes und suchte die Versicherungspolizze.
Heimo hat sie sicher im Büro, dachte sie. Aber dort wollte sie nicht nachfragen, sondern besser alles für ihn auf den Tisch legen.
»Ich habe den Schaden erst gestern bemerkt«, wollte sie ihm sagen, wenn er von seinem Egotrip zurückkam. »Keine Ahnung, wie lange ich schon damit herumfahre, also wird auch eine Anzeige sinnlos sein. Aber du kannst sicher irgendetwas machen.«
In dieser Beziehung war ihr Mann gut, er fand immer einen Ausweg für seine Freunde, wenn es darum ging, Recht zu biegen und die für ihn gerechte Ordnung wiederherzustellen.
Sie kramte in seinen Unterlagen, blätterte Ordner um Ordner durch und setzte sich schließlich frustriert an seinen Schreibtisch.
»Kann es sein, dass du den ganzen Scheißpapierkram im Büro hast?«, rief sie unbeherrscht in den Raum und spürte, wie sie die Kraft verließ. Fast unbewusst öffnete sie die Schubladen und knallte sie wieder zu, als ihr Blick auf den Papierkorb fiel. Ein langer Kassenzettel hing über den Rand, halb zerknüllt und achtlos entsorgt. Sie zog ihn heraus, musterte ihn kurz und wollte ihn schon zurückstopfen, als ihr die Adresse auffiel.
Das war doch diese Stadt in Montenegro, in der ihr Mann die Jagdhütte gekauft hatte, fiel ihr ein. Neugierig geworden las sie die einzelnen Positionen durch. Das waren Lebensmittelvorräte für mehr als drei Wochen. Ein paar alkoholischen Getränke. Drei Flaschen Schnaps, zwei Kisten Bier. Sie ließ die Hände mit dem Zettel in den Schoß sinken und schüttelte argwöhnisch den Kopf.
Undenkbar, dass er die Sachen nur für sich und seinen Freund Reinhard gekauft hatte.
Heimo hat eine Geliebte, dachte sie, und erschrak über die Erkenntnis, dass sie eine betrogene Ehefrau war. Und das seit Jahren. Jetzt konnte sie auch Ausflüchte und Vorwände zuordnen, die sie viel zu lange in den Bereich Überarbeitung und Stress abgetan hatte.
»Scheiße, die haben beide eine Geliebte in dieses Kaff mitgenommen.«
Kathalina Börnstein lächelte böse.
»Damit habe ich dich in der Hand«, sagte sie laut, um ihre Worte auch selbst zu hören. Weil sie ihnen damit Leben einhauchen konnte. »Komm du nur heim. Das wirst du bereuen!«
* * *
Ein gequältes Keuchen drang aus Vanessa Harrers Mund, als sie mit einem Rauschen in den Ohren aus den Tiefen des Schlafs an die Oberfläche kam. Sie klemmte ihre Hände zwischen die Oberschenkel, rollte sich noch enger zusammen und wehrte sich gegen das Aufwachen. Versuchte wieder einzutauchen in die dämmrige Bewusstlosigkeit, die sie einhüllte in watteweiche Entspannung, um sich davontreiben zu lassen und der Wirklichkeit zu entgehen.
Sie redete sich ein, dass es nur ein Traum war, ein schrecklicher Alptraum, aber doch nur eine Geschichte, die sich ihr Unterbewusstsein ausgedacht hatte. Ihr Gesicht wirkte blass und ausdruckslos. Sie fragte sich, wo sie war. Spürte, wie sich ihr Rücken versteifte, spürte den geballten Schmerz im Unterleib, den Armen, den Schultern, und dann war plötzlich alles vom Vortag wieder da. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und würgte. Ein Beben lief durch ihren Körper. Ihr Shirt war schweißnass und klebte auf der Haut. Sie sah an sich hinunter. Scham, Zorn und Ekel brannten in ihr, dann schluchzte sie auf, begann am ganzen Leib zu zittern und presste kleine Klagelaute hervor.
Da war dieser Kerl, der Politiker, dem sie vertraut und der sie entführt und missbraucht hatte. Er war gestern mit Essen und Flaschen mit Wasser gekommen. Sie hatten das Essen verschlungen, sich auf das Wasser gestürzt. Ausgehungert, halb verdurstet. Nicht auf die Drogen geachtet, die er ihnen verabreicht hatte, um sie zu willfährigen Geschöpfen zu machen.
Vanessa wollte schreien, sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt, verbat sich aber jede weitere Gefühlsregung. Sie hatte sich und ihre Freundinnen in diese Lage gebracht und wusste nicht, wie sie da wieder rauskommen sollten.
»Die lassen uns nicht laufen. Wir kennen einen von ihnen, die können uns gar nicht laufen lassen«, hörte sie die Stimme von Katja Teichmann auf der anderen Seite. Eine alte Stimme, von Kummer, Schmerz und tiefer Hoffnungslosigkeit geprägt.
»Was haben sie vor mit uns?«
Vanessa spürte Übelkeit hochkriechen. Die Luft war schwer und stank nach den Ausdünstungen der Mädchen, nach Schweiß und Urin. Der Raum, in dem sie sich befanden, lag im dämmrigen Halbdunkel einer nackten Glühbirne, die über dem Ausgang hing. Die Gitterstäbe gegenüber mehr zu erahnen, als zu sehen. Dahinter das bleiche Oval eines Gesichts. Jedes Geräusch weckte Angst, aber auch Hoffnung, gab ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein.
»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte sie in die dunklen Schatten.
»Eine Woche oder zwei, keine Ahnung, ich habe mein Zeitgefühl verloren. Mir kommt es ewig vor, aber es kann noch kein Monat sein«, erwiderte eine Stimme. Tonlos. Gesichtslos.
»Sie werden uns doch nicht an ein Bordell verkaufen?«
»Du siehst zu viele falsche Filme.«
»So was passiert immer nur den anderen, nie dir selbst.«
»Ich habe Angst, ich habe so schreckliche Angst!« Geflüsterte Worte, die eine ganze Weile in der Luft hingen, weil niemand widersprechen mochte und jede für sich dasselbe empfand. Endlich das bettelnde Weinen von Katja. »Ich will wieder nach Hause.« Sie schniefte und wischte sich mit den Händen durch das Gesicht. »Ich wollte nicht auf diesen dämlichen Ausflug.«
Vanessa zuckte zusammen. »Es tut mir leid, es tut mir so schrecklich leid. Das ist meine Schuld«, stammelte sie in das folgende Schweigen.
»Ist es nicht. Es ist ihre Schuld, es ist die Schuld dieser verdammten Wichser. Scheißkerle!«, fauchte die junge Frau auf der anderen Seite mit leichtem Beben in der Stimme.
Vanessa kroch auf allen vieren nach vor, zog sich an den Gitterstäben hoch und presste das Gesicht an das kalte Eisen. Sie erschauerte. Schräg gegenüber kauerte neben Katja ein mageres Mädchen, das teilnahmslos vor sich hinstarrte, selbstvergessen und in sich gekehrt. Geistesabwesend schloss sie die Augen, öffnete sie wieder und schaute weiter ins Leere.
»Mein Vater wird mich suchen«, sagte sie plötzlich, und Vanessa erschrak. Sie wischte sich eine Strähne aus den Augen.
»Weiß er, wo du bist?«
»Nein, wir haben uns gestritten und ich bin abgehauen. Er hat mir das Handy abgenommen, er ist ein Arschloch, aber er wird mich suchen. Das wird er. Das weiß ich bestimmt, weil ich seine Tochter bin.«
»Wie soll er dich denn finden, wenn er nicht weiß, wohin du bist.«
»Er wird sich denken, dass ich zu meiner Tante wollte. Ich bin schon mal abgehauen und zu ihr gefahren. Wo sollte ich denn sonst hin.«
»Wo lebt deine Tante?«
»In Mocra Gora, das ist in Montenegro.«
»Wir sind in Montenegro, nehme ich an. Der Scheißkerl hat uns in der Stadt mitgenommen, aber wir sind so weit Richtung Westen gefahren, dass wir vermutlich außer Landes sind.«
»Wir sind in einem riesigen Waldgebiet, wir sind ewig durch den Wald gefahren, hier findet uns niemand«, murmelte Katja stockend, als hätte sie alle Hoffnung aufgegeben.
»Er hat irgendetwas von einer Stadt gesagt«, warf Nicoletta ein.
»Das war sicher nur geredet, um uns in Sicherheit zu wiegen.«
»Mocra Gora ist in einem Wald. Mein Vater wird uns finden. Er wird keine Ruhe geben, bis er die Typen hat.«
»Wir müssen gegen sie kämpfen.« Verena Brooks ballte die Fäuste und schlug gegen die Stäbe, bis ihre Haut an den Knöcheln platzte und das Blut an den Fingern hinunterlief. Ihr Gesicht von Zorn und Verzweiflung gleichermaßen verzerrt.
»Sie werden uns töten.«
»Ich werde mich wehren. Ich mache es ihnen nicht leicht.«
»Ärgere sie bloß nicht noch mehr, sie werden uns wehtun«, jammerte Katja.
»Sie tun uns ohnehin weh. Diese Scheißkerle. Diese verdammten Scheißkerle! Sie müssen büßen. Sie müssen irgendwann für das, was sie uns antun büßen.«
»Mein Papa holt uns hier heraus.«
»Er wird uns finden,« versuchte Vanessa das Mädchen zu beruhigen. Sie fragte sich, wie lange die Kleine schon hier drin war und was sie bereits über sich ergehen lassen musste, verdrängte aber die Gedanken sofort wieder, weil sie zu schrecklich waren.
»Niemand wird uns finden. Wir sind irgendwo im finsteren Wald in einem Keller eingesperrt. Schlimmer kann es nicht kommen«, meinte Nicoletta und starrte mit ungerührter Miene in das Dunkel vor ihr.
»Es kann immer schlimmer sein«, hauchte Katja und dachte an diesen Film, den sie letztes Jahr gesehen hatte, in dem Mädchen entführt und in Bordelle verkauft wurden, wo sie von unzähligen Männern vergewaltigt wurden, bis sie am Ende menschliche Wracks waren. Vor Nichts graute ihr so sehr, als dieser Vorstellung. Sie würde lieber sterben, als dies durchzumachen.
»Hier war vor uns auch jemand eingesperrt«, flüsterte Susanna, in einem Tonfall, der Vanessa das Herz gefrieren ließ.
»Sie werden uns töten«, antwortete Katja, und wiederholte die Aussage, wie ein Mantra ein ums andere Mal, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
»Ich will nicht sterben.«
»Bitte lieber Gott, hilf uns. Das kann doch alles nicht wahr sein.«
Dann herrschte plötzlich Schweigen. Als ob sich ein unsichtbarer Mantel aus Stille über die Frauen gelegt hätte. Die einzigen Laute waren das Knacken des Holzes über ihnen, als die Hitze des Tages, die Bohlen des Hauses trocknete.
Vanessa fragte sich, ob sie Susannas Vater tatsächlich finden und hier herausholen könnte. Ihr fiel sonst niemand ein, der sie suchen sollte. Nicht vor Ende der nächsten Woche.
Sie dachte an ihr Leben vor diesem Trip, das nur ein Blinzeln von ihrer jetzigen Lage entfernt war und doch nie wieder so sein würde wie früher, nie wieder.
* * *
An diesem Abend schlug das Wetter in Österreich um, es wurde ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. Der Himmel war dunkel und regenverhangen, der Wind blies heftig, Staubwolken trieben die Straße entlang. Am Horizont zuckten Blitze hinter schwarzen Wolken und malten orangerote Ränder, als ob die Hölle dahinter im Minutentakt blinzeln würde.
Karl Michaelis saß auf der Bank vor seinem Haus, schaute in den Garten, auf die vom Wind gepeitschten Sträucher. Ein Blatt Papier tanzte über die Wiese, wurde hochgeweht und flog über den Zaun auf die Straße. Die Luft roch nach Ozon und dem Rauch eines Feuers, irgendjemand verbrannte am Nachbargrundstück altes Laub und Abfall. Aber er hörte keinen Ton. Fast als ob Erde und Himmel die Sprache verloren hätten. Er tastete nach der Schachtel Zigaretten in seiner Brusttasche und zündete sie in der hohlen Hand an.
»Verdammte Qualmerei«, knurrte er, starrte für einen Moment auf seine gekrümmte Faust und die Glut der Zigarette, die bei jedem Windstoß aufleuchtete und verfluchte die Sucht, die er nicht in den Griff bekam. So wie er sein Leben derzeit nicht in den Griff bekam. Da war keine Perspektive. Nichts, auf das er sich freuen konnte, nichts auf das er stolz sein könnte. Nur ein beschissener Tag mehr in einem beschissenen Leben.
Seine Gedanken gingen, wie so oft in letzter Zeit zu seiner Frau, der er auch nichts bieten hatte können, die deswegen mit einem anderen Mann davongelaufen und bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Mit zusammengepressten Lippen stieß er den Rauch durch die Nase aus, hielt sein Gesicht in den Wind, der an den Haaren zerrte und steigerte sich immer mehr in seine schlechte Laune hinein.
Susanna war sein nächstes Problem. Sie wollte die Schule verlassen und sich eine Lehrstelle suchen. Eigentlich schade. Sie verschenkte ihr Potenzial und er konnte nichts dagegen machen, sie nicht überreden, nicht motivieren. Es war bedrückend. Man wünschte sich als Elternteil immer das Beste für seine Kinder, aber die spielten dann oft nicht mit.
Vom Westen zog der Regen in dichten Schleiern über die Felder und die von Weichselbäumen gesäumte Straße, die in das Dorf hereinführte und fegte durch das Licht, das aus den Fenstern hinter ihm fiel.
Karl schnippte den Rest seiner Zigarette in hohem Bogen ins Gras, ärgerte sich über seinen blöden Frust und holte sie zurück, um sie im Aschenbecher zu entsorgen.
Er war wütend auf sich, seine Situation, und weil er nicht die Kraft fand, irgendetwas in seinem Leben zu ändern. In einer hilflosen Geste ließ er die Hände zwischen die Knie fallen und den Kopf hängen. Regentropfen glitzerten in seinen Haaren und liefen ihm über den Nacken.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte er, stand auf und ging ins Haus, um Abendessen für sich und Susanna zu kochen, die er den Nachmittag, seit er zu Hause war, weder gesehen noch gehört hatte.
»Sue! Sue. Komm Abendessen, genug geschmollt.«
Eine halbe Stunde später klopfte Karl an die Zimmertür und nahm sich vor, nicht zu schimpfen. Er wünschte sich einen friedlichen Abend, wollte die Lage für sie beide überdenken, vielleicht besprechen und einen Weg finden, wenn sie nur mit ihm reden würde.
»Falls du mit deinen Hausaufgaben noch nicht fertig bist, kannst du sie auch später fertigmachen.« Er klopfte noch einmal, halbherzig, und lauschte auf die Stille im Haus. Der Regen prasselte auf das Dach, pochte an die Fenster und tanzte im seltsam orangen Licht der Straßenlaternen auf dem schwarzen Asphalt. Im Zimmer von Susanna war alles ruhig. Er klopfte noch einmal, lauter diesmal, aber sie antwortete nicht. Genervt von ihrem Verhalten wollte er die Tür aufstoßen, doch sie war versperrt. Er pochte mit der Faust dagegen, um sich Gehör zu verschaffen.
»Susanna! Verdammte Kopfhörer! Mach die Tür auf. Abendessen ist längst fertig.« Er rüttelte am Türknauf. »Was machst du da drin?« Das Blut pulsierte in seinem Hals und Karl merkte, wie sich die Aggressivität in ihm ausbreitete, Macht über sein Tun bekam, und seine guten Vorsätze kaputtmachte.
»Susanna!«, rief er mit einem Grollen, das tief aus seiner Brust kam. »Mach die Tür auf, verdammt!«
Das untere Lid seines rechten Auges war gerötet und bebte vor unterdrücktem Zorn. Er schnappte nach Luft und atmete tief aus und ein.
Ich werde ruhig bleiben, dachte er. Ich muss ruhig bleiben. Wir müssen irgendwann reden. Das geht so nicht weiter, reden können wir nur, wenn ich meine Gefühle unter Kontrolle habe.
Er ging in die Küche und holte sein Handy. Wenn sie ihn wegen der Kopfhörer nicht hörte, so würde sie zumindest seinen Anruf annehmen. Immer noch wütend hämmerte er auf das Ziffernblatt seines Handys ein, als ihm einfiel, dass er ihr das Ding gestern Abend abgenommen hatte.
»Scheiße!« Fluchend öffnete er den Schrank, durchsuchte nach und nach alle Verstecke, die er benutzte.
Leer. Nichts.
Kein Handy.
»Hast du es also wieder einmal gefunden.« Mit einem Mal fühlte er, wie der ganze Zorn der letzten Tage sich in großes graues Nichts auflöste und mit dem Wind davonzog, der an den Fenstern rüttelte.
Er war ihr nicht mehr böse.
Karl lehnte sich an den Ofen, hinter ihm kühlten die Hühnerfilets aus, die er gebraten hatte, ihr Lieblingsgericht. Die gegrillten Tomaten rochen köstlich dazu. Er schnupperte hungrig. Sein Anruf wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet. Er seufzte müde und warf einen Blick auf die Straße vor dem Haus. Eine Frau ging eilig vorbei. Die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe klackten durch die Pfützen und ihr Regenmantel flatterte zwischen den Beinen wie ein gefangener Vogel.
Er schickte seiner Tochter eine WhatsApp-Nachricht ›Essen ist fertig. Komm bitte runter‹, stieg die Treppe wieder hoch, als sie nicht reagierte und pochte erneut an die Tür.
»Susanna! Mach die Tür auf. Bist du so stur oder bist du nicht da?«
Zögernd trat er einen Schritt zurück und kam sich ziemlich dumm dabei vor.
Natürlich, dachte er. Sie war bei ihrer Freundin. Was für ein Scheiß. Mit hängendem Kopf ging er nach unten, holte einen Schlüssel und sperrte auf. Das Zimmer war leer.
»Na gut. Wie du willst. Ich hoffe, du hast deine Hausaufgaben gemacht, bevor du abgehauen bist.«
Als Susanna gegen neun Uhr noch immer nicht zurück war und auch nicht auf seine Anrufe reagierte, wurde Karl Michaelis langsam unruhig. Er wartete bis zehn, um ihr etwas mehr Zeit zu geben und wählte dann die Nummer von ihrer Freundin Barbara. Nach dem fünften Summton wurde er auf die Mailbox umgeleitet. Er spürte den Druck im Schädel, der ihn immer überkam, wenn es Ärger gab, seinen ausgetrockneten Mund, ging zum Schreibtisch, suchte nach weiteren Telefonnummern und rief zwei Mädchen an. Von beiden erfuhr er, dass Susanna heute nicht zur Schule gekommen war. Mehr konnten sie ihm nicht sagen.
»Danke«, antwortete er beiden. »Du hast mir sehr geholfen.« Seine Knie fühlten sich weich an, in seinen Augen brannte der Schweiß. Er schloss die Faust um das Handy, bis es knackte.
Was soll der Blödsinn, Susanna, dachte er, und tippte die Nummer von Barbara in sein kleines altmodisches Klapphandy.
»Bitte geh ran.« Er gab einen undeutlichen Laut von sich.
»Ja hallo.«
»Barbara? Hier ist Karl Michaelis. Der Papa von Susanna. Sie war heute nicht in der Schule. Wenn du weißt wo sie ist, sag mir das bitte. Es ist halb elf Uhr. Ich mache mir große Sorgen. Warum auch immer sie die Schule geschwänzt hat, sie sollte längst zu Hause sein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf.« Für einen langen Moment war nur ihr Atmen in der Stille zu hören. »Sie hat mir gesagt, ich darf nichts verraten.«
Karl wischte sich mit der Hand durch das Gesicht. Sein Mund war trocken.
»Hol sie bitte ans Telefon!«
»Sie ist ... sie ist nicht da.«
»Gib mir bitte deine Mutter.«
»Die ist nicht zu Hause.«
»Okay, dann komme ich bei euch vorbei und warte vor der Tür auf deine Mutter.«
»Die schläft schon.«
Karl seufzte. Seine Ungeduld wuchs. Er wechselte das Telefon in die andere Hand, griff nach seinen Zigaretten, steckte sich eine in den Mund und inhalierte den Rauch. Gleichzeitig fragte er sich, ob er je mit dem Rauchen aufhören könnte. Er hatte es schon viele Male versucht, aber es dauerte nie länger als drei Tage, dann verwarf er jeden Grund und rauchte noch mehr als zuvor.
»Dann komme ich und wecke sie auf.«
»Susanna ist zu ihrer Tante nach Montenegro gefahren«, rief Barbara schnell, insgeheim froh, die Nachricht los zu sein, die sie den ganzen Tag bedrückt hatte.
»Scheiße, dann ist sie mit Sicherheit schon bei ihr«, entfuhr es ihm. Er bedankte sich bei dem Mädchen und drückte sie weg.
»Verdammt«, brummte er, beinahe schon wieder erleichtert, weil er seine Tochter in Sicherheit wähnte.
»Was denkt sie sich dabei?« Sie war früher mit ihrer Mutter nach Montenegro gefahren, aber noch nie allein, oder doch? Er grübelte nach und schüttelte den Kopf.
Nie allein.
Er blickte hinaus in den Regen und den Wind, der die Sträucher niederdrückte und überlegte seine weiteren Schritte. Er musste seine Schwägerin anrufen. Eine Geschichte, die ihm so gar nicht behagte. Am liebsten hätte er die Sache abgehakt und Susanna den kleinen Triumph überlassen. Nach ein paar Tagen könnte er dann nach Montenegro fahren und die Ausreißerin zurückholen.
Ohne große Worte einen Neuanfang starten.
Andererseits musste er sich vorerst nach ihr erkundigen, die Vorhaltungen seiner Schwägerin anhören und deren Vorwürfe über sich ergehen lassen. Er schloss die Augen und schluckte schwer. So wie es vielleicht ein Mann tun würde, der eines schönen Tages aufschaut und sein Haus in einer Erdspalte versinken sieht, ohne dass er etwas dagegen tun kann.
Da sich weder Susanne noch seine Schwägerin gegen Mitternacht gemeldet hatte, überwand er schließlich Stolz und Ärger. Vielleicht wollte sie ihn auch schwitzen lassen, aber seine Sorge überwog den Ärger. Er rieb sich den Mund. Seine Hand schabte über trockene Bartstoppeln, er biss sich auf die Zunge und tippte mit steifen Fingern die Nummer ein.
»Ich habe ein Problem. Susanna ist ausgerissen. Sie hat einer Freundin gesagt, sie will zu dir. Kannst du sie bitte ans Telefon holen oder ihr sagen, sie soll mich zurückrufen? Bei mir hebt sie nicht ab.«
»Hallo! Bist du das Karl? Was willst du von mir?«
Karl presste die Lippen fest zusammen. Seine Augen wurden schmal. Er wiederholte seine Bitte, stieß sie Wort für Wort hervor.
»Ich hab heute einen schlimmen Tag gehabt und bis spät gearbeitet«, antwortete Anna Markovic nach einer kleinen Pause. »Ich mach mich auf die Suche nach ihr. Sie kennt den Schlüsselcode und kann unbemerkt gekommen und überall im Haus sein. Es wird eine Weile dauern.«
Eine halbe Stunde später vibrierte Karls Telefon in seiner Hand. Er stand vor dem Fenster und schaute hinaus in die regenverhangene Dunkelheit. Beinahe hätte er Anna weggedrückt.
»Bei mir ist Susanna nicht, ich habe alles abgesucht.« Die Stimme klang verhalten, fast ein wenig unterwürfig, als hätte sie Angst er würde jeden Augenblick mit ihr zu schreien beginnen. »Vom Keller bis in die hinterste Ecke meines Hauses. Ich war im Garten und im Gartenhaus. Nichts. Sie hat am späten Nachmittag angerufen, mich aber nicht erreicht. Ich kann während meiner Dienstzeit nicht telefonieren und hab das Handy deshalb ausgeschalten.«
Anna verstummte. Das statische Rauschen des Ferngesprächs im kleinen Lautsprecher des Mobiltelefons knirschte wie nasser Sand in Karls Ohr. Sein Gesicht schien zu schrumpfen und verlor jegliche Farbe.
