Via Sanguis - Friedrich und Stine - 3 – Das Revier

Tessy

Mitglied
Via Sanguis - Friedrich und Stine - 3 – Das Revier

© Tessy

„Von Klosterthor bis noh’n Millernthor,
von de Gas-Anstalt op’n Grasbrook
bis hin noh’n Dammthor,
dat is unser Revier“,
sagte Karl im schönsten Missingsch.

“De Uniform, de loot man to Hus”,
sagt er zu seinem neuen Kollegen,
„Melone, Gehrock, Paletot,
bei Regen noch ne Pelerine“.

„Fiete, am Graskeller, Ecke Rödingsmarkt,
bi Wedemann gift dat allens wat je brukt“,
weiß Karl, der etwas ältere Kollege,
„und bi Elsner gift das Stiefel und Gamaschen“.
„Denn man to“, fordert er,
„dann wüllt wi mal unser Revier inspizieren.“

Am Klosterthor, am Bahnhof,
wo die Züge halten nach Hannover, nach Berlin
und in der Gegenrichtung nach Altona.

Wo Straßenbahnen, Kutschen, Gepäckträger lärmen,
wo Fahrgäste zur Bahn hetzen,
wo schräge Gestalten müßig gehen,
wo schöne Frauen flanieren,
wo Gäste in den großen Hotels übernachten,
Höfers, Germania und Pariser Hof,
wo Männer in Gastwirtschaften sitzen,
die einige Stufen im Souterrain liegen.

„Mit jede Bahn kümmt een Döskopp, de ward beklaut und verkloppt,
und een Schlingel, de nix Goodes in Sinn het,
und een Deern, de in de falsche Handen kümmt.“

„Und jeden Morgen und jeden Obend,
kümmen noch minnstens twee,
de verschwindt spurlos,
de find’ wi nich wedder,
ward wohl geschanghait op’n Schip,
oder afmurkst, verbuddelt oder inne Elbe versenkt“,
weiß Karl zu berichten.

Weiter über den Meßberg,
wo die Bäuerinnen mit ihren großen gelben Hüten
ihre Waren aus den Vierlanden feilbieten.

Weiter über den Zollcanal in die Speicherstadt,
alter Wandrahm, Holländischer Brook,
zum Sandthor-Hafen, zum Grasbrook-Hafen
mit dem Dalmann Quai, bis hin zur Gasanstalt,
wo man in den Mastenwald des Segelschiff-Hafens sieht.

Große Dampfer liegen am Quai,
Kräne hieven Kisten, Fässer und Säcke heraus,
die starke Hafenarbeiter in die Schuppen bringen
oder auf Schuten verladen.

Dazwischen auch noch ein ‚Fliegenwirt’,
der aus großen Kannen
Köm und Bier
an die Schauerleute verkauft.

„Dor is’n Dampfer von Woermann“, sagt Karl,
„De kümmt ut Kamerun,
un bringt Bananen un Palmöl,
un dor is een van de Hamburg-Süd.
Dat kannst an’n Schornstein sehn.”

Auf dem Rückweg kehren sie ein,
fünf Stufen hinab
in eine ganz kleine Kneipe.
„Dat nennt man in Hamburg een Piselei“,
erklärt Karl und genießt sein Glas Bier.

Dann gehen sie weiter
Über Mühren, Kajen, Vorsetzen,
vorbei an großen Bürohäusern
bis zu den St. Pauli Landungsbrücken,
wo die kleinen Ausflugsdampfer liegen.

Dann hinauf zum Millernthor.
Dahinter liegt der Hamburger Berg
und die Reeperbahn
bereits im Revier von Altona.
Zurück über den Zeughausmarkt
in die ‚Neustadt’, wie Karl es nennt.

Schmale sich windende Gassen,
kleine Twieten, durch die keine Kutsche fahren kann
und enge Eingänge zu hunderten von Hinterhöfen,
in die kein Sonnenstrahl fällt
und in denen traurige, hungrige Kinder
mit blasser Haut und müden Augen sitzen.

Kleine zwei- bis dreistöckige Häuser,
tausende von Fenstern
aus denen Menschen enttäuscht
mit grimmig traurigen Gesichtern blicken.

Das ist nicht das schöne Hamburg,
was Friedrich in seinen Gedanken hat
und Karl sagt: „Dat is hier Feindesland.
Hier wüllt se uns nich hebben.
Hier sind se fünsch op uns un op’n Staat.“

Sie gehen weiter zurück zum Rödingsmarkt
Über Graskeller und Großer Burstah,
wo die Strassenbahnen fahren,
aufgereiht wie Perlen an der Kette stehen.
Hier sind die großen Bauten,
Banken, Geschäfte, Versicherungen,
Handelshäuser, Börse, Rathaus
und das Restaurant Bauer,
in der die beiden einkehren,
um ihre trockenen Kehlen zu erfrischen.

Dann über den Reesendamm,
die Bergstraße,
vorbei am Restaurant Siechen,
vorbei an der Parfümerie Douglas,
mit all den schönen Düften für die Frauen,
vorbei an Lünsmann’s Keller
zum Jungfernstieg und Alsterpavillon.
„Hier kannst Di’n Deern mol utföhrn.“

Nun geht es weiter
über Speersort, Kattrepel, Niedernstraße.
„Dat is ganz alte Bausubstanz“,
weiß Karl, „von vorm Brand noch.“
Die Häuser sind alt, hunderte von Fenstern stehen offen,
die muffige Luft gegen den Geruch der Straße zu tauschen.

Depenau mit dem ‚Verbrecherkeller’,
Klingberg, Fischertwiete,
Mohlenhofstraße,
durch die Springeltwiete,
eng und dunkel,
mit hunderten von Durchgängen
in verwinkelte enge Hinterhöfe.
Es stinkt nach Exkrementen, Schmutz und Abfall,
und aus den Kneipen nach Bier und Erbrochenem.

Nun geht es hinüber zum Barkhof.
Hier flanieren die hübschen Mädchen,
die den Männern die Zeit vertreiben
und die Sehnsüchte der Matrosen erfüllen.
Eine hübscher als die andere
stehen sie in den Eingängen der Etablissements.

Karl lenkt in einen der vielen hundert Hinterhöfe
mit vielen kleinen Durchgängen
zu neuen engen dunklen Höfen
und Treppen hinab in die Kasematten und Keller.
Ein Irrgarten, eng, teils nicht einmal zwei Meter breit.
Muffig stinkend und dunkel, passend zu den Gestalten
die dort stehen oder sitzen,
schmutzig im Gesicht,
bedrohlich,
unrasiert,
schmutzige Hände,
und verschlissene Kleidung.

„Dat hier is de Hölle von Hamburg“, flüstert Karl,
"dese Keller sünd all verbunden, sogar twee Lagen deep.
Dor sin Kneipen, de sün Dag un Nacht in Gang,
dor geeft dat Dinge,
de sünd so unmoralisch,
dat künnst Di gornich utdenken,
Schnaps, Bier, Fruenslüüd,
Opium ut Indien