»Ich hab versucht sie in der Zwischenzeit zu erreichen, aber ihr Telefon ist abgeschaltet oder sie hat keinen Empfang. Wann sollte sie hier angekommen sein, hast du gesagt?«
»Sie ist heute nicht zur Schule gegangen. Ich weiß nicht, wann sie losgefahren ist«, krächzte Karl. »Scheiße, sie kann überall sein, auf irgendeinem Bahnhof herumhängen, eine Gaststätte aufgesucht haben. Sie kann sich ein Zimmer genommen haben. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Ich weiß nicht mehr weiter.«
»Beruhige dich erst mal. Sie ist groß und sieht erwachsen aus. Sie geht nicht als Kind durch. Sie ist bockig und muss sich abreagieren, was auch immer ihr miteinander hattet. Sie wird in irgendeiner Stadt abhängen, herumstreunen. Hat vielleicht den Bus versäumt. Es ist Sommer, sie wird nicht erfrieren, sie wird nicht verhungern. Sie wird spätestens morgen früh bei mir auftauchen.«
»Besser früher als später. Die Fahrt sollte lang genug sein, um wieder auf die Reihe zu kommen. Ich hoffe bloß, dass es ihr gut geht.«
»Ich melde mich, sobald ich von ihr höre«, sagte Anna Markovic und schob ein leises, beinahe unbedachtes, »Sie wird schon nicht an die Falschen geraten sein.« nach.
Karl schnaubte und starrte unverwandt zum Fenster hinaus. Das war so eine Redewendung mit der man Kindern drohte. Die im Raum schwebte, sobald ein Kind das schützende Heim verließ und von der man hoffte, dass sie niemals, unter keinen Umständen, einen selbst betraf.
Denn wenn dies jemals passieren sollte, dachte er, zieht es dir den Boden unter den Füßen weg und niemand konnte sagen, wie du darauf reagierst.
Am wenigsten du selbst.
Er fühlte sich wie ein Mann, der im strömenden Regen auf einer belebten Straße stand, mit seinen Armen wedelte und jedem den Weltuntergang prophezeite, der ihm nur lange genug zuhörte.
Am nächsten Morgen fuhr er ins Büro, ohne eine Minute Schlaf gefunden zu haben. Die Sonne war rot und heiß über den triefend feuchten Bäumen aufgegangen. Sein Gesicht in der Hitze verkniffen. Anna hatte ihn angerufen, bevor er aus dem Haus eilte.
»Nein, sie ist nicht gekommen, ich melde mich bei dir, sobald sie hier ist.« Sie wollte noch etwas sagen, aber er drückte sie weg und dachte, was es auch gewesen sein mochte, es blieb besser ungesagt.
Für Vorhaltungen war später noch Zeit.
Mittags meldete er sich ab und ging zur Polizei.
»Meine Tochter ist verschwunden. Sie wollte zu ihrer Tante nach Montenegro und ist dort nicht angekommen.«
»Hatten sie Streit?«
»Sie ist sechzehn, wir haben ständig Streit. Wegen der Schule, wegen des Handys, wegen Kleinigkeiten. Haben sie eine Tochter im Teenageralter? Dann wissen sie, wie das ist.«
Die Beamten nahmen seine und Anna Marcovics Daten auf und erklärten ihm, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um Susanna zu finden. Sie luden sich ihr Foto auf den Computer, eines, dass sie fröhlich lachend im Garten zeigte, und versuchten ihn zu beruhigen. Sie zeigten ihm all die Wege auf, die sie in Gang bringen würden und erzählten ihm von anderen Teenagern und ihren Eltern, als wäre so ein Trip eines minderjährigen Mädchens ins Ungewisse das Natürlichste der Welt. Zumindest hatte sie ein Ziel, das war mehr als die meisten jugendlichen Ausreißer je vorweisen konnten.
Nach drei Tagen, in denen Karl fast nichts geschlafen, seine Schwägerin zur Verzweiflung und sich selbst mental in die Enge getrieben hatte, war er fertig. Er stand in der Küche, schaute hinaus in den sonnendurchfluteten Garten, in dem sich die blühenden Blumen im Wind neigten. Unter den Sträuchern scharrten ein paar Amseln in der Erde, hüpften im schwarzen Federkleid mit leuchtend gelbem Schnabel zwischen Licht und Schatten umher, als plötzlich die Welt ihre Farbe verlor. Alles Bunte und Lebendige wurde grau, wie lange tot, verblichen und lief an einer staubigen Ecke zu einer blutigen Lache zusammen.
Karl konnte spüren, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Er glaubte einen Moment den Verstand zu verlieren.
Er sah felsige Schluchten und Täler, ein Haus aus Holz, Männer mit Gewehren und seine Tochter, die durch den Wald hetzte und über umgestürzte Bäume sprang. Sie stoppte an einem Abhang, unter ihr ein ruhig dahinfließender Fluss. Dann war der Spuk vorbei und der Garten strahlte wieder im hellen Sonnenlicht.
In diesem Augenblick war Karl sicher, dass Susanna an den Falschen geraten war.
Er dachte daran, dass der Gedanke an den Tod ihn nicht beunruhigte, zumindest, soweit es seinen eigenen betraf. Aber die Vorstellung seine Tochter zu verlieren, war mehr, als er ertragen konnte.
Der Mensch kennt keine schlimmere Erfahrung, als das eigene Kind zu verlieren, und ein Kind durch böse Menschen zu verlieren bereitet emotionalen Schmerz in einem Umfang, der seinesgleichen sucht.
Sie konnte natürlich überall sein, eine falsche Fährte gelegt haben. Bei Freunden untergekommen sein. Aber es lag auf der Hand, dass sie zu ihrer Tante gefahren war. Das war ein sicheres Ziel für sie und Susanna wusste, dass sie dort aufgefangen wurde, dass sie jederzeit zurückkommen konnte.
Er holte eine alte Karte heraus, wischte mit einem Handstreich alles vom Tisch und breitete sie aus. Skizzierte mit fahrigen Fingern die Route, die sie genommen haben könnte, Zug oder Bus, und markierte alle Stellen an denen sie entführt worden sein könnte. Umstiegsmöglichkeiten, längere Pausen, alles an das die Polizei vielleicht nicht dachte. Dann warf er ein paar Sachen in einen Koffer, Geld, Pass, Papiere und zog los. Die Polizei hatte ihm gesagt, er sollte nichts unternehmen, auf jeden Fall erreichbar sein.
Er schnaubte gekrängt.
Die Art von Belehrung konnten er gerade gar nicht gebrauchen. Erreichbar war er auch unterwegs, alles andere unmöglich.
Am Busbahnhof fragte er alle Fahrer, Frauen und Männer, verteilte Fotos und Beschreibung, aber niemand konnte ihm weiterhelfen. Also fuhr er weiter nach Klagenfurt, seine nächste Station, lief im Bahnhof umher, ohne Ziel, ohne Sinn. Er wusste, dass er sie hier nicht finden konnte, im Trubel und der Menge an Menschen, aber vielleicht konnte er eine Spur aufnehmen. Eine Wahrnehmung, einen Geruch, ein Gefühl. Irgendetwas, das ihm einen Anhaltspunkt gab.
Nach zwei Stunden sah er endlich ein, dass er hier nicht weiterkam und fuhr los Richtung Süden.
Am späten Nachmittag stieg er in Mocra Gora aus dem Wagen. Ihm schien, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so müde und verbraucht gewesen war. Seine Augen brannten, als hätte er Sand unter den Lidern. Sein Gesicht fühlte sich bleich und trocken wie Pergament an, er nahm seine Umgebung wie durch einen Nebel wahr.
Karl Michaelis wollte nicht zu seiner Schwägerin fahren, wollte nicht in ihrem Haus wohnen, ihren Anblick ertragen, den Vorwürfen ausgesetzt sein. Er wollte eigentlich nur noch schlafen, zur Ruhe kommen, frische Kräfte sammeln. Ihm war klar, dass er in seinem Zustand nicht mehr lange durchhalten konnte.
Antriebslos blickte auf die niedrigen Büsche am Rande der Straße, die sich im Schatten der Häuser im Wind beugten. Die Hitze ließ sie bleich und staubig aussehen. Seine Energie war verbraucht.
Angewidert von sich selbst verzog er die Miene und wandte sich nach links, der Polizeistation zu, die in einem flachen, erdbraunen Gebäude mit kleinen Fenstern untergebracht war.
Drei Männer saßen an ihren Schreibtischen und telefonierten, brüllten in die Hörer, die sie mit schweißnassen Händen umklammerten und gestikulierten wild oder hämmerten mit den Fäusten auf ihren Schreibtisch, wohl um ihre Worte zu unterstreichen.
Niemand beachtete ihn, als er die Tür aufstieß und den Raum betrat. In der Ecke ratterte und pfiff ein Faxgerät, ein viertes Telefon läutete an einem verwaisten Schreibtisch, ein hölzerner Ventilator verteilte stoisch den Rauch, der in dichten Schwaden unter der Decke hing. Irritiert blieb Karl stehen, sah von einem zum anderen und wartete.
»Wir haben sie! Wir haben sie! Hölle und Teufel, was für ein Scheißtag. Sie haben die Kids gefunden. Es geht ihnen gut.« Der Polizist, der Karl am nächsten saß, warf den Hörer aufs Telefon, schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte und ließ den Becher mit den Stiften, das Telefon selbst und einen vollen Aschenbecher tanzen.
»Sie haben die Kids gefunden. Sie haben Hunger und Durst, sind aber sonst wohlauf.« Er warf Karl einen auffordernden Blick zu. »Noch einmal gut gegangen. In diesen Wäldern darf man seine Kinder nicht allein lassen. Das hätte auch schlimm ausgehen können.«
Karl nickte still.
Der Mann verstummte. »Sie sind nicht wegen der Kids hier.« Er erhob sich und musterte Karl von oben bis unten.
»Nein. Nicht wegen der Kids. Ich bin wegen meiner Tochter hier.«
»Sie sind der Vater der jungen Frau, die mit ihrem Freund vermisst wird? Hören sie, wir haben zwei Ranger und eine ganze Handvoll Freiwilliger da draußen, die nach ihnen suchen. Die Kinder hatten oberste Priorität, das ist klar. Aber jetzt konzentrieren wir uns auf das Pärchen. Sie müssen uns einfach Zeit geben. Die Wälder sind riesig und da sind jede Menge Wanderer unterwegs. Es wird jedes Jahr schlimmer. Aber wir haben keine Raubtiere. Keine Wölfe, keine Bären. Wenn sie sich verirren, kommen sie früher oder später wieder auf einen Wanderweg und werden auch gefunden.« Der Polizist hob die Schultern und drehte beide Handflächen nach oben. In seinem Gesicht ein vertrauenerweckender Ausdruck.
»Milan«, rief sein Kollege hinter ihm und nahm die Hand vom Telefonhörer. Er lehnte sich zurück, schaute unter die Decke in den blauen Dunst und zündete sich eine neue Zigarette an. »Sie haben den Kanufahrer von heute Morgen gefunden. Er ist ertrunken. Sie bringen ihn ins Institut.«
»Ja okay«, nickte Milan, ohne Karl Michaelis aus den Augen zu lassen. »Ist ein beschissener Tag heute. Aber wir haben die Kids. Das ist doch auch schon was, oder nicht?«
* * *
»Das Mädchen war klug«, sinnierte Stefan Kovacic und lächelte verhalten. »Es war ihre Idee bergab zu gehen. So sind sie dann an den Fluss gekommen und haben dort gewartet, bis Kanufahrer vorbeigekommen sind. Wären sie weiter in den Wald gegangen, hätten wir sie womöglich erst nach Tagen gefunden. Oder auch nicht.«
»Hmmh. Haben großes Glück gehabt, die beiden«, nickte Zoran Novak und zog an seiner Zigarette. Er wirkte erschöpft. Schweiß lief ihm aus den borstigen Haaren in dunklen Bahnen den Nacken hinunter. Sie saßen in ihrem Büro beim offenen Fenster, Zoran eine Flasche Bier in der Hand und Stefan mit einem Glas Cola, in dem Eiswürfel klirrten.
»Jetzt müssen wir noch das Pärchen finden. Ich hoffe bloß, die sind einigermaßen vernünftig und laufen nicht im Kreis herum oder nach Norden, wo die Wälder undurchdringlich werden. Dort finden wir sie vielleicht nie wieder.«
»Zwei verlorene Kids, ein vermisstes Pärchen, ein ertrunkener Kanufahrer und ein angeschossener Jäger. Was für eine Woche?«
»Du hast den Kerl mit der weggelaufenen Tochter vergessen.«
»Nein, habe ich nicht! Die Tochter, die auf dem Weg hierher verschwunden ist. Die macht mir besondere Sorgen. Die könnte diesem Kerl in die Hände gefallen sein, hinter dem ich her bin.«
»Sie ist die Nichte von Anna.«
Stefan schwieg eine Weile. »Anna Markovic?«
»Ja! Und damit wird die Sache persönlich. Das Mädchen ist im Grunde eine von uns. Ein Mädchen aus dem Dorf.«
»Scheiße. Wir müssen sie finden. Milan hat ihren Vater bei Rosie untergebracht. Der ist ziemlich am Ende. Konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.«
»Was ist mit dem Pärchen? Denkst du, die haben sie auch?«
»Nein, bis jetzt waren es immer allein reisende Mädchen. Von Pärchen wissen wir nichts. Außerdem sind die beiden von hier aus mit ihrer Wanderung gestartet und wurden letzte Woche an den Wasserfällen gesehen. Das sind unbedarfte Touristen, nichts weiter.« Stefan hielt inne, rührte das Eis in seinem Glas mit dem Finger um. Im Büro war es so still, dass er die Uhr an der Wand ticken hören konnte. Vor dem Fenster sirrten die Zikaden in den Büschen. Ein Auto mit defektem Auspuff röhrte die Straße entlang und verlor sich zwischen den Häusern.
»Könnte sein, dass sie von dort aus, einen falschen Weg genommen oder die Orientierung verloren haben. Könnte auch sein, dass einer der beiden verletzt ist und sie deswegen nicht weiterkommen.« Stefan trank das halbe Glas leer, wischte mit dem Ärmel über den Mund und spuckte einen Eiswürfel in die Hand.
»Wir werden bei den Wasserfällen beginnen und dann auf die Hochebene raufgehen. Von dort kann man das Gebiet einigermaßen übersehen. Vielleicht machen sie auch ein Feuer oder geben uns irgendwelche Zeichen, damit wir sie finden.« Er beugte sich nach vorne auf die Oberschenkel und drückte den Eiswürfel in den Nacken, ließ ihn kreisen.
»Bei dem Mädchen bin ich mir sicher«, flüsterte er dabei. »Sie war auf dem Weg zu ihrer Tante und ist in einen Wagen gestiegen. Vermutlich hat sie den Bus versäumt oder es war jemand, den sie kannte, der sie mitgenommen hat. Es ist auch nicht auszuschließen, dass eine Frau dazugehört. Einer Frau vertrauen andere Frauen.«
»Das heißt, wenn sie nicht wahnsinniges Glück hat und ihnen entkommt, finden wir sie entweder im Fluss oder irgendwann unter einem Baum verscharrt«, murmelte Zoran grimmig. Sein Blick wanderte zum Fenster, in eine mondbeschienene Sommernacht, in der Grillfeuer in den Nachbargärten flackerten und das fröhliche Lachen glücklicher Menschen zu ihnen herüberdrang.
* * *
Reinhard Frost betrachtete den Boden vor ihm, wo sich die gespaltenen Hufspuren klar und deutlich in der weichen Erde abzeichneten. Es waren die Spuren von zwei Rehen, einer Geiß mit ihrem Jungen, sie begannen am Flussufer, an dem die Tiere offenbar getrunken hatten und verschwanden dann im dichten Schutz der Weiden.
Sein Blick ging nach Westen, wo die Sonne hoch über dem Bergkamm hing, der den fernen Horizont bildete. Jeremy schätzte, dass sie in rund drei Stunden untergehen würde. In Reinhards Miene lag ein nachdenklicher Ausdruck, als Zeichen von Ungeduld oder verborgenen Gedanken.
Sie hatten beschlossen, den heutigen Tag mit der Jagd zu verbringen. Nur für den Fall, dass sich der Ranger weiter hier herumtrieb und sie beobachtete. Dann sollte er sehen, dass sie ganz normale Jäger waren. Nichts sonst, nur einfache Jäger, die ihren Spaß haben wollten. Reinhard hob die Hand, zum Zeichen für Jeremy, dass er Wild entdeckt hatte.
Sie waren ein trockenes Bachbett entlanggegangen, das voller Laub lag und der Weg von umgestürzten Bäumen und Strauchwerk verstellt war. Es war ermüdend, immer wieder Baumstämme zu überwinden, über moosbewachsene Felsen zu klettern, sich durch die Sträucher einen Weg zu bahnen. Jeremys Beine wollten nicht mehr. Das Gewehr wurde mit jedem Schritt schwerer und unhandlicher, die Hitze machte ihm zu schaffen. Das verschwitzte Hemd scheuerte auf seiner Haut, seine Augen brannten vom Salz und die Brust stach beim Atmen, als wäre sie mit Glasscherben gefüllt. Die Luft war dick wie Sirup. Er fragte sich, wie lange er noch durchhalten würde und was verdammt noch mal ihn dazu verleitet hatte, mitten im Sommer auf einen Jagdausflug zu gehen? Er hatte sich das alles anders vorgestellt. Dann arbeiteten sie sich an einem steilen Hang empor und kamen für ihn völlig unerwartet an einen schmalen Fluss, nicht viel mehr als ein breites Rinnsal. Am liebsten hätte er sich der Länge nach ins Wasser gelegt.
Plötzlich erstarrte Reinhard, Jeremy duckte sich.
Oben auf den Felsen hoch über der Schlucht ging ein kühler Wind. Im Westen stand die Sonne tief am Himmel und die Luft roch nach Laubwald, dürren Gräsern und dem kalten Wasser, das tief unten am Fuß der Felswände im halb ausgetrockneten Flussbett über die Steine schäumte. Kyle Barber kletterte um eine Gruppe Felsen und suchte nach einem bequemeren Weg. Er wollte die Tara in einem schwierigen Abschnitt umgehen, war dabei immer weiter vom Pfad abgekommen, und fand sich nun an einem spärlichen Zufluss, der ihn wieder zurückführen würde. Seine Augen wanderten die Felsen entlang, als er die Rehgeiß mit ihrem Jungen am Ufer entdeckte. Vorsichtig tastete er sich am Rand des Abgrunds entlang, kauerte sich auf den Boden, sodass sich die Spitzen des steinigen Untergrunds in seine Knie und Handballen bohrten und verharrte in der Bewegung.
Lautlos hob Reinhard das Gewehr und Jeremy sah die Rehgeiß mit ihrem Kitz. Sie standen in den Weiden und blickten einen Moment direkt in ihre Richtung, reglos mit erhobenem Kopf, witterten nach links und rechts.
Anmutig und schön, mit gertenschlanken Beinen. Die Mutter war noch klein, jung und unerfahren. Sie hatte den Wind von vorne, irgendetwas irritierte sie. Aufmerksam sah sie in die entgegengesetzte Richtung, bereit unverzüglich zu fliehen.
Reinhard blickte sich um und grinste zufrieden. Sie gehörte ihnen. Selbst wenn sie fliehen würde, blieb ihr keine andere Möglichkeit, als bei ihnen vorbeizukommen. Er sah sich nach seinen Freunden um. Jeremy stand keinen Steinwurf hinter ihm. Heimo und Arno waren weiter westlich, zu hoch, um sie zu sehen, zu weit weg, um für das Reh als Gefahr zu gelten. Er gab Jeremy ein Zeichen und hob das Gewehr, bereit zu schießen, wollte ihm aber offensichtlich den Vortritt lassen.
In diesem Augenblick erkannte Jeremy, wie sehr der Politiker, Reinhard Frost das Gefühl der Macht und der Überlegenheit genoss. Zögernd schüttelte er den Kopf und schaute zu, wie sich Reinhards Mundwinkel abfällig verzogen. Er wollte die Geiß nicht erschießen. Nicht, solange sie ein Kitz führte. Das war nicht recht.
Reinhard zielte sorgfältig, gab ihr eine vermeintlich letzte Chance zu fliehen und drückte ab.
Der Schuss war ohrenbetäubend. Unwillkürlich duckte Kyle sich tiefer.
Das Reh riss den Kopf in die Höhe, ihr Fell zuckte in einem nervösen Aufflackern, dann schienen die Hinterbeine nachzugeben. Sie schwankte und versuchte von der Stelle zu kommen, sank auf die Knie und brach endlich nieder, die Augen anklagend auf Jeremy gerichtet. Das Kitz lief ein paar Sprünge davon und verharrte, mit einem Blick auf die Mutter, sprang zurück, stupste sie an und verschwand dann in den Weiden.
Reinhard senkte das Gewehr und lächelte. In seinen Augen lag der seltsam leuchtende Ausdruck grimmiger Zufriedenheit. Jeremys Gesicht wirkte im Schatten blass und ausdruckslos. Er wischte sich ein paar Gelsen vom Hals und dachte für sich, dass der Tod in der Natur stets gegenwärtig war. Hoch über ihm hörte er die Blätter im leisen Wind rascheln und schaute nach oben. Ein Schwarm Krähen flog von den Bäumen auf und formierte sich am Himmel, drehte ab und flog weiter nach Norden.
Dann war der Wald wieder ruhig.
Jeremy ging zu der Rehgeiß.
»Glück gehabt«, murmelte Reinhard und schaute auf das kleine Loch im Fell des Tieres. »Ich bin mit dem Fuß weggerutscht und dachte schon, ich hätte sie verfehlt. Aber sie hat zum Sprung angesetzt und die kleine Abweichung, die ihr das Leben hätte retten können, ins Gegenteil verkehrt.«
»Warum hast du das Kitz nicht geschossen. Es wird ohne die Geiß nicht überleben.«
»Den Schuss wollte ich dir überlassen.«
»Du bist vor mir gestanden, wie hätte ich schießen können?« Er starrte Reinhard verwirrt an. Sein Nacken glänzte vor Schweiß.
Hinter ihnen war das knarzende Geräusch von schweren Tritten über Geröll zu hören. Jeremy trat einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf und blieb stillstehen. Ein Zucken huschte über sein Gesicht, während sein Blick die Anhöhe nach den Freunden absuchte und an den Umrissen der Männer hängen blieb, die sich vor der schräg stehenden Sonne abhoben.
Sie tauchten zwischen den Bäumen auf, hatten aber Kyle nicht bemerkt, ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Tier gerichtet. Er senkte den Blick und wandte sich ab. An seinen Schläfen pochten kleine grüne Adern. Er versuchte sich keine Gemütsregung anmerken zu lassen, aber seine Miene war wie versteinert, als er in die dunklen Schatten der Bäume zurückwich.
Heimo und Arno kamen den Hang herunter. Unter ihren Sohlen knackte der trockene Boden.
»Wir haben eben beschlossen, zum Fluss zu gehen, ihm eine Stunde weiter hinauf zu folgen und dann umzukehren, als wir euren Schuss gehört haben.«
»Ein schönes Stück. Sollen wir euch helfen oder schafft ihr das allein?«, grinste Arno und schaute auf die Rehgeiß, die in einer grotesken Verrenkung vor ihnen lag. Jeglicher Anmut beraubt.
»Ich mach das schon!«, knurrte Reinhard. »Ich schneide nur die besten Stücke heraus und lasse den Rest für die Kojoten liegen. Es ist von hier aus nicht mehr weit zur Hütte. Wir sind einen großen Kreis gegangen. Das ist keine halbe Stunde zu gehen.«
»Ich helfe dir«, bot sich Jeremy an.
»Danke nein. Du kannst gerne mit den anderen den Fluss hochziehen, vielleicht habt ihr noch Glück und kommt zu einem Abschuss.«
Erleichtert lief Jeremy hinter den anderen her und Reinhard beugte sich über das tote Tier und brachte sein blutiges Werk zu Ende.
Sie fühlten sich offensichtlich allein in dem großen Waldgebiet oder es war ihnen völlig egal, ob sie beobachtet wurden, dachte Kyle. Aber er wollte nicht entdeckt werden, ohne selbst zu wissen, warum. Es gab keine Reviergrenzen, jeder durfte jagen, wo immer er wollte, hatte ihm der Mann in dem Laden versichert. Er senkte den Kopf, sodass der Rand seines Hutes das Gesicht verbarg und schob sich hinter einer mächtigen Kiefer hoch.
Der Jäger, der seine Hände tief in das Reh gesteckt hatte, streckte sich, hob den Kopf, die Augen nach innen gerichtet. Kyle trat zur Seite, um eins zu werden mit dem Baum und unsichtbar. Die Männer sprachen davon, dem Fluss zu folgen, also entschied er sich, für eine Weile in den Wald zu gehen. Er würde weiter oben ein Lager im Unterholz suchen und morgen wieder zum Fluss stoßen.
Hinter ihm dehnte sich kilometerweit der Wald, endlos, menschenleer, hier und da durchbrochen von trägen dahinfließenden Bächen, die meisten fast oder vollständig ausgetrocknet. Ein Bussard mit vom Wind zerzausten Gefieder, der Schnabel blutbefleckt, die Augen rund, wie dunkle Punkte auf goldenem Flitter, ließ sich vor ihm auf einem grün bemoosten Ast nieder. Er breitete die Flügel aus und krächzte zornig. Ruckte mit dem Kopf und öffnete und schloss die Klauen.
Ich bin der Eindringling, dachte Kyle, schaute zur Seite, schlug einen Bogen und wich ihm aus, um ihn nicht zu stören.
Nach einer Stunde Fußmarsch, in der er keinen geeigneten Platz zum Übernachten gefunden hatte, traf er auf einen unbefestigten Fahrweg. Neugierig folgte er ihm und fragte sich, ob dies ein wenig benutzter Weg von Holzfällern war. Dann würde er früher oder später auch auf eine Lichtung treffen. Der Wald roch nach Kiefernharz, Mäusen, die unter dem Laub das Weite suchten und Kupfer, das sich in der Hitze wellte. Eine weitere halbe Stunde später mündete der Weg in eine Lichtung, dahinter ein geräumiges Blockhaus, in einer Größe, die er hier nicht erwartet hätte. Vier dunkle Wagen standen in einer Reihe unter den Bäumen im Schatten, wie geheimnisvolle Wächter einer entfernten Zivilisation.
Die Jäger, dachte er, und trat ins fahle Licht der Abenddämmerung. Er ging über das verdorrte Gras und achtete auf eine Bewegung hinter den Fenstern.
»Hallo, ist jemand zu Hause!«
Kyle richtete den Blick auf das Haus und die vom Wind zerzausten Bäume vor dem zinnoberroten Himmel. Ein seltsames Wehklagen lag in der Luft. Er stoppte einen Moment, ging dann in einigem Abstand am Haus vorbei und schaute sich um. Neben einer kleinen Scheune waren verwitterte Eichenholzpfähle aufgeschichtet, die zugespitzten Enden zeigten zur Wand. Das Tor war halb offen. Ein Windrad klapperte träge, änderte ein- ums andere Mal die Richtung, als könnte es sich nicht entscheiden. Kyle kratzte sich mit dem Finger an der Wange und lauschte in die Stille des Waldes. Er versuchte das vielstimmige Gezwitscher der Vögel auseinanderzuhalten, horchte auf das Brummen der Insekten und wartete. Dann setzte das Wehklagen wieder ein, doch bevor er eine Richtung oder einen Grund erkennen konnte, startete im Dunkel der Scheune ein Generator und übertönte mit seinem tiefen Brummen alle anderen Geräusche. Nach langen Minuten des Lärms war alles wieder still. Beinahe, als hätte die Maschine jegliche Geräusche aus der Luft gefiltert, um damit eine Batterieladung Strom zu erzeugen.
Kyle wartete, bis der Wald wieder erwachte, sich das Summen, Zwitschern und die schrillen Rufe der Zikaden wieder über die Lichtung legten, sah sich dann um.
»Hallo, ist hier jemand?«, rief er durch das offene Tor. Er wollte nicht in die Scheune gehen. Das kam ihm ungebührlich und neugierig vor. Deshalb ging er nach vorne, stieg die Stufen zur Veranda hoch und klopfte an die Haustür, doch niemand öffnete ihm.
Nach einer Weile ging er den Weg zurück, im Rücken das bohrende Gefühl, als ob ihn jemand beobachten würde. Für einen Augenblick hatte er gedacht, einen Schatten hinter den Fenstern gesehen zu haben. Vielleicht war doch jemand im Haus und froh, dass er wieder ging.
Er unterdrückte den Wunsch, sich umzudrehen.
Ich bin bloß ein Wanderer, dachte er, und hab zufällig das Haus gefunden. Aber eigentlich will ich weder Unterhaltung noch Herberge. Es wäre anmaßend von mir, mich hier näher umzusehen. Menschen bauten ihre Siedlungen an Kreuzungen von Handelswegen, Seen oder Flüssen. Dort wo auch andere Menschen unterwegs waren. Wer sein Haus mitten in den Wald baut, sucht Abgeschiedenheit.
Er zuckte mit der Schulter, scheuchte ein paar Fliegen von seiner Stirn und tauchte einen Augenblick später zwischen den Bäumen unter. Er hatte Zeit und kein Ziel. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde er eine Lagerstelle finden, weit genug entfernt von den Jägern, um nicht unbeabsichtigt von ihnen entdeckt zu werden.
Hinter ihm war wieder das Wehklagen des Mädchens zu hören, das ihr Leid in die Enge ihres Gefängnisses schrie. So laut, dass ihr Schrei durch die Lüftungsrohre nach draußen drang.
Aber da war nur der Wind, der ihren Kummer davontrug.
Niemand sonst, der sie hören oder ihr helfen könnte.
* * *
Am Abend kamen die Männer zum Haus zurück und brieten die Filets, die Reinhard aus der Geiß geschnitten hatte. Heimo schwenkte die Bratpfanne, gab großzügig Pilze, Speck und Gewürze dazu und goss flüssige Butter darüber. Arno schälte die dampfenden Kartoffel und überwachte das Tiefkühlgemüse, das in einem Topf garte. Reinhard füllte die Gläser mit Whiskey und Jeremy deckte den Tisch.
Sie erzählten sich dreckige Witze, Anekdoten aus ihrer Jugendzeit, übertrieben schamlos in sich überschlagender Begeisterung und lachten laut und herzlich. Froh, unter sich zu sein, ohne die bohrenden Blicke und wütenden Mienen ihrer Frauen, wenn sie ein bisschen Spaß haben wollten.
»Unser Proviant geht schneller zur Neige als gedacht. Die Girlies putzen eine Menge weg«, meinte Reinhard und schaute stirnrunzelnd in den Vorratsschrank. Aus dem großen Zimmer dröhnte laute hämmernde Musik, Jeremy tat, als spielte er die Bassgitarre dazu und hüpfte mit einem Besen unter dem Arm um den Tisch herum.
»Wir sollten uns allmählich überlegen, wie wir sie loswerden können«, rief Heimo laut, und warf einen Blick über die Schulter auf Arno.
»Hmmh«, nickte er und hob den Kopf. Er holte eine gusseiserne Pfanne unter dem Ofen hervor, warf die Kartoffel hinein, gab Butter dazu und streute Salz darüber. Geschickt schwang er die Pfanne, um die Kartoffel in der zerlassenen Butter zu schwenken. Er nahm sein Glas, musterte Reinhard und trank einen großen Schluck Whiskey. Das Zeug brannte in seiner Kehle. Er wischte sich über den Mund. Im Zimmer drüben war die Musik verstummt, nur noch das Poltern von Jeremys Stiefeln zu hören.
»Wir sollten sie auf die Jagd mitnehmen. Sie könnten bei einem Jagdunfall ums Leben kommen«, sagte Arno und grinste böse. Reinhard und Heimo wechselten einen schnellen Blick.
»Du denkst, es ist ein großer Wald da draußen. Da könnte alles Mögliche passieren«, sagte Heimo und beugte sich nach vorne, schnupperte an den Filets. Seine Worte hingen bedeutungsschwer in der Luft und für eine Weile war nur das Summen einer dicken Fliege unter der Decke zu hören.
»Wir könnten sie loslassen und eine kleine Fuchsjagd veranstalten«, setzte Arno nach, der ahnte, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Er blies die Backen auf, wie ein Frosch und blickte gedankenverloren ins Nichts. Es war nicht das erste Mal, dass sie ein Mädchen loswerden wollten.
»Die Rothaarige als Fuchs, das nenne ich eine gute Idee«, nickte Reinhard und lachte laut. Ein aufgesetzter Ton. »Könnte von mir sein.« Er schüttelte den Kopf, schaute einen langen Moment in sein Glas und ließ dann den Whiskey durch seine Kehle laufen.
»Wir bringen sie nach Norden, dort gibt es keine Wanderer, die uns zufällig über den Weg laufen. Sie bekommt einen Vorsprung und damit nichts aus dem Ruder läuft, verpassen wir ihr einen Peilsender, den ich in ihren Schuh einbaue.« Heimo lächelte mit strahlend weißen Zähnen. Seine Augen wanderten um Zustimmung heischend zwischen Arno und Reinhard hin und her. Für Arno die Gewissheit, dass diese Jagd nicht die erste dieser Art war.
Scheiße, die Typen sind abgebrühter als ich dachte. Er kniff die Lippen zusammen und starrte Reinhard an. Sein Pulsschlag dröhnte ihm in den Ohren und er merkte überrascht, dass ihn das Jagdfieber gepackt hatte. Dabei war es gar nicht die Jagd an sich, die ihn erregte. Das Laufen und Aufspüren, das Hetzen. Es gehörte zum Spiel. Es war das Töten selbst, das ihn seit jeher faszinierte.
Nicht so sehr der Akt, als der Augenblick in dem die Opfer endgültig akzeptierten und erkannten, dass es jetzt so weit war, dass das Ende unausweichlich und unmittelbar bevorstand, und dass sie nichts, aber auch gar nichts retten würde. Wenn alles gut geplant ausgeführt wurde, könnte es sogar zu der bizarren Situation kommen, dass die Beute, derart gepeinigt, buchstäblich um ihre eigene Hinrichtung flehte. Bis jetzt hatte er dieses Gefühl nur durch das Töten von Tieren gekannt, in ihren Augen gelesen. Er atmete vorsichtig aus.
Das könnte sogar spannender werden als der Spaß im Keller, dachte er, und wendete mit einem kräftigen Schwung der Pfanne, die Kartoffel.
Während und nach dem Essen tranken sie viel, lachten und stachelten sich gegenseitig auf, dann gingen die Männer in den Keller. Die Mädchen lagen halb bewusstlos, von Drogen umnebelt in ihren Käfigen. Unfähig sich zu wehren, willenlos, den vom Alkohol und durch die Aussicht auf die Jagd, völlig enthemmten Kerlen ausgeliefert. Auch Susanna wurde diesmal nicht verschont.
* * *
»Wir nehmen ihr Handy mit, bis wir irgendwo Empfang haben und werfen es in den Wald, als hätte sie es verloren. Dann haben sie eine letzte Peilung entlang eines Wanderweges, falls sie überhaupt jemand anpeilen sollte, danach ist sie verschwunden.«
»Du denkst wirklich an alles.«
»Ich möchte nicht ins Gefängnis, deshalb achte ich auf die Kleinigkeiten.« Heimos Gesicht umwölkte sich, seine Augen funkelten Jeremy einen Augenblick bösartig an, dann sog er prüfend die Luft ein. Er hob seine Tasse Kaffee zum Mund und trank in kleinen Schlucken. Draußen vor dem Fenster brach die Abenddämmerung herein, die Schatten der Eichen fielen auf die Lichtung und malten dunkle Inseln ins ausgebrannte Gras. Für einen Augenblick sehnte Heimo sich nach der melancholischen Ruhe, die er vor Jahren empfunden hatte, als er die Hütte noch allein bewohnte.
»Wir haben drei Stunden, bis es dunkel ist. Eine halbe Stunde Autofahrt, eine halbe Stunde Vorsprung für sie und eine Stunde für die Jagd. Wenn sie bis dahin durchhält, wird es spannend. Dann kommen wir in die Nacht.« Er schloss für einen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder und schaute Arno und Jeremy an. Nach einem kurzen Schweigen nickte Arno.
»Können wir sie nicht einfach laufen lassen?«, fragte Jeremy. Seine Stimme war leise und in seinen Augen flackerten Skrupel, nur um sofort wieder starr zu werden. »Sie kennt uns nicht, ist ständig unter Drogen. Was soll schon passieren?«
»Nein«, flüsterte Heimo und schüttelte langsam den Kopf. »Oder willst du in einem montenegrinischen Gefängnis verrotten. Du hast deinen Spaß mit ihnen gehabt. Hab auch weiter ein bisschen Spaß, okay?«
»Ich ... ich weiß nicht, ob ich das bringe.« Seine Hände umklammerten die Oberschenkel, er blickte zum Fenster hinaus, dann wieder auf Heimo. Seine Nasenflügel bebten beim Atmen.
»Du bringst das, vertrau mir! Du willst doch nicht, dass sie zu Hause erfahren, was wir hier machen. Also vielleicht nicht alles, bloß das mit den Mädchen.«
»Scheiße, nein!« Sein Gesicht wirkte schmal und blass.
»Na also.« Heimo trank den Rest des Kaffees aus, griff nach seinem Gewehr, das er neben sich an den Tisch gelehnt hatte und erhob sich. »Reinhard ist mit ihr raus. Es kann losgehen.«
Arno und Jeremy folgten ihm schweigend.
Eine halbe Stunde später hielt Reinhard den Wagen an und schaute im Rückspiegel auf das Mädchen, das blass und klein zwischen Arno und Jeremy saß. Trotz der Klimaanlage breiteten sich dunkle Schweißflecke unter ihrer Achsel aus. Jeremy drückte sich an die rechte Seite des Wagens, hielt so viel Abstand von dem Mädchen, wie es ihm möglich war.
»Wir lassen dich laufen«, sagte Heimo Börnstein, und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»Bitte, ich will wieder nach Hause.«
»Ich meine es ernst, Verena. Du heißt doch Verena, nicht wahr?«, sagte er, und sein Lächeln verschwand.
»Ja, ja. Ich heiße Verena, Verena Brooks. Ich will wieder nach Hause.« Sie hatte Angst, schreckliche Angst. Ihre Wut war verbraucht, ihr Hass in Abscheu auf sich selbst umgeschlagen. Die Männer hatten sie gestern Nacht geschlagen, missbraucht, benutzt, in die Kiste gesperrt und vor einer Stunde herausgezerrt und in den Wagen gesetzt. Sie hatten etwas vor, das war klar. Aber alles war besser, als unten im Keller im Gitterkäfig zu hocken und zu warten, bis ihre Peiniger kamen. Nicht ahnend, ob sie nur für Verpflegung sorgten oder über sie herfielen und Sachen machten, die sie vor Grauen zittern ließen.
»Mhm, wir lassen dich laufen. Du bist frei und kannst gehen, wohin du willst«, sagte Reinhard Frost mit unbeweglicher Miene. Sein Blick stur in den Wald vor ihm und auf nichts Bestimmtes gerichtet.
Verenas Augen schwammen in Tränen, in ihrem Gesicht widerspiegelten sich Unglauben und das Misstrauen, das sie für Heimo und seine Freunde empfand.
»Du kannst nach Hause. Ich kann dich aber nicht in der Stadt aussetzen, das verstehst du doch. Du würdest sofort zur Polizei gehen und ihnen sagen, wer wir sind.«
»Ich werde nichts sagen, ich werde nichts verraten, ich verspreche es.«
»Das ist mir zu unsicher«, unterbrach sie Heimo freundlich. Im Ton, als würde er ein bockiges Kind zurechtweisen. » Wir
bringen dich an einen Ort, wo du eine Weile brauchst, um wieder unter Menschen zu kommen. Bis dahin sind wir außer Landes und du kannst denen erzählen, was du willst. Es wird dir keiner glauben. So einfach ist das.«
»Werfen wir die Schlampe einfach aus dem Wagen und verschwinden von hier«, brummte Arno Daniels und musterte das Mädchen von der Seite. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Regungslos verharrte sie, versuchte nicht an den Männern anzustreifen.
»Lass ihr Zeit. Ich habe ihr eine Chance versprochen, die soll sie bekommen.«
Verenas Kopf ruckte herum. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit trübten ihren Blick. Sie dachte daran, dass er ihr die Freiheit versprochen, sie ihm aber nicht geglaubt hatte, und nun klammerte sie sich an diesen Strohhalm, der ihr dargeboten wurde. Wer glauben will, nimmt was er bekommen kann, und sei es Unmögliches.
Sie sperrte die Augen auf, um die Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Sie fluteten ihre braunen Augen und rannen wie kleine Bäche über ihre Wangen. Ihre Gedanken gingen zu den anderen Mädchen, die im Keller zurückgeblieben waren, sie zitterte und zuckte am ganzen Körper.
»Mach dir keine Sorgen um deine neuen Freundinnen«, sagte Heimo weiter freundlich, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, stieg aus, als Reinhard anhielt und öffnete die hintere Wagentür. »Sie bekommen die gleiche Chance wie du. Wir können euch natürlich nicht gemeinsam freilassen. Jede von euch wird in einem anderen Teil des Landes ausgesetzt. Damit stehen die Möglichkeiten uns zu finden, für euch ziemlich schlecht.«
Ein Schwall heißer Luft drang in den Wagen, die Sonne heizte das Innere zusätzlich auf.
»Los gehts, Darling.« Arno stieß sie in die Seite und kletterte aus dem Wagen. Er blieb eine Weile hinter der geöffneten Tür stehen. Verenas Gesicht war schweißbedeckt und grau, wie festgewurzelt blieb sie sitzen, stumm vor Angst, die sie in Wellen überfluteten.
»Steig aus! Letzte Chance, oder willst du lieber wieder zurückfahren?«, rief Arno und steckte den Kopf in den Wagen, aber Verena starrte nur geradeaus.
»Aussteigen!«
Sein heftiger Wutausbruch ließ sie blinzeln. Umständlich rutschte sie zur Seite und stieg aus. Ihre Knie zitterten unkontrolliert. Hoch in den Wipfeln der Bäume waren die zornigen Rufe eines Eichelhähers zu hören, eine Traube Mücken schwirrte um die Köpfe der Männer und stürzte sich sofort auch auf sie. Unwillkürlich schlug sie um sich und fuhr mit den Händen durchs Gesicht.
»Du bist frei und kannst hingehen, wohin du willst.« Heimo deutete mit einer großzügigen Handbewegung in die Runde. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, inmitten von hohen Bäumen, deren Wipfel sich in einer sanften Brise wiegten.
Verena bekämpfte die in ihr aufsteigende Hysterie, kam wieder zu Atem und versuchte ihrer Stimme einen festen Ton zu verleihen. »Wie soll ich hier irgendwohin finden? Ich habe doch keine Ahnung, wo ich bin.«
»Innerhalb von fünfzehn Kilometern ist in jeder Richtung eine Stadt, ein Dorf oder eine Straße, die dort hinführt. Du musst dich nur entscheiden, welche du wählst«, antwortete Reinhard von der anderen Seite. Seine Stimme war kalt. Er war in den Schatten der Bäume getreten, schaute zu Boden und grinste. »Es gibt allerdings eine kleine Einschränkung.«
Verena erschauerte. Sie wusste, dass jetzt ihr Urteil gefällt wurde. Das Spiel war vorbei. In ihrem Magen breitete sich ein kaltes Gefühl aus. Diese Kerle würden sie nicht einfach gehen lassen. Sie hatten noch irgendetwas mit ihr vor.
»Wir werden versuchen, dich einzufangen. Schaffst du es zu entkommen, bist du frei. Holen wir dich ein, kommst du wieder in den Käfig.« Arno öffnete den Kofferraum, holte zwei Gewehre daraus hervor und warf eines davon Jeremy zu, der es geschickt auffing und sie mitleidig anschaute.
»Wir geben dir eine Stunde Vorsprung«, erklärte Heimo und zeigte mit dem Finger auf sie. »Eine Stunde sind in diesem Gelände drei Kilometer. Wenn du dir Mühe gibst, bist du am Abend frei, sonst gehörst du für immer uns.«
Sie musterte sein Gesicht. Ein Lächeln zog einen Mundwinkel nach unten.
»Ihr widerlichen Scheißkerle«, brach es aus ihr heraus.
Plötzlich waren der Zorn und die Verachtung wieder da, die sie im Käfig hatten überleben lassen. Es war, als hätte sie eine kräftige Ohrfeige bekommen, die sie wieder zur Besinnung brachte.
»Für all das werdet ihr bezahlen. Ich weiß nicht wie oder wann, aber ihr werdet bezahlen. Alle vier. Ihr seid nichts als Abschaum und ich wünsche euch einen langsamen, grässlichen Tod.« Sie schaute von einem zum anderen und dann wieder auf Heimo, wollte ihn anschreien, nach den anderen Mädchen fragen, die vor ihr im Keller waren, hatten sie es geschafft? Aber das alles würde an ihm abprallen. Fieberhaft überlegte sie, ob sie davon gelesen hatte, dass es jemand gab, die entkommen waren, aber sie las nur selten Zeitungen, interessierte sich nicht für Nachrichten.
Ein Fehler?
Ihre Gedanken wirbelten im Kreis und vor ihren Augen trieben dunkle Schleier. Sie war untrainiert, ein Stadtmensch. Sie würde sich verirren, hatte keine Chance.
Reinhard griff in den Wagen und hielt ihr eine Flasche Wasser vor die Nase. »Nimm«, sagte er und senkte die Stimme. »Du wirst es brauchen.«
Sie griff danach und wollte ihm gleichzeitig die Flasche an den Kopf werfen. Dann straffte sie die Schultern, spuckte mit aller Verachtung, die ihr möglich war, vor ihm auf den Boden, drehte sich um und ging auf den Wald zu.
»Lauf Mädchen, die Stunde hat begonnen.«
Arnos Gewehr krachte, aber sie zuckte nicht zusammen. Sie wusste, dass er nicht auf sie schießen würde.
Noch nicht.
Er war nur wie ein böses Kind, das ihr ein bisschen Angst einflößen wollte, bevor er sie jagen durfte, um seine eigenen Ängste zu unterdrücken.
Sobald sie im Wald hinter den Bäumen und außer Sicht war, warf Verena einen Blick zurück, duckte sich unter tief stehenden Ästen durch und rannte los. Sie folgten ihr nicht, das wusste sie, doch nach wenigen Schritten spürte sie ihr Herz trommeln und japste nach Luft. Sie konzentrierte sich auf das Geräusch ihrer Schritte und rannte, die Augen auf den laubbedeckten Boden vor ihr gerichtet, bis sie völlig außer Atem war. Keuchend blieb sie stehen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen, schraubte mit zitternden Fingern den Verschluss von der Flasche, als ihr einfiel, dass Drogen im Wasser sein könnten. Angewidert warf sie die Flasche weg. Sie war nutzlos.
Ich werde im Kreis laufen, ich werde verdursten, ich werde mir ein Bein brechen und liegen bleiben, dachte sie verzweifelt und schaute gehetzt nach hinten. Noch war nichts von ihnen zu hören oder zu sehen, aber sie würden kommen, das war klar.
»Verdammt, sie dürfen mich nicht kriegen!«, stöhnte sie, lief weiter, änderte spontan die Richtung und bahnte sich ihren Weg durch dicht stehende Sträucher, die sie festhalten wollten, und jungen Bäumen, deren eng stehende Zweige nach ihr griffen. Sie stolperte über einen umgestürzten Baumstamm, schlug der Länge nach hin. Ein Aststummel bohrte sich in ihre linke Seite, sie schrie vor Überraschung und Schmerz auf. Erhob sich schwankend auf alle viere und sah mit wildem Blick um sich, Tränen verzerrten ihr Bild. Sie sammelte alle Kräfte, hielt den Atem an, sprang hoch und hastete weiter.
Das Stadtkind in ihr wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, aber die Angst trieb sie vorwärts. Sie spürte ein Stechen in ihrer linken Seite, ausgehend von der frischen Wunde und drückte mit der Hand darauf. Blut lief ihr zwischen den Fingern hervor. Klebrig und feucht.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, keuchte sie, verharrte kurz und versuchte im Halbdunkel des Waldes einen Blick darauf zu werfen. Ihr T-Shirt war auf der Seite drei Fingerbreit zerrissen, blutig, verschmutzt, aber sie konnte sich jetzt nicht darum kümmern.
Sobald ich Wasser finde, muss ich das auswaschen, dachte sie, und ärgerte sich im selben Moment, dass sie die Flasche weggeworfen hatte, aber ein Umkehren und Suchen war unmöglich.
Sie drehte sich herum und lief weiter über laubbedecktem Boden, wich dicken Wurzeln und herumliegenden Ästen aus. Im Unterbewusstsein nahm sie den süßlichen Geruch von Verwesung wahr, konnte ihn aber nicht zuordnen.
Plötzlich spuckte der Wald sie aus und sie fand sich auf einem überwucherten Weg wieder, den wohl Holzfäller vor langer Zeit benutzt hatten. Sie überlegte einen Moment über die Wiese, die vor ihr lag, ins offene Gelände zu laufen, entschied sich dann aber dagegen, rannte die Fahrspuren neben dem Wald entlang, in der Hoffnung, dass sie auf eine bessere Straße führen würden.
Der Weg wurde schmäler und steiler, führte wieder zwischen die Bäume, bis er schließlich so abschüssig war, dass Verena seitwärts gehen und sich an Ästen festhalten musste, um nicht zu stürzen.
Hier kann doch unmöglich jemand fahren, dachte sie, und mühte sich abwärts, mit Beinen, die schmerzten und zitterten. Die letzten fünfzig oder sechzig Meter war der Boden durch Regen und Schnee bis zum Fels abgeschliffen und sie musste seitlich in den Wald, um zwischen dem Gestrüpp Halt zu finden. Der Weg verlor sich schließlich im dichten Wald. Schweiß rann ihr in Strömen über Stirn und Wangen, das Salz brannte in ihren Augen und brachte sie zum Tränen. Vom Unterholz behindert, verlangsamte sie ihre Schritte und wischte sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts den Schweiß ab.
Nichts. Kein Weg mehr, kein Pfad, der irgendwohin führte, keine Menschen, keine Hilfe.
Ich habe nichts außer meinem Verstand und meine fünf Sinne, schrie sie in Gedanken und betete inständig, dass dies ausreichen würde.
Verzweifelt kämpfte sie sich weiter, um nach einer gefühlten Stunde haltzumachen. War das wirklich erst eine Stunde? Sie hatte keinerlei Bezug mehr zu Zeit und Entfernung und konnte nicht mehr weiter. Ihr Herz raste, die Lunge pumpte heiße Luft in ihre Brust, die sich anfühlte wie mit scharfen Messern gespickt. Feurige Räder tanzten am Rand ihres Sichtfeldes. Sie hielt an, beugte sich vor und stützte keuchend die Hände auf die Knie. Verena war noch nie so erschöpft, hatte sich nie schlimmer gefühlt.
Aus ihrer Kehle brach ein trockenes Schluchzen, die Wunde an ihrer Seite pochte, noch immer sickerte Blut heraus. Sie horchte auf ihre Jäger, ein Geräusch von brechenden Ästen, schweren Schritten oder Rufen, aber da war nichts.
Weder zu sehen noch zu hören.
Hatten sie ihr tatsächlich eine Chance gegeben? War sie vielleicht schon länger unterwegs als gedacht? Hatte sie die Schweine abgehängt? Oder wurde sie vielleicht nicht verfolgt, wollten sie nur, dass sie sich abhetzte, in ihrer Panik selbst verletzte und zu Tode kam?
Sie schaute nach der Sonne, die tief in den Ästen des Waldes vor ihr stand und in nicht allzu langer Zeit vollständig verschwunden sein würde und lachte. Ein hysterischer Ton, der keine Erleichterung brachte. Dann wechselte sie ein weiteres Mal die Richtung und lief nach Süden, bergab, weil es leichter ist zu laufen war.
Langsamer jetzt.
Völlig erschöpft.
Sie musste überleben. Für sich. Für die anderen Mädchen und Frauen, die sie umgebracht hatten. Für ihre Familien.
»Sie ist nach Westen gelaufen. Würde sie die Richtung beibehalten, käme sie in unwegsames Gelände und müsste eine Woche laufen, bis sie in bewohntes Gebiet kommt. Wir lassen ihr fünfzehn Minuten Zeit, dann folgen wir ihr. Nach einer Stunde ist sie fertig und wird langsamer. Ich schätze wir haben sie, bevor es dunkel wird. Falls ihr Wild findet, gehört es euch, damit sich die Jagd auch auszahlt. Vielleicht können wir auch eine Trophäe mit nach Hause nehmen.« Heimo warf seinen Rucksack über die Schulter, nahm das Gewehr in die Hand und ließ seinen Blick über die Lichtung wandern. Er nickte Reinhard zu und lächelte zufrieden.
»Los geht´s. Lasset die Spiele beginnen«, lachte Reinhard, holte sein Handy heraus und startete die App für den Peilsender. Eine interaktive Karte öffnete sich auf dem Bildschirm und gleich darauf erschienen zwei gelbe, eng nebeneinanderliegende Punkte. Er tippte ins Menü, wartete einen Augenblick und grinste, als ein roter Punkt erschien.
»Sie ist schneller als wir dachten. Die Kleine ist gut vorangekommen.«
»Unterschätze nie die Kraft der Verzweiflung«, erwiderte Heimo. »Jeremy, du kommst mit mir. Arno geht mit Reinhard. Wir nehmen sie von zwei Seiten in die Zange. Diese Dinger sind alles andere als genau. Wir haben damit nur einen ungefähren Standort.«
»Das macht die Jagd etwas spannender«, ergänzte Reinhard, die Fältchen um seine Augen weiß, die Miene koboldhaft und vergnügt.
Verena rannte, stolperte und sprang bergab, am Ende ihrer Kräfte. Immer öfter musste sie Pausen einlegen, presste dann die Hand auf ihre linke Seite, die brannte und stach. Unter dem Dreck sickerte Blut hervor und breitete sich auf die Hose aus. Sie merkte, wie ihr der Blutverlust allmählich zu schaffen machte.
Was mache ich mir Sorgen um eine Sepsis, dachte sie und starrte auf ihre blutverschmierte Hand. Ich sterbe ohnehin an Erschöpfung, wenn sie mich nicht zuvor erschießen. Sie schaute sich um, suchte in der Wildnis, die sie umgab, nach einem Anhaltspunkt, die Orientierung hatte sie längst verloren. Vor ihr öffnete sich eine schmale Senke, die flankiert war von bewaldeten Hängen.
»Soviel zu ›innerhalb von fünfzehn Kilometern ist eine Stadt‹ ihr Scheißkerle«, bellte sie mit trockener Kehle beim Anblick des engen Tales, das vor ihr lag. Keuchend lehnte sie sich an einen Baumstamm, rutschte an der rauen Rinde herunter und merkte kaum, wie diese die Haut an ihrem Rücken zerkratzte. Sie ließ ihren Blick über umgestürzte Bäume und verdorrte Sträucher huschen, ihre Augen zogen vor Anstrengung kleine Fältchen in den Winkeln.
Da war nichts. Kein Weg, keine Straße, kein Dorf. Nur Felsen, Bäume und Wildnis.
Alles in ihr schrie nach einem Ende dieses Alptraums. Sie wollte sich hinlegen, ausruhen, die Beine hochlagern, nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nicht mehr laufen. Aber sie wusste, dass sie, einmal am Boden, nicht wieder hochkommen würde.
Sie dürfen mich nicht kriegen, dachte sie. Ich muss ihnen ein Ende setzen. Den Kerlen dürfen nicht noch mehr Mädchen in die Hände fallen.
Sie unterdrückte jeden Gedanken an die Schmerzen an ihrer Seite und ihren erschöpften Beinen, raffte sich auf und lief die Senke entlang, bis es wieder bergauf ging. Dann wandte sie sich nach links in den Wald. Dort war sie zumindest nicht sofort sichtbar.
Langsam brach die Dunkelheit herein, würde sie ihr helfen oder schaden?
Verena blieb stehen und lauschte auf ihre Verfolger, aber da waren nur die Geräusche des Waldes. Der Gesang der zahllosen Vögel, ein Rascheln und Knacken und nichts zu sehen, kein Tier, kein Mensch, kein Verursacher der Geräusche. Nur der Wind, der die Äste der Bäume wiegte.
Plötzlich fiel ein Schuss.
Weit weg und doch zu nah.
Waren andere Jäger unterwegs? Das wäre eine Chance. Oder vermuteten die Kerle sie woanders und hatten auf ein Phantom geschossen, auf Wild oder gar sich selbst?
Sie konnte sich nicht konzentrieren oder auch nur einen klaren Gedanken fassen und beschloss schließlich, die Richtung beizubehalten. Sie musste höher hinauf, wenigstens über die nächste Kuppe, eine Orientierungsmöglichkeit finden.
»Lauf!«, befahl sie sich. »Lauf! Verdammt, lauf weiter!« Das Blut pochte ihr in den Ohren. Dann brach sie zusammen. Schluchzend, mit den Kräften und Nerven am Ende. Durst, Angst und ihr geschwächter Zustand ließen ihr keine Wahl. Sie konnte einfach nicht mehr weiter.
Von Krämpfen geschüttelt, von Panik vor ihren Verfolgern erfüllt, raffte sie sich nach langen Minuten auf, wankte und stolperte auf ein Gebüsch zu, um sich zu verstecken, unsichtbar zu werden, die letzten Kräfte sammeln oder dort hinten sterben. Nur nicht ihren Jägern in die Hände fallen.
Mit weichen Knien, die sie kaum zu tragen vermochten, taumelte sie zwischen die Äste, stolperte über eine Wurzel und fiel nach vorne, stürzte über einen Abhang, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich auf einer geschotterten Straße liegen. Ihr Kopf dröhnte.
Sie fühlte sich klein, verletzt.
Zerbrochen.
Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 6
								In dieser Nacht tobte ein Gewitter, das die Wolken mit einem wahren Feuerwerk erleuchtete, der Regen tanzte auf dem Dach und die Luft war erfüllt mit dem Geruch von Ozon, nasser Wolle und Schwefel.
* * *
Der neue Morgen begrüßte Stefan Kovacic mit einer kühlen, klaren Brise, der Himmel im Osten war von einem dunklen Violett, in dem tiefhängende orange-rote Wolken dahinzogen. Er stand im Schatten der tropfenden Bäume, auf der Straße vor ihrem Büro neben Zoran Novak und schaute auf den Bus, der keine zehn Schritte vor ihm angehalten hatte. Touristen in ihren bunten Klamotten mit Rucksäcken und Gepäck, als wären sie für Wochen unterwegs, fielen aus der Tür, ohne auf die Pfützen zu achten, in die sie traten. Sie lachten laut, unterhielten sich ausgelassen, schauten zum Himmel hinauf und freuten sich über den neuen Tag. Der Regen gestern Nacht hatte die Luft gereinigt, der Morgen die Landschaft mit Nebel überzogen und der Wind vertrieb nun die letzten Reste.
Seine rechte Hand öffnete und schloss sich im Sekundentakt und er atmete die feuchte Kühle, die der Morgen brachte.
Vielleicht ist es gut, ein wenig umzurühren und Gerüchte zu streuen, dachte er. Wenn ich die Kerle nicht finde, muss ich sie aus ihrem Versteck locken. Er schaute nachdenklich zu ein paar Kindern die Straße hinunter, die unter den Bäumen spielten.
Er wusste nicht, ob es ein Einzelgänger war, der nur manchmal ans Tageslicht kam oder eine Gruppe, die wie räuberische Heuschrecken in ihrem Wald einfielen oder irgendetwas dazwischen.
Es ist eine Ratte, dachte er. Und eine Ratte verkriecht sich in einem Loch. Ich muss nur das Loch finden, um ihn auszuräuchern. Genau genommen war es ohnehin bloß ein Verdacht, ein Bauchgefühl. Sie konnten bis jetzt nichts nachweisen, hatten keine verwertbaren Spuren.
»Ich werde im Laufe der Woche die Handvoll Jagdhütten besuchen, die verstreut im Wald stehen, danach die Camps mit Aussteigern, von denen ich weiß, und dann die Prepper, die sich neuerdings in den Wäldern herumtreiben.«
»Von denen wirst du nicht viel erfahren«, antwortete Zoran und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er spitzte die Lippen und formte aus dem Rauch kleine Kringel. Versonnen betrachtete er die aufsteigenden Ringe. Das Licht unter den Bäumen ließ sein Gesicht fahl erscheinen.
»Zumindest halten sie die Augen offen. Die sehen überall Verschwörungen und achten auf Details. Man muss ihre kruden Gedanken nur in die richtige Richtung lenken, sie bei Laune halten.«
Einen Augenblick lang gab Zoran keine Antwort, er blickte ihn nur schief an. Die Pupille seines rechten Auges war rund und schwarz, wie ein Tropfen schwarzer Tinte auf billigem Papier.
»Solltest du in ein Wespennest stochern, bekommst du vielleicht Probleme. Diese Typen sind nicht zu unterschätzen. Das sind Freaks. Auf der einen Seite hilflose Stadtmenschen, auf der anderen Seite unberechenbar und gefährlich.«
»Unberechenbare Idioten machen Fehler, die mir unter Umständen weiterhelfen«, winkte Stefan ab. »Außerdem glaube ich nicht, dass es Prepper sind. Die haben genug mit sich selbst zu tun. Die kämpfen gegen die Regierung, Umweltschützer und gegen ihre eigenen Ängste. Nein! Es sind ganz normale Menschen, nette Nachbarn und Ehemänner. Die sind die wahren Monster unter uns.«
Sehr viel später am Abend starrte Stefan auf den Mond, der sich tief unter ihm auf dem Fluss spiegelte. In seinen Augen lag ein schmerzliches Leuchten, als er vor zwanzig Minuten zu der Weggabelung gekommen war und ihm bewusst wurde, dass ihn dieser Pfad wieder einmal genau an die Stelle am Fluss führen würde, wo er das Mädchen aus den Wurzeln eines toten Baumes geborgen hatte. Seine Gedanken waren heute bei ihr, denn in seinen Träumen sah er sie immer noch manchmal in den Wellen winken. Und trotzdem fühlte er sich nicht unbehaglich dabei, eher gestärkt in seinem Bestreben, die Mistkerle, die ihr dies angetan hatten, zur Strecke zu bringen.
Er hatte sich am Licht der Sterne orientiert, das von hoch oben einfiel, von dort, wo die Heimat der Götter war, während hier unten nach wie vor die Hitze des Tages über dem Wald hing und die Zikaden in den Sträuchern lärmten.
Es war ein guter Tag gewesen. Kein erfolgreicher, aber er konnte immerhin einige Möglichkeiten ausschließen, damit die Grenzen enger setzen und die Schlinge, die er um die Mörder ziehen wollte, allmählich zuziehen.
Warum erwarte ich immer mehr von einem Tag, als er vielleicht verdient hat, dachte er, und lauschte auf das Gezwitscher von Nachtvögeln im Wald hinter ihm und dem verhaltenen Knacken eines trockenen Astes. Er verharrte für einen Augenblick und hielt die Luft an, aber die Vögel zwitscherten unbeirrt weiter.
Bei drei Hütten, die er heute aufgesucht hatte, hatte er niemand angetroffen. Sie standen leer. Das Unkraut hoch und verdorrt. Spinnweben hingen an den Fenstern und Türen. In weitem Umkreis keine Spuren von Menschen. In einer weiteren Hütte ein junges Pärchen, offenbar frisch verliebt oder verheiratet, die nur Augen für sich gehabt hatten und die Einsamkeit sichtlich genossen. Sie waren überrascht, Besuch von einem Ranger zu erhalten.
Stefan hatte sie beruhigt und ihnen versichert, dass er und seine Kollegen ein Auge auf alle Touristen hätten. Es konnte nicht schaden, wenn die Leute meinten, die Ranger hätten tatsächlich alles unter Kontrolle. Jetzt fehlte ihm bloß noch das große Blockhaus, das am Rande seines Reviers und am einsamsten gelegen war. Obwohl er sich nicht viel davon versprach. Das Haus stand zu weit weg vom Geschehen. Dorthin verirrte sich kein Wanderer. Diese Gegend war den Jägern vorbehalten, die ihrerseits nur selten an den Fluss kamen.
Er wandte sich um und ging zurück zu seinem Lagerplatz, das Feuer war bis auf eine helle Glut herabgebrannt. Der Mond tauchte die kleine Lichtung in fahles Licht. Das silberne Kochgeschirr neben dem Feuer funkelte wie ein Spiegel in der Sonne. Sein Schatten kroch langgezogen und schemenhaft vor ihm über den Boden, am anderen Ende der Lichtung sang eine Nachtigall. Stefan rollte seinen Schlafsack als Unterlage aus, legte sich darauf, schlüpfte unter eine dünne Decke und schlief ein.
Die erste Andeutung des neuen Tages schimmerte schwach am östlichen Horizont. Die Sterne verblassten bereits, als er sein Lager abbrach, Erde über die Reste des kleinen Feuers streute, die Steine unter die Bäume warf und alle Spuren beseitigte, die verrieten, dass er hier gewesen war. Er rollte Schlafsack und Decke zusammen, packte den Rucksack und machte sich auf den Weg.
Am frühen Vormittag fand er die schmale Zufahrt, die zu dem Blockhaus führte, wie er hoffte. Zum wiederholten Mal in dem folgenden Fußmarsch, dachte Stefan an das Mädchen im Fluss. Sie war die treibende Kraft, die ihn weitergehen ließ. Ihr Antlitz, dass ihm seelenlos entgegengeblickt hatte, als er zu ihr hinuntergestiegen war. Vorwurfsvoll, im Entsetzen dessen, was mit ihr geschehen war.
Er hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, umzukehren, vielleicht einen Pfad weiter nördlich zu finden oder aufzugeben und die Suche an einer anderen Ecke weiterzuführen, als die Hütte endlich vor ihm auftauchte.
In einem offenen Fenster spiegelte sich zwischen den Eichen die Sonne und stach ihm scharf in die Augen. Stefan blieb stehen und starrte auf das Haus, aus soliden Stämmen auf ein Fundament aus unbehauenen Steinen gebaut, die teuren Wagen, die auf der Lichtung standen. Selbst im Schatten schwitzte er in seiner Kleidung. Er spürte den leichten Wind, der über die Bergkämme blies, befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und schnaubte abfällig. Neben dem Haus stand eine Gaslaterne, wie es sie in den kleinen verstreuten Dörfern in den Bergen gab. Vermutlich durch eine unterirdische Leitung gespeist. Eine ausgeblichene Markise blähte sich über der Veranda in der morgendlichen Brise. Sein Blick schweifte weg zu den Bäumen. Ein dunkler Schatten lag auf seinem Gesicht und er rieb sich gedankenverloren über die Stirn. Dann trat er auf die Lichtung, damit sie ihn im Haus sehen konnten und wartete.
Vorsichtig. Man konnte bei Leuten, die so einsam wohnten, nie wissen, wie sie reagierten.
Schließlich setzte er sich in Bewegung, ging auf die Hütte zu, den Rücken gerade und versuchte so viel Selbstbewusstsein auszustrahlen, wie ihm möglich war.
Das Geländer der Veranda war von der Sonne aufgeheizt. Er ließ die Hand darüber gleiten und stieg die Stufen hoch, blieb einen Augenblick stehen, hielt inne. Dann stellte er den Rucksack ab, klopfte mit den Knöcheln an die Tür und blickte über die Schultern zurück, ohne selbst zu wissen, was ihn nervös machte.
Eine lange Minute erhielt er keine Antwort, hörte aber, wie sich drinnen etwas bewegte. Ein Scharren, das ächzende Geräusch des Holzfußbodens, der sich unter den schweren Tritten eines Menschen bog, dann Stille.
Wieder klopfte Stefan, diesmal lauter.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein Mann tauchte dahinter auf. Das Gesicht wirkte blutleer, verkatert, seine Augen hatten rote Ränder, die Haut war straff über die Knochen gespannt.
»Was is´«
»Guten Morgen. Mein Name ist Stefan Kovacic. Ich bin Ranger der Stadt und hätte ein paar Fragen an sie. Darf ich reinkommen.«
Der Mann zögerte einen Moment mit der Antwort, senkte den Kopf, um nachzudenken, was ihm sichtlich schwerfiel. Das Saufgelage von letzter Nacht war ihm deutlich anzusehen. Dann trat er zurück, das Gesicht angewidert verzogen.
»Klar, kommen sie herein«, sagte er mit einem Winken, drehte sich um und schlurfte den Flur voraus, ohne weiter auf ihn zu achten. Stefan Kovacic drückte die Tür hinter sich zu und folgte ihm in die Küche.
»Hier ist mein Ausweis.« Er griff in seine Brusttasche, aber der Mann hielt eine Kanne in die Höhe und blinzelte verständnislos.
»Lassen sie stecken, ich glaube ihnen auch so.« Er versuchte ein Lächeln, das zur Grimasse erstarrte. »Kaffee? Ist frisch aufgebrüht. Wir haben gestern ein wenig über die Stränge geschlagen, wenn sie verstehen? Ich brauche selbst erst einen halben Liter davon, um mich zu finden. Im Moment stehe ich noch ziemlich neben mir.«
»Gerne, danke«, antwortete Stefan. »Es handelt sich nur um einen zwanglosen Besuch. Hätten Sie was dagegen, wenn ich mich setze, Herr ...?«
»Börnstein. Heimo Börnstein«, sagte der Mann und drehte Stefan den Rücken zu.
Der Ranger schaute sich unauffällig um. Die Küche war sauber aufgeräumt. Keine Teller, keine Gläser, kein schmutziges Geschirr. Nichts deutete auf ein Besäufnis unter Männern hin, wie ein damit verbundenes Chaos, aber was hatte er erwartet, eine Absteige, die wie eine Höhle aussah? Durch die Tür konnte er im Raum gegenüber eine Bar sehen, auf der Flaschen und Gläser standen.
»Sie wohnen ziemlich weit ab vom Schuss, wenn ich das so sagen darf. Hier ist kilometerweit keine Siedlung, nicht einmal eine Jagdhütte.«
»Mhm, ist eine Ecke weg von der Stadt, ja«, erwiderte Börnstein und kratzte sich am Kopf. »Das war mir nicht richtig bewusst, als ich die Hütte gekauft habe. Ich war nur einmal da und dachte, nette Hütte und viel Platz. Da kann man auch mit Freunden ein paar Tage verbringen, ohne dass es eng wird.« Er holte zwei Tassen aus dem Schrank über der Spüle und drehte sich um.
»Milch, Zucker, Gebäck?« Stefan lehnte dankend ab und nahm die Tasse Kaffee entgegen. Der Mann ließ sich neben Stefan auf einen Stuhl fallen, folgte seinem Blick und blies die Luft aus den Wangen. Ein amüsiertes Funkeln trat in seine Augen.
»Wir haben gestern ein klein wenig mehr getrunken, ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.« Er lehnte sich zurück und fuhr mit der einen Hand immer wieder über den anderen Handrücken.
Stefan lächelte gutmütig und nippte am Kaffee. »Ich denke, ich habe sie schon mal in der Stadt gesehen.«
»Ja, kann durchaus sein. Ich kaufe alles was ich brauche in der Stadt ein. So komme ich unter Leute, wenn ich hier meine Zeit verbringe und kann auch ein bisschen zurückgeben.«
»Nette Absicht. Verbringen sie viel Zeit in unserem Wald.«
»Nein, leider. So gut wie nie. Eine Woche im Frühling, ein paar Tage im Sommer und zwei Wochen im Herbst. Ich nehme mir öfter mal vor, mehr Zeit zu verbringen, schaffe es aber nicht wirklich.« Sein Blick ging zum Fenster hinaus, auf die Lichtung, wo die Hitze der Sonne fast spürbar war.
»Ich habe das Haus gekauft, weil ich eine Möglichkeit gesucht habe auszuspannen. Der Tretmühle zu Hause zu entkommen. Ich hätte auch eine baufällige Hütte gekauft und sie von Grund auf renoviert. Aber das Haus ist in gutem Zustand, da hatte ich Glück. Dafür streife ich durch den Wald und lerne die Umgebung besser kennen.«
»Mhm. Haben sie keine Angst, sich zu verirren? Der Wald ist riesig. Hier verirren sich die Menschen zu allen Zeiten. Wir finden sie manchmal, aber nicht immer.«
Heimo Börnsteins Augen musterten den Ranger und ein befremdliches Lächeln legte sich über seinen Mund. Seine Hände lagen reglos auf dem Tisch. Er wollte etwas sagen, wurde aber unterbrochen durch zwei Männer, die durch die Tür kamen. Sie trugen nur kurze Shirts und Unterhosen, waren unrasiert, rochen nach Alkohol, getrocknetem Schweiß, Testosteron und Hitze. Betreten blieben sie mitten im Raum stehen und schauten sich um, desorientiert. Ihre Gesichter so ausdruckslos wie frischer Brotteig.
»Guten Morgen«, begrüßte sie Stefan Kovacic und nickte ihnen freundlich zu.
»Morgen«, brummte der Größere, während der andere schwieg und wegschaute, als wunderte er sich, wie er hierhergekommen war.
»Das sind Freunde von mir und derzeitige Mitbewohner«, stellte sie Heimo vor und zeigte mit dem Finger auf sie. »Jeremy Gordon und Arno Daniels. Leute, das ist Stefan Kovacic, ein Ranger aus der Stadt.«
Er nahm seine Kaffeetasse zwischen die Hände und starrte mit leerem Blick hinein, als ob er in dem schwarzen Gebräu, aus dem noch immer leichter Dampf stieg, die Zukunft lesen konnte.
»Warum er uns die Ehre seines Besuchs erweist, hat er mir allerdings noch nicht verraten.«
»Ich muss unter die Dusche«, brummte Jeremy Gordon und ging nach draußen.
»Und ich brauche einen Kaffee«, sagte Arno Daniels, ließ sich auf einem Stuhl nieder und grinste verlegen.
»Steh auf! In der Küche ist ein Ranger. Verdammt, was will der bei euch? Hat das etwas mit den Mädchen zu tun? Ist er euch auf die Spur gekommen? Scheiße! In was bin ich da reingeraten?« Jeremy wedelte mit den Fingern vor Reinhard Frosts Gesicht und schnappte nach Luft. Der Raum war vom abgestandenen Geruch nach Alkohol, verschwitzten Leibern und Sex durchdrungen. Er ging zum Fenster, riss die Vorhänge zur Seite und stieß es weit auf.
Reinhard lag auf seinem Bett vergrub den Kopf unter dem Kissen und zog die Decke über sein Gesicht.
»Mach das Licht aus!«, ächzte er.
»Wach auf! Es gibt Probleme. Los! Raus aus den Federn!«
»Was ist? Was soll das?«
»Da unten ist ein Ranger, der Fragen stellt«, wiederholte Jeremy und ging in dem Zimmer auf und ab. Er grub seine Finger in die Schläfen und seinem Mund entwich ein Zischen.
»Scheiße!« Reinhard warf die Decke zurück, sprang hoch und schlüpfte fluchend in seine Hose. Er schüttelte mehrmals den Kopf und versuchte die Bildfragmente der letzten Nacht zu einem zusammenhängenden Film zu ordnen. Wieso war ein Ranger in ihrer Hütte? Hatten sie irgendetwas übersehen? Eine Spur gelegt?
»Ist er allein oder sind es mehrere?«
»Er ist allein. Sitzt mit Heimo beim Kaffee.«
Reinhard verharrte, dachte kurz nach, und setzte sich auf das Bett. Von unten drangen leise Stimmen durch die offene Tür. Dann ein kurzes raues Lachen. Er warf einen Blick durch das Fenster auf die Lichtung, konnte aber außer ihren vier Wagen, die unter den Bäumen im Schatten standen, kein weiteres Fahrzeug sehen. Der Ranger musste zu Fuß gekommen sein oder seinen Wagen am Weg zurückgelassen haben, um sie an der Flucht zu hindern.
»Kein Grund zur Sorge. Der ist vermutlich ohne bestimmten Grund auf seiner Runde bei uns vorbeigekommen. Vor ein paar Jahren war auch schon mal einer von ihnen zu Besuch. Mach bloß nicht die Pferde scheu. Die Kellertür ist gut getarnt, die findet er nicht. Außerdem kann er die Schlampen dort unten nicht hören, also lass es gut sein.«
»Mhm«, nickte Jeremy mit einem nervösen Funkeln in den Augen. An seinen Schläfen pulsierten grünlich schimmernde Adern.
»Ich gehe runter und du gehst unter die Dusche, damit es nicht aussieht, als ob du mich geholt hättest«, befahl Reinhard.
»Geht klar!«
Er angelte sich ein frisches Hemd aus dem Kasten und stieg die Treppe hinunter.
»Guten Morgen«, begrüßte er den Ranger und setzte ein überraschtes Gesicht auf. »Gibt es noch Kaffee?« Er sah sich in der Küche um, schnupperte an der Kanne, nahm eine Tasse aus dem Schrank, goss sich ein und setzte sich zu den Männern an den Tisch. Sein Blick wanderte durch den Raum, ein selbstvergessenes Tasten und blieb an einem zierlichen weißen Sportschuh hängen, der unter dem Vorratsschrank steckte.
»Guten Morgen«, erwiderte Stefan und stellte sich vor. »Dann sind sie also der Freund, der sich in den Wäldern zurechtfindet?«
»Na ja«, erwiderte Reinhard, und warf Heimo einen langen Blick zu. »Ich komme einigermaßen zurecht.«
»Ihr Freund hat mir gesagt, dass hauptsächlich sie beide die Hütte nutzen.«
Reinhard nickte abwartend und schaute wieder zu Heimo.
Er bemühte sich, nicht auf den Schuh zu starren und so womöglich den Kerl darauf hinzuweisen.
»Der Ranger geht einem Gerücht nach«, erklärte Heimo und widmete sich wieder seinem Kaffee. »Offenbar wurden in letzter Zeit ein paar tote Frauen gefunden.«
»Drei, um genau zu sein«, unterbrach ihn Stefan und beobachtete die Reaktion der Männer am Tisch, um zu sehen, ob seine Worte Wirkung zeigten. »Zwei der Frauen haben wir aus dem Fluss gezogen, eine wurde von einem Truck angefahren. Sie war fast noch ein Kind.«
Heimo und Reinhards Gesicht zeigten keinerlei Ausdruck. Arno Daniels klappte der Mund auf. Schweigen senkte sich über den Tisch.
»Ich muss leider sagen, dass wir des Öfteren Tote haben. Touristen oder Jäger, auch junge Frauen. Aber bei diesen drei Frauen handelt es sich um Personen, die sich eigentlich nicht in unseren Wäldern erholen wollten. Die aus verschiedenen Teilen des Landes als vermisst gemeldet waren. Das heißt, sie sind entführt und hierher verschleppt worden.«
»Verstehe«, sagte Reinhard und zwang seinen Blick in Richtung Fenster, weg von dem Schuh und dem Ranger, der ihn unverwandt anstarrte. Er fragte sich, ob sie ihn zu dritt überwältigen könnten oder ob er ihnen gefährlich werden würde. Der Schuh unter dem Kasten wurde für ihn immer mehr zum stummen Hilferuf.
»Sie denken, dass Leute wie wir, die sich in den Bergen aufhalten, damit zu tun haben?«
»Nein«, erwiderte Stefan ruhig. »Ich denke, dass ein Ungeheuer in den Wäldern sein Unwesen treibt, der diese jungen Frauen verschleppt, vergewaltigt, tötet und in den Bergen entsorgt.«
Es wurde absolut still am Tisch. Niemand gab eine Erwiderung von sich, weniger aus Scham oder Verlegenheit, als vielmehr in dem kollektiven Bewusstsein, dass der Ranger ihnen so nah gekommen war, wie sie es nie für möglich gehalten hätten, obwohl das nur eine Frage der Zeit war. Dann, nach einem sehr langen Moment räusperte sich Reinhard und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.
»Es sind eine Menge Leute im Wald unterwegs«, sagte er mit betretener Stimme, weil er die pochende Stille als unangenehm und gefährlich empfand. Er schaute zu Arno, der offensichtlich den Schuh entdeckt hatte und jetzt nervös um sich blickte. Draußen im Flur schlug eine Tür zu und alle Köpfe wandten sich dem Geräusch zu.
Mach bloß keinen Scheiß, dachte Reinhard.
»Mhm, und immer mehr Aussteiger, die sich Prepper nennen, in kleinen Camps versteckt. Sie verlegen ihre Camps ständig, wir wissen nie genau wo und wie viele es sind.« Stefan Kovacic streckte die Hand nach seiner Kaffeetasse aus und leerte sie in einem Zug.
»Meine Frage wäre, ob ihnen eines dieser Camps bekannt ist oder ob sie Leute kennen, die in Höhlen oder in einem dürftigen Unterschlupf hausen. Meist Gruppen von vier bis zehn Leuten. Vielleicht haben sie auch schon etwas Verdächtiges in dieser Richtung bemerkt?«
Die Männer am Tisch ließen ihre Blicke im Raum herumwandern, schauten zum Fenster hinaus, schüttelten den Kopf, aber vermieden sonst jeden Blickkontakt.
»Nein, wir sind erst seit zwei Tagen hier«, sagte Reinhard, und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Bis auf ein paar Wanderer weiter nördlich haben wir noch niemand gesehen.« Er lehnte sich zurück, streckte den rechten Arm aus und legte ihn in einer jovialen Geste auf die Lehne des leeren Sessels neben ihm.
Der Ranger erhob sich von seinem Stuhl, schob unentschlossen die Kaffeetasse hin und her und wandte sich um.
»Tut mir leid, dass ich hier einfach so aufgetaucht bin. Ich möchte sie bitten vorsichtig zu sein und uns verdächtige Vorfälle zu melden. Unternehmen sie auf keinen Fall etwas auf eigene Faust. Wer immer hier sein Unwesen treibt, ist gefährlich.«
Reinhard sprang auf, um den Blick des Rangers abzulenken. »Ich denke, wir können ganz gut auf uns aufpassen.«
Eine tiefe Falte tauchte auf Stefan Kovacics Stirn auf. »Es gibt ständig Leute, auf die man aufpassen muss, zumindest solche, die noch nicht begriffen haben, dass in unseren Wäldern Wölfe leben“, meinte er. Reinhard starrte ihn an, seine Augen wässrig, höhnisch, voller Gedanken oder Erinnerungen, die niemand erraten wollte, die Haut in den Augenwinkeln zerklüftet, wie die Berghänge an den Ufern der Tara.
Er folgte dem Ranger hinaus.
Stefan blieb einen Moment an der Tür stehen und drehte sich um, als ob er noch etwas sagen wollte, schwieg aber lauschend. Schließlich wandte er sich um, nickte Reinhard zu, und ging hinaus in den Sonnenschein, in den Wind, der in den Blättern der Eichen raschelte und den Lärm der Vögel und Insekten, die ihn wie einen Freund begrüßten.
Er nahm seinen Rucksack auf und stieg die Stufen der Veranda hinunter. Der Wind in den Bäumen ließ Schatten über sein Gesicht gleiten, die wie dunkle Geister vor seinen Füßen tanzten. Er fühlte sich ausgegrenzt, abgelehnt und sein Gesicht brannte, aber er konnte nicht sagen warum.
»Was meinst du, kommt er wieder, womöglich mit Verstärkung?«, fragte Arno leise, als sich Reinhard auf den Stuhl fallen ließ.
»Nein«, antwortete Heimo stattdessen. »Das ist bloß irgendein Scheißkerl von Parkwächter, die hier herumlaufen und auf die bescheuerten Touristen aufpassen.« Man konnte ihm die angestaute Sorge ansehen, die sein Gesicht verzerrten. So nah war ihnen noch nie ein Gesetzeshüter gekommen.
»Es sind zwei, soviel ich weiß, die das ganze Gebiet betreuen. Zwei, und einer kommt ausgerechnet zu uns.«
»Scheiße aber auch«, brummte Arno und holte den Schuh unter dem Schrank hervor.
* * *
Gerade als das letzte Blau des Himmels sich in das diffuse Grau der anbrechenden Nacht verwandelte, kam Kathalina Börnstein aus dem Hotel am Rande der Stadt, in dem sie sich mit ihrem Liebhaber getroffen hatte und ging zu ihrem Wagen. Der Schotter knirschte laut unter ihren Füßen, um den Mund trug sie ein leichtes Lächeln. Ihre Gedanken waren noch ganz bei der letzten Stunde.
»Ich vermisse dich schon jetzt«, hatte er zum Abschied gesagt und gelächelt. Nur diese Worte, aber die Worte, auf die sie gewartet hatte, weil es auch die Worte waren, die sie ihm in Gedanken ins Ohr geflüstert, in den Mund gelegt hatte. Sie hatte kein schlechtes Gewissen wegen ihres Seitensprungs. Heimo und sie hatten sich lange auseinandergelebt, waren nur noch wegen des Geldes und seinem Ruf als Familienmenschen zusammen. Ihr Liebhaber war auch verheiratet, aber sie wusste oder war sich allenfalls sicher, dass er sich scheiden lassen würde, sobald sie ihn dazu drängte.
Und die Kinder werden es begrüßen, dachte sie, und lächelte triumphierend. Sie hatte die beiden lange genug indoktriniert. Sie verabscheuten ihren Vater, auch der Junge. Er hasste ihn und seinen Job.
Ihre Nasenflügel bebten beim Atmen und bei den Gedanken an ihren Mann. Der Mund fest zusammengekniffen, hob sie den Kopf, als müsste sie ihren Gefühlen trotzen.
Der Wind wehte warm aus den Bäumen neben dem Parkplatz. Zwei Lichter tanzten auf der Zufahrtsstraße und ein Lieferwagen, aus dem es nach frisch gebackenem Brot duftete, kam aus dem hinteren Bereich des Hotels. Sie sah dem Wagen nach, bis er auf die Hauptstraße einbog und aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Kathalina öffnete die Fahrertür ihres kleinen Mercedes, setzte sich in den Wagen, schaltete in den ersten Gang, schaute in den Rückspiegel, fuhr los und rammte den Wagen vor ihr. Der Motor ruckte noch einmal und ging aus.
»Oh nein«, stöhnte sie erschrocken. »Das kann jetzt nicht wahr sein.«
Genervt setzte sie ein Stück zurück, stieg sie aus und betrachtete im Halbdunkel des Parkplatzes mit forschend abschätzendem Blick den Schaden. Die Stoßstange aus Kunststoff hatte einen Sprung, der über die ganze Länge lief und war bei dem anderen Wagen auf der rechten Seite nach innen gedrückt.
»Das hast du ja gut hinbekommen«, sagte sie und stieß den Atem aus. Die Luft kühlte allmählich ab. Sie sah sich um und überlegte, wie sie ihrem Mann den Unfallort erklären sollte. Bis auf eine Reihe von Wagen war der Platz leer. Keine Scheinwerfer von Autos, keine Menschen, die heranliefen, um nach dem Rechten zu sehen. Keine Zeugen.
Niemand, der ihr kleines Missgeschick gesehen hätte.
Das Licht vor dem Hotel wirkte kalt, mit einem blauen Schimmer, als wäre die Lampe mit Eis überzogen. Ihr Gesicht lag im Schatten. Sie hob die Hand, um die Augen abzuschirmen und schaute über den Parkplatz, von links nach rechts und wieder zurück. Langsam ging sie zu ihrem Wagen zurück, setzte sich hinter das Lenkrad und sah durch die Windschutzscheibe zu den Sternen hinauf. Eine eigenartige Gelassenheit durchflutete sie.
Dann fuhr sie vom Parkplatz weg, die Straße hinunter und bog in die nächste Seitengasse ab.
Zu Hause ging sie in das Arbeitszimmer ihres Mannes und suchte die Versicherungspolizze.
Heimo hat sie sicher im Büro, dachte sie. Aber dort wollte sie nicht nachfragen, sondern besser alles für ihn auf den Tisch legen.
»Ich habe den Schaden erst gestern bemerkt«, wollte sie ihm sagen, wenn er von seinem Egotrip zurückkam. »Keine Ahnung, wie lange ich schon damit herumfahre, also wird auch eine Anzeige sinnlos sein. Aber du kannst sicher irgendetwas machen.«
In dieser Beziehung war ihr Mann gut, er fand immer einen Ausweg für seine Freunde, wenn es darum ging, Recht zu biegen und die für ihn gerechte Ordnung wiederherzustellen.
Sie kramte in seinen Unterlagen, blätterte Ordner um Ordner durch und setzte sich schließlich frustriert an seinen Schreibtisch.
»Kann es sein, dass du den ganzen Scheißpapierkram im Büro hast?«, rief sie unbeherrscht in den Raum und spürte, wie sie die Kraft verließ. Fast unbewusst öffnete sie die Schubladen und knallte sie wieder zu, als ihr Blick auf den Papierkorb fiel. Ein langer Kassenzettel hing über den Rand, halb zerknüllt und achtlos entsorgt. Sie zog ihn heraus, musterte ihn kurz und wollte ihn schon zurückstopfen, als ihr die Adresse auffiel.
Das war doch diese Stadt in Montenegro, in der ihr Mann die Jagdhütte gekauft hatte, fiel ihr ein. Neugierig geworden las sie die einzelnen Positionen durch. Das waren Lebensmittelvorräte für mehr als drei Wochen. Ein paar alkoholischen Getränke. Drei Flaschen Schnaps, zwei Kisten Bier. Sie ließ die Hände mit dem Zettel in den Schoß sinken und schüttelte argwöhnisch den Kopf.
Undenkbar, dass er die Sachen nur für sich und seinen Freund Reinhard gekauft hatte.
Heimo hat eine Geliebte, dachte sie, und erschrak über die Erkenntnis, dass sie eine betrogene Ehefrau war. Und das seit Jahren. Jetzt konnte sie auch Ausflüchte und Vorwände zuordnen, die sie viel zu lange in den Bereich Überarbeitung und Stress abgetan hatte.
»Scheiße, die haben beide eine Geliebte in dieses Kaff mitgenommen.«
Kathalina Börnstein lächelte böse.
»Damit habe ich dich in der Hand«, sagte sie laut, um ihre Worte auch selbst zu hören. Weil sie ihnen damit Leben einhauchen konnte. »Komm du nur heim. Das wirst du bereuen!«
* * *
Ein gequältes Keuchen drang aus Vanessa Harrers Mund, als sie mit einem Rauschen in den Ohren aus den Tiefen des Schlafs an die Oberfläche kam. Sie klemmte ihre Hände zwischen die Oberschenkel, rollte sich noch enger zusammen und wehrte sich gegen das Aufwachen. Versuchte wieder einzutauchen in die dämmrige Bewusstlosigkeit, die sie einhüllte in watteweiche Entspannung, um sich davontreiben zu lassen und der Wirklichkeit zu entgehen.
Sie redete sich ein, dass es nur ein Traum war, ein schrecklicher Alptraum, aber doch nur eine Geschichte, die sich ihr Unterbewusstsein ausgedacht hatte. Ihr Gesicht wirkte blass und ausdruckslos. Sie fragte sich, wo sie war. Spürte, wie sich ihr Rücken versteifte, spürte den geballten Schmerz im Unterleib, den Armen, den Schultern, und dann war plötzlich alles vom Vortag wieder da. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und würgte. Ein Beben lief durch ihren Körper. Ihr Shirt war schweißnass und klebte auf der Haut. Sie sah an sich hinunter. Scham, Zorn und Ekel brannten in ihr, dann schluchzte sie auf, begann am ganzen Leib zu zittern und presste kleine Klagelaute hervor.
Da war dieser Kerl, der Politiker, dem sie vertraut und der sie entführt und missbraucht hatte. Er war gestern mit Essen und Flaschen mit Wasser gekommen. Sie hatten das Essen verschlungen, sich auf das Wasser gestürzt. Ausgehungert, halb verdurstet. Nicht auf die Drogen geachtet, die er ihnen verabreicht hatte, um sie zu willfährigen Geschöpfen zu machen.
Vanessa wollte schreien, sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt, verbat sich aber jede weitere Gefühlsregung. Sie hatte sich und ihre Freundinnen in diese Lage gebracht und wusste nicht, wie sie da wieder rauskommen sollten.
»Die lassen uns nicht laufen. Wir kennen einen von ihnen, die können uns gar nicht laufen lassen«, hörte sie die Stimme von Katja Teichmann auf der anderen Seite. Eine alte Stimme, von Kummer, Schmerz und tiefer Hoffnungslosigkeit geprägt.
»Was haben sie vor mit uns?«
Vanessa spürte Übelkeit hochkriechen. Die Luft war schwer und stank nach den Ausdünstungen der Mädchen, nach Schweiß und Urin. Der Raum, in dem sie sich befanden, lag im dämmrigen Halbdunkel einer nackten Glühbirne, die über dem Ausgang hing. Die Gitterstäbe gegenüber mehr zu erahnen, als zu sehen. Dahinter das bleiche Oval eines Gesichts. Jedes Geräusch weckte Angst, aber auch Hoffnung, gab ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein.
»Wie lange seid ihr schon hier?«, fragte sie in die dunklen Schatten.
»Eine Woche oder zwei, keine Ahnung, ich habe mein Zeitgefühl verloren. Mir kommt es ewig vor, aber es kann noch kein Monat sein«, erwiderte eine Stimme. Tonlos. Gesichtslos.
»Sie werden uns doch nicht an ein Bordell verkaufen?«
»Du siehst zu viele falsche Filme.«
»So was passiert immer nur den anderen, nie dir selbst.«
»Ich habe Angst, ich habe so schreckliche Angst!« Geflüsterte Worte, die eine ganze Weile in der Luft hingen, weil niemand widersprechen mochte und jede für sich dasselbe empfand. Endlich das bettelnde Weinen von Katja. »Ich will wieder nach Hause.« Sie schniefte und wischte sich mit den Händen durch das Gesicht. »Ich wollte nicht auf diesen dämlichen Ausflug.«
Vanessa zuckte zusammen. »Es tut mir leid, es tut mir so schrecklich leid. Das ist meine Schuld«, stammelte sie in das folgende Schweigen.
»Ist es nicht. Es ist ihre Schuld, es ist die Schuld dieser verdammten Wichser. Scheißkerle!«, fauchte die junge Frau auf der anderen Seite mit leichtem Beben in der Stimme.
Vanessa kroch auf allen vieren nach vor, zog sich an den Gitterstäben hoch und presste das Gesicht an das kalte Eisen. Sie erschauerte. Schräg gegenüber kauerte neben Katja ein mageres Mädchen, das teilnahmslos vor sich hinstarrte, selbstvergessen und in sich gekehrt. Geistesabwesend schloss sie die Augen, öffnete sie wieder und schaute weiter ins Leere.
»Mein Vater wird mich suchen«, sagte sie plötzlich, und Vanessa erschrak. Sie wischte sich eine Strähne aus den Augen.
»Weiß er, wo du bist?«
»Nein, wir haben uns gestritten und ich bin abgehauen. Er hat mir das Handy abgenommen, er ist ein Arschloch, aber er wird mich suchen. Das wird er. Das weiß ich bestimmt, weil ich seine Tochter bin.«
»Wie soll er dich denn finden, wenn er nicht weiß, wohin du bist.«
»Er wird sich denken, dass ich zu meiner Tante wollte. Ich bin schon mal abgehauen und zu ihr gefahren. Wo sollte ich denn sonst hin.«
»Wo lebt deine Tante?«
»In Mocra Gora, das ist in Montenegro.«
»Wir sind in Montenegro, nehme ich an. Der Scheißkerl hat uns in der Stadt mitgenommen, aber wir sind so weit Richtung Westen gefahren, dass wir vermutlich außer Landes sind.«
»Wir sind in einem riesigen Waldgebiet, wir sind ewig durch den Wald gefahren, hier findet uns niemand«, murmelte Katja stockend, als hätte sie alle Hoffnung aufgegeben.
»Er hat irgendetwas von einer Stadt gesagt«, warf Nicoletta ein.
»Das war sicher nur geredet, um uns in Sicherheit zu wiegen.«
»Mocra Gora ist in einem Wald. Mein Vater wird uns finden. Er wird keine Ruhe geben, bis er die Typen hat.«
»Wir müssen gegen sie kämpfen.« Verena Brooks ballte die Fäuste und schlug gegen die Stäbe, bis ihre Haut an den Knöcheln platzte und das Blut an den Fingern hinunterlief. Ihr Gesicht von Zorn und Verzweiflung gleichermaßen verzerrt.
»Sie werden uns töten.«
»Ich werde mich wehren. Ich mache es ihnen nicht leicht.«
»Ärgere sie bloß nicht noch mehr, sie werden uns wehtun«, jammerte Katja.
»Sie tun uns ohnehin weh. Diese Scheißkerle. Diese verdammten Scheißkerle! Sie müssen büßen. Sie müssen irgendwann für das, was sie uns antun büßen.«
»Mein Papa holt uns hier heraus.«
»Er wird uns finden,« versuchte Vanessa das Mädchen zu beruhigen. Sie fragte sich, wie lange die Kleine schon hier drin war und was sie bereits über sich ergehen lassen musste, verdrängte aber die Gedanken sofort wieder, weil sie zu schrecklich waren.
»Niemand wird uns finden. Wir sind irgendwo im finsteren Wald in einem Keller eingesperrt. Schlimmer kann es nicht kommen«, meinte Nicoletta und starrte mit ungerührter Miene in das Dunkel vor ihr.
»Es kann immer schlimmer sein«, hauchte Katja und dachte an diesen Film, den sie letztes Jahr gesehen hatte, in dem Mädchen entführt und in Bordelle verkauft wurden, wo sie von unzähligen Männern vergewaltigt wurden, bis sie am Ende menschliche Wracks waren. Vor Nichts graute ihr so sehr, als dieser Vorstellung. Sie würde lieber sterben, als dies durchzumachen.
»Hier war vor uns auch jemand eingesperrt«, flüsterte Susanna, in einem Tonfall, der Vanessa das Herz gefrieren ließ.
»Sie werden uns töten«, antwortete Katja, und wiederholte die Aussage, wie ein Mantra ein ums andere Mal, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.
»Ich will nicht sterben.«
»Bitte lieber Gott, hilf uns. Das kann doch alles nicht wahr sein.«
Dann herrschte plötzlich Schweigen. Als ob sich ein unsichtbarer Mantel aus Stille über die Frauen gelegt hätte. Die einzigen Laute waren das Knacken des Holzes über ihnen, als die Hitze des Tages, die Bohlen des Hauses trocknete.
Vanessa fragte sich, ob sie Susannas Vater tatsächlich finden und hier herausholen könnte. Ihr fiel sonst niemand ein, der sie suchen sollte. Nicht vor Ende der nächsten Woche.
Sie dachte an ihr Leben vor diesem Trip, das nur ein Blinzeln von ihrer jetzigen Lage entfernt war und doch nie wieder so sein würde wie früher, nie wieder.
* * *
An diesem Abend schlug das Wetter in Österreich um, es wurde ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. Der Himmel war dunkel und regenverhangen, der Wind blies heftig, Staubwolken trieben die Straße entlang. Am Horizont zuckten Blitze hinter schwarzen Wolken und malten orangerote Ränder, als ob die Hölle dahinter im Minutentakt blinzeln würde.
Karl Michaelis saß auf der Bank vor seinem Haus, schaute in den Garten, auf die vom Wind gepeitschten Sträucher. Ein Blatt Papier tanzte über die Wiese, wurde hochgeweht und flog über den Zaun auf die Straße. Die Luft roch nach Ozon und dem Rauch eines Feuers, irgendjemand verbrannte am Nachbargrundstück altes Laub und Abfall. Aber er hörte keinen Ton. Fast als ob Erde und Himmel die Sprache verloren hätten. Er tastete nach der Schachtel Zigaretten in seiner Brusttasche und zündete sie in der hohlen Hand an.
»Verdammte Qualmerei«, knurrte er, starrte für einen Moment auf seine gekrümmte Faust und die Glut der Zigarette, die bei jedem Windstoß aufleuchtete und verfluchte die Sucht, die er nicht in den Griff bekam. So wie er sein Leben derzeit nicht in den Griff bekam. Da war keine Perspektive. Nichts, auf das er sich freuen konnte, nichts auf das er stolz sein könnte. Nur ein beschissener Tag mehr in einem beschissenen Leben.
Seine Gedanken gingen, wie so oft in letzter Zeit zu seiner Frau, der er auch nichts bieten hatte können, die deswegen mit einem anderen Mann davongelaufen und bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Mit zusammengepressten Lippen stieß er den Rauch durch die Nase aus, hielt sein Gesicht in den Wind, der an den Haaren zerrte und steigerte sich immer mehr in seine schlechte Laune hinein.
Susanna war sein nächstes Problem. Sie wollte die Schule verlassen und sich eine Lehrstelle suchen. Eigentlich schade. Sie verschenkte ihr Potenzial und er konnte nichts dagegen machen, sie nicht überreden, nicht motivieren. Es war bedrückend. Man wünschte sich als Elternteil immer das Beste für seine Kinder, aber die spielten dann oft nicht mit.
Vom Westen zog der Regen in dichten Schleiern über die Felder und die von Weichselbäumen gesäumte Straße, die in das Dorf hereinführte und fegte durch das Licht, das aus den Fenstern hinter ihm fiel.
Karl schnippte den Rest seiner Zigarette in hohem Bogen ins Gras, ärgerte sich über seinen blöden Frust und holte sie zurück, um sie im Aschenbecher zu entsorgen.
Er war wütend auf sich, seine Situation, und weil er nicht die Kraft fand, irgendetwas in seinem Leben zu ändern. In einer hilflosen Geste ließ er die Hände zwischen die Knie fallen und den Kopf hängen. Regentropfen glitzerten in seinen Haaren und liefen ihm über den Nacken.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte er, stand auf und ging ins Haus, um Abendessen für sich und Susanna zu kochen, die er den Nachmittag, seit er zu Hause war, weder gesehen noch gehört hatte.
»Sue! Sue. Komm Abendessen, genug geschmollt.«
Eine halbe Stunde später klopfte Karl an die Zimmertür und nahm sich vor, nicht zu schimpfen. Er wünschte sich einen friedlichen Abend, wollte die Lage für sie beide überdenken, vielleicht besprechen und einen Weg finden, wenn sie nur mit ihm reden würde.
»Falls du mit deinen Hausaufgaben noch nicht fertig bist, kannst du sie auch später fertigmachen.« Er klopfte noch einmal, halbherzig, und lauschte auf die Stille im Haus. Der Regen prasselte auf das Dach, pochte an die Fenster und tanzte im seltsam orangen Licht der Straßenlaternen auf dem schwarzen Asphalt. Im Zimmer von Susanna war alles ruhig. Er klopfte noch einmal, lauter diesmal, aber sie antwortete nicht. Genervt von ihrem Verhalten wollte er die Tür aufstoßen, doch sie war versperrt. Er pochte mit der Faust dagegen, um sich Gehör zu verschaffen.
»Susanna! Verdammte Kopfhörer! Mach die Tür auf. Abendessen ist längst fertig.« Er rüttelte am Türknauf. »Was machst du da drin?« Das Blut pulsierte in seinem Hals und Karl merkte, wie sich die Aggressivität in ihm ausbreitete, Macht über sein Tun bekam, und seine guten Vorsätze kaputtmachte.
»Susanna!«, rief er mit einem Grollen, das tief aus seiner Brust kam. »Mach die Tür auf, verdammt!«
Das untere Lid seines rechten Auges war gerötet und bebte vor unterdrücktem Zorn. Er schnappte nach Luft und atmete tief aus und ein.
Ich werde ruhig bleiben, dachte er. Ich muss ruhig bleiben. Wir müssen irgendwann reden. Das geht so nicht weiter, reden können wir nur, wenn ich meine Gefühle unter Kontrolle habe.
Er ging in die Küche und holte sein Handy. Wenn sie ihn wegen der Kopfhörer nicht hörte, so würde sie zumindest seinen Anruf annehmen. Immer noch wütend hämmerte er auf das Ziffernblatt seines Handys ein, als ihm einfiel, dass er ihr das Ding gestern Abend abgenommen hatte.
»Scheiße!« Fluchend öffnete er den Schrank, durchsuchte nach und nach alle Verstecke, die er benutzte.
Leer. Nichts.
Kein Handy.
»Hast du es also wieder einmal gefunden.« Mit einem Mal fühlte er, wie der ganze Zorn der letzten Tage sich in großes graues Nichts auflöste und mit dem Wind davonzog, der an den Fenstern rüttelte.
Er war ihr nicht mehr böse.
Karl lehnte sich an den Ofen, hinter ihm kühlten die Hühnerfilets aus, die er gebraten hatte, ihr Lieblingsgericht. Die gegrillten Tomaten rochen köstlich dazu. Er schnupperte hungrig. Sein Anruf wurde sofort auf die Mailbox umgeleitet. Er seufzte müde und warf einen Blick auf die Straße vor dem Haus. Eine Frau ging eilig vorbei. Die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe klackten durch die Pfützen und ihr Regenmantel flatterte zwischen den Beinen wie ein gefangener Vogel.
Er schickte seiner Tochter eine WhatsApp-Nachricht ›Essen ist fertig. Komm bitte runter‹, stieg die Treppe wieder hoch, als sie nicht reagierte und pochte erneut an die Tür.
»Susanna! Mach die Tür auf. Bist du so stur oder bist du nicht da?«
Zögernd trat er einen Schritt zurück und kam sich ziemlich dumm dabei vor.
Natürlich, dachte er. Sie war bei ihrer Freundin. Was für ein Scheiß. Mit hängendem Kopf ging er nach unten, holte einen Schlüssel und sperrte auf. Das Zimmer war leer.
»Na gut. Wie du willst. Ich hoffe, du hast deine Hausaufgaben gemacht, bevor du abgehauen bist.«
Als Susanna gegen neun Uhr noch immer nicht zurück war und auch nicht auf seine Anrufe reagierte, wurde Karl Michaelis langsam unruhig. Er wartete bis zehn, um ihr etwas mehr Zeit zu geben und wählte dann die Nummer von ihrer Freundin Barbara. Nach dem fünften Summton wurde er auf die Mailbox umgeleitet. Er spürte den Druck im Schädel, der ihn immer überkam, wenn es Ärger gab, seinen ausgetrockneten Mund, ging zum Schreibtisch, suchte nach weiteren Telefonnummern und rief zwei Mädchen an. Von beiden erfuhr er, dass Susanna heute nicht zur Schule gekommen war. Mehr konnten sie ihm nicht sagen.
»Danke«, antwortete er beiden. »Du hast mir sehr geholfen.« Seine Knie fühlten sich weich an, in seinen Augen brannte der Schweiß. Er schloss die Faust um das Handy, bis es knackte.
Was soll der Blödsinn, Susanna, dachte er, und tippte die Nummer von Barbara in sein kleines altmodisches Klapphandy.
»Bitte geh ran.« Er gab einen undeutlichen Laut von sich.
»Ja hallo.«
»Barbara? Hier ist Karl Michaelis. Der Papa von Susanna. Sie war heute nicht in der Schule. Wenn du weißt wo sie ist, sag mir das bitte. Es ist halb elf Uhr. Ich mache mir große Sorgen. Warum auch immer sie die Schule geschwänzt hat, sie sollte längst zu Hause sein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf.« Für einen langen Moment war nur ihr Atmen in der Stille zu hören. »Sie hat mir gesagt, ich darf nichts verraten.«
Karl wischte sich mit der Hand durch das Gesicht. Sein Mund war trocken.
»Hol sie bitte ans Telefon!«
»Sie ist ... sie ist nicht da.«
»Gib mir bitte deine Mutter.«
»Die ist nicht zu Hause.«
»Okay, dann komme ich bei euch vorbei und warte vor der Tür auf deine Mutter.«
»Die schläft schon.«
Karl seufzte. Seine Ungeduld wuchs. Er wechselte das Telefon in die andere Hand, griff nach seinen Zigaretten, steckte sich eine in den Mund und inhalierte den Rauch. Gleichzeitig fragte er sich, ob er je mit dem Rauchen aufhören könnte. Er hatte es schon viele Male versucht, aber es dauerte nie länger als drei Tage, dann verwarf er jeden Grund und rauchte noch mehr als zuvor.
»Dann komme ich und wecke sie auf.«
»Susanna ist zu ihrer Tante nach Montenegro gefahren«, rief Barbara schnell, insgeheim froh, die Nachricht los zu sein, die sie den ganzen Tag bedrückt hatte.
»Scheiße, dann ist sie mit Sicherheit schon bei ihr«, entfuhr es ihm. Er bedankte sich bei dem Mädchen und drückte sie weg.
»Verdammt«, brummte er, beinahe schon wieder erleichtert, weil er seine Tochter in Sicherheit wähnte.
»Was denkt sie sich dabei?« Sie war früher mit ihrer Mutter nach Montenegro gefahren, aber noch nie allein, oder doch? Er grübelte nach und schüttelte den Kopf.
Nie allein.
Er blickte hinaus in den Regen und den Wind, der die Sträucher niederdrückte und überlegte seine weiteren Schritte. Er musste seine Schwägerin anrufen. Eine Geschichte, die ihm so gar nicht behagte. Am liebsten hätte er die Sache abgehakt und Susanna den kleinen Triumph überlassen. Nach ein paar Tagen könnte er dann nach Montenegro fahren und die Ausreißerin zurückholen.
Ohne große Worte einen Neuanfang starten.
Andererseits musste er sich vorerst nach ihr erkundigen, die Vorhaltungen seiner Schwägerin anhören und deren Vorwürfe über sich ergehen lassen. Er schloss die Augen und schluckte schwer. So wie es vielleicht ein Mann tun würde, der eines schönen Tages aufschaut und sein Haus in einer Erdspalte versinken sieht, ohne dass er etwas dagegen tun kann.
Da sich weder Susanne noch seine Schwägerin gegen Mitternacht gemeldet hatte, überwand er schließlich Stolz und Ärger. Vielleicht wollte sie ihn auch schwitzen lassen, aber seine Sorge überwog den Ärger. Er rieb sich den Mund. Seine Hand schabte über trockene Bartstoppeln, er biss sich auf die Zunge und tippte mit steifen Fingern die Nummer ein.
»Ich habe ein Problem. Susanna ist ausgerissen. Sie hat einer Freundin gesagt, sie will zu dir. Kannst du sie bitte ans Telefon holen oder ihr sagen, sie soll mich zurückrufen? Bei mir hebt sie nicht ab.«
»Hallo! Bist du das Karl? Was willst du von mir?«
Karl presste die Lippen fest zusammen. Seine Augen wurden schmal. Er wiederholte seine Bitte, stieß sie Wort für Wort hervor.
»Ich hab heute einen schlimmen Tag gehabt und bis spät gearbeitet«, antwortete Anna Markovic nach einer kleinen Pause. »Ich mach mich auf die Suche nach ihr. Sie kennt den Schlüsselcode und kann unbemerkt gekommen und überall im Haus sein. Es wird eine Weile dauern.«
Eine halbe Stunde später vibrierte Karls Telefon in seiner Hand. Er stand vor dem Fenster und schaute hinaus in die regenverhangene Dunkelheit. Beinahe hätte er Anna weggedrückt.
»Bei mir ist Susanna nicht, ich habe alles abgesucht.« Die Stimme klang verhalten, fast ein wenig unterwürfig, als hätte sie Angst er würde jeden Augenblick mit ihr zu schreien beginnen. »Vom Keller bis in die hinterste Ecke meines Hauses. Ich war im Garten und im Gartenhaus. Nichts. Sie hat am späten Nachmittag angerufen, mich aber nicht erreicht. Ich kann während meiner Dienstzeit nicht telefonieren und hab das Handy deshalb ausgeschalten.«
Anna verstummte. Das statische Rauschen des Ferngesprächs im kleinen Lautsprecher des Mobiltelefons knirschte wie nasser Sand in Karls Ohr. Sein Gesicht schien zu schrumpfen und verlor jegliche Farbe.
»Ich hab versucht sie in der Zwischenzeit zu erreichen, aber ihr Telefon ist abgeschaltet oder sie hat keinen Empfang. Wann sollte sie hier angekommen sein, hast du gesagt?«
»Sie ist heute nicht zur Schule gegangen. Ich weiß nicht, wann sie losgefahren ist«, krächzte Karl. »Scheiße, sie kann überall sein, auf irgendeinem Bahnhof herumhängen, eine Gaststätte aufgesucht haben. Sie kann sich ein Zimmer genommen haben. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Ich weiß nicht mehr weiter.«
»Beruhige dich erst mal. Sie ist groß und sieht erwachsen aus. Sie geht nicht als Kind durch. Sie ist bockig und muss sich abreagieren, was auch immer ihr miteinander hattet. Sie wird in irgendeiner Stadt abhängen, herumstreunen. Hat vielleicht den Bus versäumt. Es ist Sommer, sie wird nicht erfrieren, sie wird nicht verhungern. Sie wird spätestens morgen früh bei mir auftauchen.«
»Besser früher als später. Die Fahrt sollte lang genug sein, um wieder auf die Reihe zu kommen. Ich hoffe bloß, dass es ihr gut geht.«
»Ich melde mich, sobald ich von ihr höre«, sagte Anna Markovic und schob ein leises, beinahe unbedachtes, »Sie wird schon nicht an die Falschen geraten sein.« nach.
Karl schnaubte und starrte unverwandt zum Fenster hinaus. Das war so eine Redewendung mit der man Kindern drohte. Die im Raum schwebte, sobald ein Kind das schützende Heim verließ und von der man hoffte, dass sie niemals, unter keinen Umständen, einen selbst betraf.
Denn wenn dies jemals passieren sollte, dachte er, zieht es dir den Boden unter den Füßen weg und niemand konnte sagen, wie du darauf reagierst.
Am wenigsten du selbst.
Er fühlte sich wie ein Mann, der im strömenden Regen auf einer belebten Straße stand, mit seinen Armen wedelte und jedem den Weltuntergang prophezeite, der ihm nur lange genug zuhörte.
Am nächsten Morgen fuhr er ins Büro, ohne eine Minute Schlaf gefunden zu haben. Die Sonne war rot und heiß über den triefend feuchten Bäumen aufgegangen. Sein Gesicht in der Hitze verkniffen. Anna hatte ihn angerufen, bevor er aus dem Haus eilte.
»Nein, sie ist nicht gekommen, ich melde mich bei dir, sobald sie hier ist.« Sie wollte noch etwas sagen, aber er drückte sie weg und dachte, was es auch gewesen sein mochte, es blieb besser ungesagt.
Für Vorhaltungen war später noch Zeit.
Mittags meldete er sich ab und ging zur Polizei.
»Meine Tochter ist verschwunden. Sie wollte zu ihrer Tante nach Montenegro und ist dort nicht angekommen.«
»Hatten sie Streit?«
»Sie ist sechzehn, wir haben ständig Streit. Wegen der Schule, wegen des Handys, wegen Kleinigkeiten. Haben sie eine Tochter im Teenageralter? Dann wissen sie, wie das ist.«
Die Beamten nahmen seine und Anna Marcovics Daten auf und erklärten ihm, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um Susanna zu finden. Sie luden sich ihr Foto auf den Computer, eines, dass sie fröhlich lachend im Garten zeigte, und versuchten ihn zu beruhigen. Sie zeigten ihm all die Wege auf, die sie in Gang bringen würden und erzählten ihm von anderen Teenagern und ihren Eltern, als wäre so ein Trip eines minderjährigen Mädchens ins Ungewisse das Natürlichste der Welt. Zumindest hatte sie ein Ziel, das war mehr als die meisten jugendlichen Ausreißer je vorweisen konnten.
Nach drei Tagen, in denen Karl fast nichts geschlafen, seine Schwägerin zur Verzweiflung und sich selbst mental in die Enge getrieben hatte, war er fertig. Er stand in der Küche, schaute hinaus in den sonnendurchfluteten Garten, in dem sich die blühenden Blumen im Wind neigten. Unter den Sträuchern scharrten ein paar Amseln in der Erde, hüpften im schwarzen Federkleid mit leuchtend gelbem Schnabel zwischen Licht und Schatten umher, als plötzlich die Welt ihre Farbe verlor. Alles Bunte und Lebendige wurde grau, wie lange tot, verblichen und lief an einer staubigen Ecke zu einer blutigen Lache zusammen.
Karl konnte spüren, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Er glaubte einen Moment den Verstand zu verlieren.
Er sah felsige Schluchten und Täler, ein Haus aus Holz, Männer mit Gewehren und seine Tochter, die durch den Wald hetzte und über umgestürzte Bäume sprang. Sie stoppte an einem Abhang, unter ihr ein ruhig dahinfließender Fluss. Dann war der Spuk vorbei und der Garten strahlte wieder im hellen Sonnenlicht.
In diesem Augenblick war Karl sicher, dass Susanna an den Falschen geraten war.
Er dachte daran, dass der Gedanke an den Tod ihn nicht beunruhigte, zumindest, soweit es seinen eigenen betraf. Aber die Vorstellung seine Tochter zu verlieren, war mehr, als er ertragen konnte.
Der Mensch kennt keine schlimmere Erfahrung, als das eigene Kind zu verlieren, und ein Kind durch böse Menschen zu verlieren bereitet emotionalen Schmerz in einem Umfang, der seinesgleichen sucht.
Sie konnte natürlich überall sein, eine falsche Fährte gelegt haben. Bei Freunden untergekommen sein. Aber es lag auf der Hand, dass sie zu ihrer Tante gefahren war. Das war ein sicheres Ziel für sie und Susanna wusste, dass sie dort aufgefangen wurde, dass sie jederzeit zurückkommen konnte.
Er holte eine alte Karte heraus, wischte mit einem Handstreich alles vom Tisch und breitete sie aus. Skizzierte mit fahrigen Fingern die Route, die sie genommen haben könnte, Zug oder Bus, und markierte alle Stellen an denen sie entführt worden sein könnte. Umstiegsmöglichkeiten, längere Pausen, alles an das die Polizei vielleicht nicht dachte. Dann warf er ein paar Sachen in einen Koffer, Geld, Pass, Papiere und zog los. Die Polizei hatte ihm gesagt, er sollte nichts unternehmen, auf jeden Fall erreichbar sein.
Er schnaubte gekrängt.
Die Art von Belehrung konnten er gerade gar nicht gebrauchen. Erreichbar war er auch unterwegs, alles andere unmöglich.
Am Busbahnhof fragte er alle Fahrer, Frauen und Männer, verteilte Fotos und Beschreibung, aber niemand konnte ihm weiterhelfen. Also fuhr er weiter nach Klagenfurt, seine nächste Station, lief im Bahnhof umher, ohne Ziel, ohne Sinn. Er wusste, dass er sie hier nicht finden konnte, im Trubel und der Menge an Menschen, aber vielleicht konnte er eine Spur aufnehmen. Eine Wahrnehmung, einen Geruch, ein Gefühl. Irgendetwas, das ihm einen Anhaltspunkt gab.
Nach zwei Stunden sah er endlich ein, dass er hier nicht weiterkam und fuhr los Richtung Süden.
Am späten Nachmittag stieg er in Mocra Gora aus dem Wagen. Ihm schien, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so müde und verbraucht gewesen war. Seine Augen brannten, als hätte er Sand unter den Lidern. Sein Gesicht fühlte sich bleich und trocken wie Pergament an, er nahm seine Umgebung wie durch einen Nebel wahr.
Karl Michaelis wollte nicht zu seiner Schwägerin fahren, wollte nicht in ihrem Haus wohnen, ihren Anblick ertragen, den Vorwürfen ausgesetzt sein. Er wollte eigentlich nur noch schlafen, zur Ruhe kommen, frische Kräfte sammeln. Ihm war klar, dass er in seinem Zustand nicht mehr lange durchhalten konnte.
Antriebslos blickte auf die niedrigen Büsche am Rande der Straße, die sich im Schatten der Häuser im Wind beugten. Die Hitze ließ sie bleich und staubig aussehen. Seine Energie war verbraucht.
Angewidert von sich selbst verzog er die Miene und wandte sich nach links, der Polizeistation zu, die in einem flachen, erdbraunen Gebäude mit kleinen Fenstern untergebracht war.
Drei Männer saßen an ihren Schreibtischen und telefonierten, brüllten in die Hörer, die sie mit schweißnassen Händen umklammerten und gestikulierten wild oder hämmerten mit den Fäusten auf ihren Schreibtisch, wohl um ihre Worte zu unterstreichen.
Niemand beachtete ihn, als er die Tür aufstieß und den Raum betrat. In der Ecke ratterte und pfiff ein Faxgerät, ein viertes Telefon läutete an einem verwaisten Schreibtisch, ein hölzerner Ventilator verteilte stoisch den Rauch, der in dichten Schwaden unter der Decke hing. Irritiert blieb Karl stehen, sah von einem zum anderen und wartete.
»Wir haben sie! Wir haben sie! Hölle und Teufel, was für ein Scheißtag. Sie haben die Kids gefunden. Es geht ihnen gut.« Der Polizist, der Karl am nächsten saß, warf den Hörer aufs Telefon, schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte und ließ den Becher mit den Stiften, das Telefon selbst und einen vollen Aschenbecher tanzen.
»Sie haben die Kids gefunden. Sie haben Hunger und Durst, sind aber sonst wohlauf.« Er warf Karl einen auffordernden Blick zu. »Noch einmal gut gegangen. In diesen Wäldern darf man seine Kinder nicht allein lassen. Das hätte auch schlimm ausgehen können.«
Karl nickte still.
Der Mann verstummte. »Sie sind nicht wegen der Kids hier.« Er erhob sich und musterte Karl von oben bis unten.
»Nein. Nicht wegen der Kids. Ich bin wegen meiner Tochter hier.«
»Sie sind der Vater der jungen Frau, die mit ihrem Freund vermisst wird? Hören sie, wir haben zwei Ranger und eine ganze Handvoll Freiwilliger da draußen, die nach ihnen suchen. Die Kinder hatten oberste Priorität, das ist klar. Aber jetzt konzentrieren wir uns auf das Pärchen. Sie müssen uns einfach Zeit geben. Die Wälder sind riesig und da sind jede Menge Wanderer unterwegs. Es wird jedes Jahr schlimmer. Aber wir haben keine Raubtiere. Keine Wölfe, keine Bären. Wenn sie sich verirren, kommen sie früher oder später wieder auf einen Wanderweg und werden auch gefunden.« Der Polizist hob die Schultern und drehte beide Handflächen nach oben. In seinem Gesicht ein vertrauenerweckender Ausdruck.
»Milan«, rief sein Kollege hinter ihm und nahm die Hand vom Telefonhörer. Er lehnte sich zurück, schaute unter die Decke in den blauen Dunst und zündete sich eine neue Zigarette an. »Sie haben den Kanufahrer von heute Morgen gefunden. Er ist ertrunken. Sie bringen ihn ins Institut.«
»Ja okay«, nickte Milan, ohne Karl Michaelis aus den Augen zu lassen. »Ist ein beschissener Tag heute. Aber wir haben die Kids. Das ist doch auch schon was, oder nicht?«
* * *
»Das Mädchen war klug«, sinnierte Stefan Kovacic und lächelte verhalten. »Es war ihre Idee bergab zu gehen. So sind sie dann an den Fluss gekommen und haben dort gewartet, bis Kanufahrer vorbeigekommen sind. Wären sie weiter in den Wald gegangen, hätten wir sie womöglich erst nach Tagen gefunden. Oder auch nicht.«
»Hmmh. Haben großes Glück gehabt, die beiden«, nickte Zoran Novak und zog an seiner Zigarette. Er wirkte erschöpft. Schweiß lief ihm aus den borstigen Haaren in dunklen Bahnen den Nacken hinunter. Sie saßen in ihrem Büro beim offenen Fenster, Zoran eine Flasche Bier in der Hand und Stefan mit einem Glas Cola, in dem Eiswürfel klirrten.
»Jetzt müssen wir noch das Pärchen finden. Ich hoffe bloß, die sind einigermaßen vernünftig und laufen nicht im Kreis herum oder nach Norden, wo die Wälder undurchdringlich werden. Dort finden wir sie vielleicht nie wieder.«
»Zwei verlorene Kids, ein vermisstes Pärchen, ein ertrunkener Kanufahrer und ein angeschossener Jäger. Was für eine Woche?«
»Du hast den Kerl mit der weggelaufenen Tochter vergessen.«
»Nein, habe ich nicht! Die Tochter, die auf dem Weg hierher verschwunden ist. Die macht mir besondere Sorgen. Die könnte diesem Kerl in die Hände gefallen sein, hinter dem ich her bin.«
»Sie ist die Nichte von Anna.«
Stefan schwieg eine Weile. »Anna Markovic?«
»Ja! Und damit wird die Sache persönlich. Das Mädchen ist im Grunde eine von uns. Ein Mädchen aus dem Dorf.«
»Scheiße. Wir müssen sie finden. Milan hat ihren Vater bei Rosie untergebracht. Der ist ziemlich am Ende. Konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.«
»Was ist mit dem Pärchen? Denkst du, die haben sie auch?«
»Nein, bis jetzt waren es immer allein reisende Mädchen. Von Pärchen wissen wir nichts. Außerdem sind die beiden von hier aus mit ihrer Wanderung gestartet und wurden letzte Woche an den Wasserfällen gesehen. Das sind unbedarfte Touristen, nichts weiter.« Stefan hielt inne, rührte das Eis in seinem Glas mit dem Finger um. Im Büro war es so still, dass er die Uhr an der Wand ticken hören konnte. Vor dem Fenster sirrten die Zikaden in den Büschen. Ein Auto mit defektem Auspuff röhrte die Straße entlang und verlor sich zwischen den Häusern.
»Könnte sein, dass sie von dort aus, einen falschen Weg genommen oder die Orientierung verloren haben. Könnte auch sein, dass einer der beiden verletzt ist und sie deswegen nicht weiterkommen.« Stefan trank das halbe Glas leer, wischte mit dem Ärmel über den Mund und spuckte einen Eiswürfel in die Hand.
»Wir werden bei den Wasserfällen beginnen und dann auf die Hochebene raufgehen. Von dort kann man das Gebiet einigermaßen übersehen. Vielleicht machen sie auch ein Feuer oder geben uns irgendwelche Zeichen, damit wir sie finden.« Er beugte sich nach vorne auf die Oberschenkel und drückte den Eiswürfel in den Nacken, ließ ihn kreisen.
»Bei dem Mädchen bin ich mir sicher«, flüsterte er dabei. »Sie war auf dem Weg zu ihrer Tante und ist in einen Wagen gestiegen. Vermutlich hat sie den Bus versäumt oder es war jemand, den sie kannte, der sie mitgenommen hat. Es ist auch nicht auszuschließen, dass eine Frau dazugehört. Einer Frau vertrauen andere Frauen.«
»Das heißt, wenn sie nicht wahnsinniges Glück hat und ihnen entkommt, finden wir sie entweder im Fluss oder irgendwann unter einem Baum verscharrt«, murmelte Zoran grimmig. Sein Blick wanderte zum Fenster, in eine mondbeschienene Sommernacht, in der Grillfeuer in den Nachbargärten flackerten und das fröhliche Lachen glücklicher Menschen zu ihnen herüberdrang.
* * *
Reinhard Frost betrachtete den Boden vor ihm, wo sich die gespaltenen Hufspuren klar und deutlich in der weichen Erde abzeichneten. Es waren die Spuren von zwei Rehen, einer Geiß mit ihrem Jungen, sie begannen am Flussufer, an dem die Tiere offenbar getrunken hatten und verschwanden dann im dichten Schutz der Weiden.
Sein Blick ging nach Westen, wo die Sonne hoch über dem Bergkamm hing, der den fernen Horizont bildete. Jeremy schätzte, dass sie in rund drei Stunden untergehen würde. In Reinhards Miene lag ein nachdenklicher Ausdruck, als Zeichen von Ungeduld oder verborgenen Gedanken.
Sie hatten beschlossen, den heutigen Tag mit der Jagd zu verbringen. Nur für den Fall, dass sich der Ranger weiter hier herumtrieb und sie beobachtete. Dann sollte er sehen, dass sie ganz normale Jäger waren. Nichts sonst, nur einfache Jäger, die ihren Spaß haben wollten. Reinhard hob die Hand, zum Zeichen für Jeremy, dass er Wild entdeckt hatte.
Sie waren ein trockenes Bachbett entlanggegangen, das voller Laub lag und der Weg von umgestürzten Bäumen und Strauchwerk verstellt war. Es war ermüdend, immer wieder Baumstämme zu überwinden, über moosbewachsene Felsen zu klettern, sich durch die Sträucher einen Weg zu bahnen. Jeremys Beine wollten nicht mehr. Das Gewehr wurde mit jedem Schritt schwerer und unhandlicher, die Hitze machte ihm zu schaffen. Das verschwitzte Hemd scheuerte auf seiner Haut, seine Augen brannten vom Salz und die Brust stach beim Atmen, als wäre sie mit Glasscherben gefüllt. Die Luft war dick wie Sirup. Er fragte sich, wie lange er noch durchhalten würde und was verdammt noch mal ihn dazu verleitet hatte, mitten im Sommer auf einen Jagdausflug zu gehen? Er hatte sich das alles anders vorgestellt. Dann arbeiteten sie sich an einem steilen Hang empor und kamen für ihn völlig unerwartet an einen schmalen Fluss, nicht viel mehr als ein breites Rinnsal. Am liebsten hätte er sich der Länge nach ins Wasser gelegt.
Plötzlich erstarrte Reinhard, Jeremy duckte sich.
Oben auf den Felsen hoch über der Schlucht ging ein kühler Wind. Im Westen stand die Sonne tief am Himmel und die Luft roch nach Laubwald, dürren Gräsern und dem kalten Wasser, das tief unten am Fuß der Felswände im halb ausgetrockneten Flussbett über die Steine schäumte. Kyle Barber kletterte um eine Gruppe Felsen und suchte nach einem bequemeren Weg. Er wollte die Tara in einem schwierigen Abschnitt umgehen, war dabei immer weiter vom Pfad abgekommen, und fand sich nun an einem spärlichen Zufluss, der ihn wieder zurückführen würde. Seine Augen wanderten die Felsen entlang, als er die Rehgeiß mit ihrem Jungen am Ufer entdeckte. Vorsichtig tastete er sich am Rand des Abgrunds entlang, kauerte sich auf den Boden, sodass sich die Spitzen des steinigen Untergrunds in seine Knie und Handballen bohrten und verharrte in der Bewegung.
Lautlos hob Reinhard das Gewehr und Jeremy sah die Rehgeiß mit ihrem Kitz. Sie standen in den Weiden und blickten einen Moment direkt in ihre Richtung, reglos mit erhobenem Kopf, witterten nach links und rechts.
Anmutig und schön, mit gertenschlanken Beinen. Die Mutter war noch klein, jung und unerfahren. Sie hatte den Wind von vorne, irgendetwas irritierte sie. Aufmerksam sah sie in die entgegengesetzte Richtung, bereit unverzüglich zu fliehen.
Reinhard blickte sich um und grinste zufrieden. Sie gehörte ihnen. Selbst wenn sie fliehen würde, blieb ihr keine andere Möglichkeit, als bei ihnen vorbeizukommen. Er sah sich nach seinen Freunden um. Jeremy stand keinen Steinwurf hinter ihm. Heimo und Arno waren weiter westlich, zu hoch, um sie zu sehen, zu weit weg, um für das Reh als Gefahr zu gelten. Er gab Jeremy ein Zeichen und hob das Gewehr, bereit zu schießen, wollte ihm aber offensichtlich den Vortritt lassen.
In diesem Augenblick erkannte Jeremy, wie sehr der Politiker, Reinhard Frost das Gefühl der Macht und der Überlegenheit genoss. Zögernd schüttelte er den Kopf und schaute zu, wie sich Reinhards Mundwinkel abfällig verzogen. Er wollte die Geiß nicht erschießen. Nicht, solange sie ein Kitz führte. Das war nicht recht.
Reinhard zielte sorgfältig, gab ihr eine vermeintlich letzte Chance zu fliehen und drückte ab.
Der Schuss war ohrenbetäubend. Unwillkürlich duckte Kyle sich tiefer.
Das Reh riss den Kopf in die Höhe, ihr Fell zuckte in einem nervösen Aufflackern, dann schienen die Hinterbeine nachzugeben. Sie schwankte und versuchte von der Stelle zu kommen, sank auf die Knie und brach endlich nieder, die Augen anklagend auf Jeremy gerichtet. Das Kitz lief ein paar Sprünge davon und verharrte, mit einem Blick auf die Mutter, sprang zurück, stupste sie an und verschwand dann in den Weiden.
Reinhard senkte das Gewehr und lächelte. In seinen Augen lag der seltsam leuchtende Ausdruck grimmiger Zufriedenheit. Jeremys Gesicht wirkte im Schatten blass und ausdruckslos. Er wischte sich ein paar Gelsen vom Hals und dachte für sich, dass der Tod in der Natur stets gegenwärtig war. Hoch über ihm hörte er die Blätter im leisen Wind rascheln und schaute nach oben. Ein Schwarm Krähen flog von den Bäumen auf und formierte sich am Himmel, drehte ab und flog weiter nach Norden.
Dann war der Wald wieder ruhig.
Jeremy ging zu der Rehgeiß.
»Glück gehabt«, murmelte Reinhard und schaute auf das kleine Loch im Fell des Tieres. »Ich bin mit dem Fuß weggerutscht und dachte schon, ich hätte sie verfehlt. Aber sie hat zum Sprung angesetzt und die kleine Abweichung, die ihr das Leben hätte retten können, ins Gegenteil verkehrt.«
»Warum hast du das Kitz nicht geschossen. Es wird ohne die Geiß nicht überleben.«
»Den Schuss wollte ich dir überlassen.«
»Du bist vor mir gestanden, wie hätte ich schießen können?« Er starrte Reinhard verwirrt an. Sein Nacken glänzte vor Schweiß.
Hinter ihnen war das knarzende Geräusch von schweren Tritten über Geröll zu hören. Jeremy trat einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf und blieb stillstehen. Ein Zucken huschte über sein Gesicht, während sein Blick die Anhöhe nach den Freunden absuchte und an den Umrissen der Männer hängen blieb, die sich vor der schräg stehenden Sonne abhoben.
Sie tauchten zwischen den Bäumen auf, hatten aber Kyle nicht bemerkt, ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Tier gerichtet. Er senkte den Blick und wandte sich ab. An seinen Schläfen pochten kleine grüne Adern. Er versuchte sich keine Gemütsregung anmerken zu lassen, aber seine Miene war wie versteinert, als er in die dunklen Schatten der Bäume zurückwich.
Heimo und Arno kamen den Hang herunter. Unter ihren Sohlen knackte der trockene Boden.
»Wir haben eben beschlossen, zum Fluss zu gehen, ihm eine Stunde weiter hinauf zu folgen und dann umzukehren, als wir euren Schuss gehört haben.«
»Ein schönes Stück. Sollen wir euch helfen oder schafft ihr das allein?«, grinste Arno und schaute auf die Rehgeiß, die in einer grotesken Verrenkung vor ihnen lag. Jeglicher Anmut beraubt.
»Ich mach das schon!«, knurrte Reinhard. »Ich schneide nur die besten Stücke heraus und lasse den Rest für die Kojoten liegen. Es ist von hier aus nicht mehr weit zur Hütte. Wir sind einen großen Kreis gegangen. Das ist keine halbe Stunde zu gehen.«
»Ich helfe dir«, bot sich Jeremy an.
»Danke nein. Du kannst gerne mit den anderen den Fluss hochziehen, vielleicht habt ihr noch Glück und kommt zu einem Abschuss.«
Erleichtert lief Jeremy hinter den anderen her und Reinhard beugte sich über das tote Tier und brachte sein blutiges Werk zu Ende.
Sie fühlten sich offensichtlich allein in dem großen Waldgebiet oder es war ihnen völlig egal, ob sie beobachtet wurden, dachte Kyle. Aber er wollte nicht entdeckt werden, ohne selbst zu wissen, warum. Es gab keine Reviergrenzen, jeder durfte jagen, wo immer er wollte, hatte ihm der Mann in dem Laden versichert. Er senkte den Kopf, sodass der Rand seines Hutes das Gesicht verbarg und schob sich hinter einer mächtigen Kiefer hoch.
Der Jäger, der seine Hände tief in das Reh gesteckt hatte, streckte sich, hob den Kopf, die Augen nach innen gerichtet. Kyle trat zur Seite, um eins zu werden mit dem Baum und unsichtbar. Die Männer sprachen davon, dem Fluss zu folgen, also entschied er sich, für eine Weile in den Wald zu gehen. Er würde weiter oben ein Lager im Unterholz suchen und morgen wieder zum Fluss stoßen.
Hinter ihm dehnte sich kilometerweit der Wald, endlos, menschenleer, hier und da durchbrochen von trägen dahinfließenden Bächen, die meisten fast oder vollständig ausgetrocknet. Ein Bussard mit vom Wind zerzausten Gefieder, der Schnabel blutbefleckt, die Augen rund, wie dunkle Punkte auf goldenem Flitter, ließ sich vor ihm auf einem grün bemoosten Ast nieder. Er breitete die Flügel aus und krächzte zornig. Ruckte mit dem Kopf und öffnete und schloss die Klauen.
Ich bin der Eindringling, dachte Kyle, schaute zur Seite, schlug einen Bogen und wich ihm aus, um ihn nicht zu stören.
Nach einer Stunde Fußmarsch, in der er keinen geeigneten Platz zum Übernachten gefunden hatte, traf er auf einen unbefestigten Fahrweg. Neugierig folgte er ihm und fragte sich, ob dies ein wenig benutzter Weg von Holzfällern war. Dann würde er früher oder später auch auf eine Lichtung treffen. Der Wald roch nach Kiefernharz, Mäusen, die unter dem Laub das Weite suchten und Kupfer, das sich in der Hitze wellte. Eine weitere halbe Stunde später mündete der Weg in eine Lichtung, dahinter ein geräumiges Blockhaus, in einer Größe, die er hier nicht erwartet hätte. Vier dunkle Wagen standen in einer Reihe unter den Bäumen im Schatten, wie geheimnisvolle Wächter einer entfernten Zivilisation.
Die Jäger, dachte er, und trat ins fahle Licht der Abenddämmerung. Er ging über das verdorrte Gras und achtete auf eine Bewegung hinter den Fenstern.
»Hallo, ist jemand zu Hause!«
Kyle richtete den Blick auf das Haus und die vom Wind zerzausten Bäume vor dem zinnoberroten Himmel. Ein seltsames Wehklagen lag in der Luft. Er stoppte einen Moment, ging dann in einigem Abstand am Haus vorbei und schaute sich um. Neben einer kleinen Scheune waren verwitterte Eichenholzpfähle aufgeschichtet, die zugespitzten Enden zeigten zur Wand. Das Tor war halb offen. Ein Windrad klapperte träge, änderte ein- ums andere Mal die Richtung, als könnte es sich nicht entscheiden. Kyle kratzte sich mit dem Finger an der Wange und lauschte in die Stille des Waldes. Er versuchte das vielstimmige Gezwitscher der Vögel auseinanderzuhalten, horchte auf das Brummen der Insekten und wartete. Dann setzte das Wehklagen wieder ein, doch bevor er eine Richtung oder einen Grund erkennen konnte, startete im Dunkel der Scheune ein Generator und übertönte mit seinem tiefen Brummen alle anderen Geräusche. Nach langen Minuten des Lärms war alles wieder still. Beinahe, als hätte die Maschine jegliche Geräusche aus der Luft gefiltert, um damit eine Batterieladung Strom zu erzeugen.
Kyle wartete, bis der Wald wieder erwachte, sich das Summen, Zwitschern und die schrillen Rufe der Zikaden wieder über die Lichtung legten, sah sich dann um.
»Hallo, ist hier jemand?«, rief er durch das offene Tor. Er wollte nicht in die Scheune gehen. Das kam ihm ungebührlich und neugierig vor. Deshalb ging er nach vorne, stieg die Stufen zur Veranda hoch und klopfte an die Haustür, doch niemand öffnete ihm.
Nach einer Weile ging er den Weg zurück, im Rücken das bohrende Gefühl, als ob ihn jemand beobachten würde. Für einen Augenblick hatte er gedacht, einen Schatten hinter den Fenstern gesehen zu haben. Vielleicht war doch jemand im Haus und froh, dass er wieder ging.
Er unterdrückte den Wunsch, sich umzudrehen.
Ich bin bloß ein Wanderer, dachte er, und hab zufällig das Haus gefunden. Aber eigentlich will ich weder Unterhaltung noch Herberge. Es wäre anmaßend von mir, mich hier näher umzusehen. Menschen bauten ihre Siedlungen an Kreuzungen von Handelswegen, Seen oder Flüssen. Dort wo auch andere Menschen unterwegs waren. Wer sein Haus mitten in den Wald baut, sucht Abgeschiedenheit.
Er zuckte mit der Schulter, scheuchte ein paar Fliegen von seiner Stirn und tauchte einen Augenblick später zwischen den Bäumen unter. Er hatte Zeit und kein Ziel. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde er eine Lagerstelle finden, weit genug entfernt von den Jägern, um nicht unbeabsichtigt von ihnen entdeckt zu werden.
Hinter ihm war wieder das Wehklagen des Mädchens zu hören, das ihr Leid in die Enge ihres Gefängnisses schrie. So laut, dass ihr Schrei durch die Lüftungsrohre nach draußen drang.
Aber da war nur der Wind, der ihren Kummer davontrug.
Niemand sonst, der sie hören oder ihr helfen könnte.
* * *
Am Abend kamen die Männer zum Haus zurück und brieten die Filets, die Reinhard aus der Geiß geschnitten hatte. Heimo schwenkte die Bratpfanne, gab großzügig Pilze, Speck und Gewürze dazu und goss flüssige Butter darüber. Arno schälte die dampfenden Kartoffel und überwachte das Tiefkühlgemüse, das in einem Topf garte. Reinhard füllte die Gläser mit Whiskey und Jeremy deckte den Tisch.
Sie erzählten sich dreckige Witze, Anekdoten aus ihrer Jugendzeit, übertrieben schamlos in sich überschlagender Begeisterung und lachten laut und herzlich. Froh, unter sich zu sein, ohne die bohrenden Blicke und wütenden Mienen ihrer Frauen, wenn sie ein bisschen Spaß haben wollten.
»Unser Proviant geht schneller zur Neige als gedacht. Die Girlies putzen eine Menge weg«, meinte Reinhard und schaute stirnrunzelnd in den Vorratsschrank. Aus dem großen Zimmer dröhnte laute hämmernde Musik, Jeremy tat, als spielte er die Bassgitarre dazu und hüpfte mit einem Besen unter dem Arm um den Tisch herum.
»Wir sollten uns allmählich überlegen, wie wir sie loswerden können«, rief Heimo laut, und warf einen Blick über die Schulter auf Arno.
»Hmmh«, nickte er und hob den Kopf. Er holte eine gusseiserne Pfanne unter dem Ofen hervor, warf die Kartoffel hinein, gab Butter dazu und streute Salz darüber. Geschickt schwang er die Pfanne, um die Kartoffel in der zerlassenen Butter zu schwenken. Er nahm sein Glas, musterte Reinhard und trank einen großen Schluck Whiskey. Das Zeug brannte in seiner Kehle. Er wischte sich über den Mund. Im Zimmer drüben war die Musik verstummt, nur noch das Poltern von Jeremys Stiefeln zu hören.
»Wir sollten sie auf die Jagd mitnehmen. Sie könnten bei einem Jagdunfall ums Leben kommen«, sagte Arno und grinste böse. Reinhard und Heimo wechselten einen schnellen Blick.
»Du denkst, es ist ein großer Wald da draußen. Da könnte alles Mögliche passieren«, sagte Heimo und beugte sich nach vorne, schnupperte an den Filets. Seine Worte hingen bedeutungsschwer in der Luft und für eine Weile war nur das Summen einer dicken Fliege unter der Decke zu hören.
»Wir könnten sie loslassen und eine kleine Fuchsjagd veranstalten«, setzte Arno nach, der ahnte, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Er blies die Backen auf, wie ein Frosch und blickte gedankenverloren ins Nichts. Es war nicht das erste Mal, dass sie ein Mädchen loswerden wollten.
»Die Rothaarige als Fuchs, das nenne ich eine gute Idee«, nickte Reinhard und lachte laut. Ein aufgesetzter Ton. »Könnte von mir sein.« Er schüttelte den Kopf, schaute einen langen Moment in sein Glas und ließ dann den Whiskey durch seine Kehle laufen.
»Wir bringen sie nach Norden, dort gibt es keine Wanderer, die uns zufällig über den Weg laufen. Sie bekommt einen Vorsprung und damit nichts aus dem Ruder läuft, verpassen wir ihr einen Peilsender, den ich in ihren Schuh einbaue.« Heimo lächelte mit strahlend weißen Zähnen. Seine Augen wanderten um Zustimmung heischend zwischen Arno und Reinhard hin und her. Für Arno die Gewissheit, dass diese Jagd nicht die erste dieser Art war.
Scheiße, die Typen sind abgebrühter als ich dachte. Er kniff die Lippen zusammen und starrte Reinhard an. Sein Pulsschlag dröhnte ihm in den Ohren und er merkte überrascht, dass ihn das Jagdfieber gepackt hatte. Dabei war es gar nicht die Jagd an sich, die ihn erregte. Das Laufen und Aufspüren, das Hetzen. Es gehörte zum Spiel. Es war das Töten selbst, das ihn seit jeher faszinierte.
Nicht so sehr der Akt, als der Augenblick in dem die Opfer endgültig akzeptierten und erkannten, dass es jetzt so weit war, dass das Ende unausweichlich und unmittelbar bevorstand, und dass sie nichts, aber auch gar nichts retten würde. Wenn alles gut geplant ausgeführt wurde, könnte es sogar zu der bizarren Situation kommen, dass die Beute, derart gepeinigt, buchstäblich um ihre eigene Hinrichtung flehte. Bis jetzt hatte er dieses Gefühl nur durch das Töten von Tieren gekannt, in ihren Augen gelesen. Er atmete vorsichtig aus.
Das könnte sogar spannender werden als der Spaß im Keller, dachte er, und wendete mit einem kräftigen Schwung der Pfanne, die Kartoffel.
Während und nach dem Essen tranken sie viel, lachten und stachelten sich gegenseitig auf, dann gingen die Männer in den Keller. Die Mädchen lagen halb bewusstlos, von Drogen umnebelt in ihren Käfigen. Unfähig sich zu wehren, willenlos, den vom Alkohol und durch die Aussicht auf die Jagd, völlig enthemmten Kerlen ausgeliefert. Auch Susanna wurde diesmal nicht verschont.
* * *
»Wir nehmen ihr Handy mit, bis wir irgendwo Empfang haben und werfen es in den Wald, als hätte sie es verloren. Dann haben sie eine letzte Peilung entlang eines Wanderweges, falls sie überhaupt jemand anpeilen sollte, danach ist sie verschwunden.«
»Du denkst wirklich an alles.«
»Ich möchte nicht ins Gefängnis, deshalb achte ich auf die Kleinigkeiten.« Heimos Gesicht umwölkte sich, seine Augen funkelten Jeremy einen Augenblick bösartig an, dann sog er prüfend die Luft ein. Er hob seine Tasse Kaffee zum Mund und trank in kleinen Schlucken. Draußen vor dem Fenster brach die Abenddämmerung herein, die Schatten der Eichen fielen auf die Lichtung und malten dunkle Inseln ins ausgebrannte Gras. Für einen Augenblick sehnte Heimo sich nach der melancholischen Ruhe, die er vor Jahren empfunden hatte, als er die Hütte noch allein bewohnte.
»Wir haben drei Stunden, bis es dunkel ist. Eine halbe Stunde Autofahrt, eine halbe Stunde Vorsprung für sie und eine Stunde für die Jagd. Wenn sie bis dahin durchhält, wird es spannend. Dann kommen wir in die Nacht.« Er schloss für einen Moment die Augen, dann öffnete er sie wieder und schaute Arno und Jeremy an. Nach einem kurzen Schweigen nickte Arno.
»Können wir sie nicht einfach laufen lassen?«, fragte Jeremy. Seine Stimme war leise und in seinen Augen flackerten Skrupel, nur um sofort wieder starr zu werden. »Sie kennt uns nicht, ist ständig unter Drogen. Was soll schon passieren?«
»Nein«, flüsterte Heimo und schüttelte langsam den Kopf. »Oder willst du in einem montenegrinischen Gefängnis verrotten. Du hast deinen Spaß mit ihnen gehabt. Hab auch weiter ein bisschen Spaß, okay?«
»Ich ... ich weiß nicht, ob ich das bringe.« Seine Hände umklammerten die Oberschenkel, er blickte zum Fenster hinaus, dann wieder auf Heimo. Seine Nasenflügel bebten beim Atmen.
»Du bringst das, vertrau mir! Du willst doch nicht, dass sie zu Hause erfahren, was wir hier machen. Also vielleicht nicht alles, bloß das mit den Mädchen.«
»Scheiße, nein!« Sein Gesicht wirkte schmal und blass.
»Na also.« Heimo trank den Rest des Kaffees aus, griff nach seinem Gewehr, das er neben sich an den Tisch gelehnt hatte und erhob sich. »Reinhard ist mit ihr raus. Es kann losgehen.«
Arno und Jeremy folgten ihm schweigend.
Eine halbe Stunde später hielt Reinhard den Wagen an und schaute im Rückspiegel auf das Mädchen, das blass und klein zwischen Arno und Jeremy saß. Trotz der Klimaanlage breiteten sich dunkle Schweißflecke unter ihrer Achsel aus. Jeremy drückte sich an die rechte Seite des Wagens, hielt so viel Abstand von dem Mädchen, wie es ihm möglich war.
»Wir lassen dich laufen«, sagte Heimo Börnstein, und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
»Bitte, ich will wieder nach Hause.«
»Ich meine es ernst, Verena. Du heißt doch Verena, nicht wahr?«, sagte er, und sein Lächeln verschwand.
»Ja, ja. Ich heiße Verena, Verena Brooks. Ich will wieder nach Hause.« Sie hatte Angst, schreckliche Angst. Ihre Wut war verbraucht, ihr Hass in Abscheu auf sich selbst umgeschlagen. Die Männer hatten sie gestern Nacht geschlagen, missbraucht, benutzt, in die Kiste gesperrt und vor einer Stunde herausgezerrt und in den Wagen gesetzt. Sie hatten etwas vor, das war klar. Aber alles war besser, als unten im Keller im Gitterkäfig zu hocken und zu warten, bis ihre Peiniger kamen. Nicht ahnend, ob sie nur für Verpflegung sorgten oder über sie herfielen und Sachen machten, die sie vor Grauen zittern ließen.
»Mhm, wir lassen dich laufen. Du bist frei und kannst gehen, wohin du willst«, sagte Reinhard Frost mit unbeweglicher Miene. Sein Blick stur in den Wald vor ihm und auf nichts Bestimmtes gerichtet.
Verenas Augen schwammen in Tränen, in ihrem Gesicht widerspiegelten sich Unglauben und das Misstrauen, das sie für Heimo und seine Freunde empfand.
»Du kannst nach Hause. Ich kann dich aber nicht in der Stadt aussetzen, das verstehst du doch. Du würdest sofort zur Polizei gehen und ihnen sagen, wer wir sind.«
»Ich werde nichts sagen, ich werde nichts verraten, ich verspreche es.«
»Das ist mir zu unsicher«, unterbrach sie Heimo freundlich. Im Ton, als würde er ein bockiges Kind zurechtweisen. » Wir
bringen dich an einen Ort, wo du eine Weile brauchst, um wieder unter Menschen zu kommen. Bis dahin sind wir außer Landes und du kannst denen erzählen, was du willst. Es wird dir keiner glauben. So einfach ist das.«
»Werfen wir die Schlampe einfach aus dem Wagen und verschwinden von hier«, brummte Arno Daniels und musterte das Mädchen von der Seite. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Regungslos verharrte sie, versuchte nicht an den Männern anzustreifen.
»Lass ihr Zeit. Ich habe ihr eine Chance versprochen, die soll sie bekommen.«
Verenas Kopf ruckte herum. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit trübten ihren Blick. Sie dachte daran, dass er ihr die Freiheit versprochen, sie ihm aber nicht geglaubt hatte, und nun klammerte sie sich an diesen Strohhalm, der ihr dargeboten wurde. Wer glauben will, nimmt was er bekommen kann, und sei es Unmögliches.
Sie sperrte die Augen auf, um die Tränen zurückzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Sie fluteten ihre braunen Augen und rannen wie kleine Bäche über ihre Wangen. Ihre Gedanken gingen zu den anderen Mädchen, die im Keller zurückgeblieben waren, sie zitterte und zuckte am ganzen Körper.
»Mach dir keine Sorgen um deine neuen Freundinnen«, sagte Heimo weiter freundlich, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, stieg aus, als Reinhard anhielt und öffnete die hintere Wagentür. »Sie bekommen die gleiche Chance wie du. Wir können euch natürlich nicht gemeinsam freilassen. Jede von euch wird in einem anderen Teil des Landes ausgesetzt. Damit stehen die Möglichkeiten uns zu finden, für euch ziemlich schlecht.«
Ein Schwall heißer Luft drang in den Wagen, die Sonne heizte das Innere zusätzlich auf.
»Los gehts, Darling.« Arno stieß sie in die Seite und kletterte aus dem Wagen. Er blieb eine Weile hinter der geöffneten Tür stehen. Verenas Gesicht war schweißbedeckt und grau, wie festgewurzelt blieb sie sitzen, stumm vor Angst, die sie in Wellen überfluteten.
»Steig aus! Letzte Chance, oder willst du lieber wieder zurückfahren?«, rief Arno und steckte den Kopf in den Wagen, aber Verena starrte nur geradeaus.
»Aussteigen!«
Sein heftiger Wutausbruch ließ sie blinzeln. Umständlich rutschte sie zur Seite und stieg aus. Ihre Knie zitterten unkontrolliert. Hoch in den Wipfeln der Bäume waren die zornigen Rufe eines Eichelhähers zu hören, eine Traube Mücken schwirrte um die Köpfe der Männer und stürzte sich sofort auch auf sie. Unwillkürlich schlug sie um sich und fuhr mit den Händen durchs Gesicht.
»Du bist frei und kannst hingehen, wohin du willst.« Heimo deutete mit einer großzügigen Handbewegung in die Runde. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, inmitten von hohen Bäumen, deren Wipfel sich in einer sanften Brise wiegten.
Verena bekämpfte die in ihr aufsteigende Hysterie, kam wieder zu Atem und versuchte ihrer Stimme einen festen Ton zu verleihen. »Wie soll ich hier irgendwohin finden? Ich habe doch keine Ahnung, wo ich bin.«
»Innerhalb von fünfzehn Kilometern ist in jeder Richtung eine Stadt, ein Dorf oder eine Straße, die dort hinführt. Du musst dich nur entscheiden, welche du wählst«, antwortete Reinhard von der anderen Seite. Seine Stimme war kalt. Er war in den Schatten der Bäume getreten, schaute zu Boden und grinste. »Es gibt allerdings eine kleine Einschränkung.«
Verena erschauerte. Sie wusste, dass jetzt ihr Urteil gefällt wurde. Das Spiel war vorbei. In ihrem Magen breitete sich ein kaltes Gefühl aus. Diese Kerle würden sie nicht einfach gehen lassen. Sie hatten noch irgendetwas mit ihr vor.
»Wir werden versuchen, dich einzufangen. Schaffst du es zu entkommen, bist du frei. Holen wir dich ein, kommst du wieder in den Käfig.« Arno öffnete den Kofferraum, holte zwei Gewehre daraus hervor und warf eines davon Jeremy zu, der es geschickt auffing und sie mitleidig anschaute.
»Wir geben dir eine Stunde Vorsprung«, erklärte Heimo und zeigte mit dem Finger auf sie. »Eine Stunde sind in diesem Gelände drei Kilometer. Wenn du dir Mühe gibst, bist du am Abend frei, sonst gehörst du für immer uns.«
Sie musterte sein Gesicht. Ein Lächeln zog einen Mundwinkel nach unten.
»Ihr widerlichen Scheißkerle«, brach es aus ihr heraus.
Plötzlich waren der Zorn und die Verachtung wieder da, die sie im Käfig hatten überleben lassen. Es war, als hätte sie eine kräftige Ohrfeige bekommen, die sie wieder zur Besinnung brachte.
»Für all das werdet ihr bezahlen. Ich weiß nicht wie oder wann, aber ihr werdet bezahlen. Alle vier. Ihr seid nichts als Abschaum und ich wünsche euch einen langsamen, grässlichen Tod.« Sie schaute von einem zum anderen und dann wieder auf Heimo, wollte ihn anschreien, nach den anderen Mädchen fragen, die vor ihr im Keller waren, hatten sie es geschafft? Aber das alles würde an ihm abprallen. Fieberhaft überlegte sie, ob sie davon gelesen hatte, dass es jemand gab, die entkommen waren, aber sie las nur selten Zeitungen, interessierte sich nicht für Nachrichten.
Ein Fehler?
Ihre Gedanken wirbelten im Kreis und vor ihren Augen trieben dunkle Schleier. Sie war untrainiert, ein Stadtmensch. Sie würde sich verirren, hatte keine Chance.
Reinhard griff in den Wagen und hielt ihr eine Flasche Wasser vor die Nase. »Nimm«, sagte er und senkte die Stimme. »Du wirst es brauchen.«
Sie griff danach und wollte ihm gleichzeitig die Flasche an den Kopf werfen. Dann straffte sie die Schultern, spuckte mit aller Verachtung, die ihr möglich war, vor ihm auf den Boden, drehte sich um und ging auf den Wald zu.
»Lauf Mädchen, die Stunde hat begonnen.«
Arnos Gewehr krachte, aber sie zuckte nicht zusammen. Sie wusste, dass er nicht auf sie schießen würde.
Noch nicht.
Er war nur wie ein böses Kind, das ihr ein bisschen Angst einflößen wollte, bevor er sie jagen durfte, um seine eigenen Ängste zu unterdrücken.
Sobald sie im Wald hinter den Bäumen und außer Sicht war, warf Verena einen Blick zurück, duckte sich unter tief stehenden Ästen durch und rannte los. Sie folgten ihr nicht, das wusste sie, doch nach wenigen Schritten spürte sie ihr Herz trommeln und japste nach Luft. Sie konzentrierte sich auf das Geräusch ihrer Schritte und rannte, die Augen auf den laubbedeckten Boden vor ihr gerichtet, bis sie völlig außer Atem war. Keuchend blieb sie stehen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen, schraubte mit zitternden Fingern den Verschluss von der Flasche, als ihr einfiel, dass Drogen im Wasser sein könnten. Angewidert warf sie die Flasche weg. Sie war nutzlos.
Ich werde im Kreis laufen, ich werde verdursten, ich werde mir ein Bein brechen und liegen bleiben, dachte sie verzweifelt und schaute gehetzt nach hinten. Noch war nichts von ihnen zu hören oder zu sehen, aber sie würden kommen, das war klar.
»Verdammt, sie dürfen mich nicht kriegen!«, stöhnte sie, lief weiter, änderte spontan die Richtung und bahnte sich ihren Weg durch dicht stehende Sträucher, die sie festhalten wollten, und jungen Bäumen, deren eng stehende Zweige nach ihr griffen. Sie stolperte über einen umgestürzten Baumstamm, schlug der Länge nach hin. Ein Aststummel bohrte sich in ihre linke Seite, sie schrie vor Überraschung und Schmerz auf. Erhob sich schwankend auf alle viere und sah mit wildem Blick um sich, Tränen verzerrten ihr Bild. Sie sammelte alle Kräfte, hielt den Atem an, sprang hoch und hastete weiter.
Das Stadtkind in ihr wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, aber die Angst trieb sie vorwärts. Sie spürte ein Stechen in ihrer linken Seite, ausgehend von der frischen Wunde und drückte mit der Hand darauf. Blut lief ihr zwischen den Fingern hervor. Klebrig und feucht.
»Das hat mir gerade noch gefehlt«, keuchte sie, verharrte kurz und versuchte im Halbdunkel des Waldes einen Blick darauf zu werfen. Ihr T-Shirt war auf der Seite drei Fingerbreit zerrissen, blutig, verschmutzt, aber sie konnte sich jetzt nicht darum kümmern.
Sobald ich Wasser finde, muss ich das auswaschen, dachte sie, und ärgerte sich im selben Moment, dass sie die Flasche weggeworfen hatte, aber ein Umkehren und Suchen war unmöglich.
Sie drehte sich herum und lief weiter über laubbedecktem Boden, wich dicken Wurzeln und herumliegenden Ästen aus. Im Unterbewusstsein nahm sie den süßlichen Geruch von Verwesung wahr, konnte ihn aber nicht zuordnen.
Plötzlich spuckte der Wald sie aus und sie fand sich auf einem überwucherten Weg wieder, den wohl Holzfäller vor langer Zeit benutzt hatten. Sie überlegte einen Moment über die Wiese, die vor ihr lag, ins offene Gelände zu laufen, entschied sich dann aber dagegen, rannte die Fahrspuren neben dem Wald entlang, in der Hoffnung, dass sie auf eine bessere Straße führen würden.
Der Weg wurde schmäler und steiler, führte wieder zwischen die Bäume, bis er schließlich so abschüssig war, dass Verena seitwärts gehen und sich an Ästen festhalten musste, um nicht zu stürzen.
Hier kann doch unmöglich jemand fahren, dachte sie, und mühte sich abwärts, mit Beinen, die schmerzten und zitterten. Die letzten fünfzig oder sechzig Meter war der Boden durch Regen und Schnee bis zum Fels abgeschliffen und sie musste seitlich in den Wald, um zwischen dem Gestrüpp Halt zu finden. Der Weg verlor sich schließlich im dichten Wald. Schweiß rann ihr in Strömen über Stirn und Wangen, das Salz brannte in ihren Augen und brachte sie zum Tränen. Vom Unterholz behindert, verlangsamte sie ihre Schritte und wischte sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts den Schweiß ab.
Nichts. Kein Weg mehr, kein Pfad, der irgendwohin führte, keine Menschen, keine Hilfe.
Ich habe nichts außer meinem Verstand und meine fünf Sinne, schrie sie in Gedanken und betete inständig, dass dies ausreichen würde.
Verzweifelt kämpfte sie sich weiter, um nach einer gefühlten Stunde haltzumachen. War das wirklich erst eine Stunde? Sie hatte keinerlei Bezug mehr zu Zeit und Entfernung und konnte nicht mehr weiter. Ihr Herz raste, die Lunge pumpte heiße Luft in ihre Brust, die sich anfühlte wie mit scharfen Messern gespickt. Feurige Räder tanzten am Rand ihres Sichtfeldes. Sie hielt an, beugte sich vor und stützte keuchend die Hände auf die Knie. Verena war noch nie so erschöpft, hatte sich nie schlimmer gefühlt.
Aus ihrer Kehle brach ein trockenes Schluchzen, die Wunde an ihrer Seite pochte, noch immer sickerte Blut heraus. Sie horchte auf ihre Jäger, ein Geräusch von brechenden Ästen, schweren Schritten oder Rufen, aber da war nichts.
Weder zu sehen noch zu hören.
Hatten sie ihr tatsächlich eine Chance gegeben? War sie vielleicht schon länger unterwegs als gedacht? Hatte sie die Schweine abgehängt? Oder wurde sie vielleicht nicht verfolgt, wollten sie nur, dass sie sich abhetzte, in ihrer Panik selbst verletzte und zu Tode kam?
Sie schaute nach der Sonne, die tief in den Ästen des Waldes vor ihr stand und in nicht allzu langer Zeit vollständig verschwunden sein würde und lachte. Ein hysterischer Ton, der keine Erleichterung brachte. Dann wechselte sie ein weiteres Mal die Richtung und lief nach Süden, bergab, weil es leichter ist zu laufen war.
Langsamer jetzt.
Völlig erschöpft.
Sie musste überleben. Für sich. Für die anderen Mädchen und Frauen, die sie umgebracht hatten. Für ihre Familien.
»Sie ist nach Westen gelaufen. Würde sie die Richtung beibehalten, käme sie in unwegsames Gelände und müsste eine Woche laufen, bis sie in bewohntes Gebiet kommt. Wir lassen ihr fünfzehn Minuten Zeit, dann folgen wir ihr. Nach einer Stunde ist sie fertig und wird langsamer. Ich schätze wir haben sie, bevor es dunkel wird. Falls ihr Wild findet, gehört es euch, damit sich die Jagd auch auszahlt. Vielleicht können wir auch eine Trophäe mit nach Hause nehmen.« Heimo warf seinen Rucksack über die Schulter, nahm das Gewehr in die Hand und ließ seinen Blick über die Lichtung wandern. Er nickte Reinhard zu und lächelte zufrieden.
»Los geht´s. Lasset die Spiele beginnen«, lachte Reinhard, holte sein Handy heraus und startete die App für den Peilsender. Eine interaktive Karte öffnete sich auf dem Bildschirm und gleich darauf erschienen zwei gelbe, eng nebeneinanderliegende Punkte. Er tippte ins Menü, wartete einen Augenblick und grinste, als ein roter Punkt erschien.
»Sie ist schneller als wir dachten. Die Kleine ist gut vorangekommen.«
»Unterschätze nie die Kraft der Verzweiflung«, erwiderte Heimo. »Jeremy, du kommst mit mir. Arno geht mit Reinhard. Wir nehmen sie von zwei Seiten in die Zange. Diese Dinger sind alles andere als genau. Wir haben damit nur einen ungefähren Standort.«
»Das macht die Jagd etwas spannender«, ergänzte Reinhard, die Fältchen um seine Augen weiß, die Miene koboldhaft und vergnügt.
Verena rannte, stolperte und sprang bergab, am Ende ihrer Kräfte. Immer öfter musste sie Pausen einlegen, presste dann die Hand auf ihre linke Seite, die brannte und stach. Unter dem Dreck sickerte Blut hervor und breitete sich auf die Hose aus. Sie merkte, wie ihr der Blutverlust allmählich zu schaffen machte.
Was mache ich mir Sorgen um eine Sepsis, dachte sie und starrte auf ihre blutverschmierte Hand. Ich sterbe ohnehin an Erschöpfung, wenn sie mich nicht zuvor erschießen. Sie schaute sich um, suchte in der Wildnis, die sie umgab, nach einem Anhaltspunkt, die Orientierung hatte sie längst verloren. Vor ihr öffnete sich eine schmale Senke, die flankiert war von bewaldeten Hängen.
»Soviel zu ›innerhalb von fünfzehn Kilometern ist eine Stadt‹ ihr Scheißkerle«, bellte sie mit trockener Kehle beim Anblick des engen Tales, das vor ihr lag. Keuchend lehnte sie sich an einen Baumstamm, rutschte an der rauen Rinde herunter und merkte kaum, wie diese die Haut an ihrem Rücken zerkratzte. Sie ließ ihren Blick über umgestürzte Bäume und verdorrte Sträucher huschen, ihre Augen zogen vor Anstrengung kleine Fältchen in den Winkeln.
Da war nichts. Kein Weg, keine Straße, kein Dorf. Nur Felsen, Bäume und Wildnis.
Alles in ihr schrie nach einem Ende dieses Alptraums. Sie wollte sich hinlegen, ausruhen, die Beine hochlagern, nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nicht mehr laufen. Aber sie wusste, dass sie, einmal am Boden, nicht wieder hochkommen würde.
Sie dürfen mich nicht kriegen, dachte sie. Ich muss ihnen ein Ende setzen. Den Kerlen dürfen nicht noch mehr Mädchen in die Hände fallen.
Sie unterdrückte jeden Gedanken an die Schmerzen an ihrer Seite und ihren erschöpften Beinen, raffte sich auf und lief die Senke entlang, bis es wieder bergauf ging. Dann wandte sie sich nach links in den Wald. Dort war sie zumindest nicht sofort sichtbar.
Langsam brach die Dunkelheit herein, würde sie ihr helfen oder schaden?
Verena blieb stehen und lauschte auf ihre Verfolger, aber da waren nur die Geräusche des Waldes. Der Gesang der zahllosen Vögel, ein Rascheln und Knacken und nichts zu sehen, kein Tier, kein Mensch, kein Verursacher der Geräusche. Nur der Wind, der die Äste der Bäume wiegte.
Plötzlich fiel ein Schuss.
Weit weg und doch zu nah.
Waren andere Jäger unterwegs? Das wäre eine Chance. Oder vermuteten die Kerle sie woanders und hatten auf ein Phantom geschossen, auf Wild oder gar sich selbst?
Sie konnte sich nicht konzentrieren oder auch nur einen klaren Gedanken fassen und beschloss schließlich, die Richtung beizubehalten. Sie musste höher hinauf, wenigstens über die nächste Kuppe, eine Orientierungsmöglichkeit finden.
»Lauf!«, befahl sie sich. »Lauf! Verdammt, lauf weiter!« Das Blut pochte ihr in den Ohren. Dann brach sie zusammen. Schluchzend, mit den Kräften und Nerven am Ende. Durst, Angst und ihr geschwächter Zustand ließen ihr keine Wahl. Sie konnte einfach nicht mehr weiter.
Von Krämpfen geschüttelt, von Panik vor ihren Verfolgern erfüllt, raffte sie sich nach langen Minuten auf, wankte und stolperte auf ein Gebüsch zu, um sich zu verstecken, unsichtbar zu werden, die letzten Kräfte sammeln oder dort hinten sterben. Nur nicht ihren Jägern in die Hände fallen.
Mit weichen Knien, die sie kaum zu tragen vermochten, taumelte sie zwischen die Äste, stolperte über eine Wurzel und fiel nach vorne, stürzte über einen Abhang, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich auf einer geschotterten Straße liegen. Ihr Kopf dröhnte.
Sie fühlte sich klein, verletzt.
Zerbrochen.
Fortsetzung folgt - Verschollen in der Tara-Schlucht - Teil 6
								
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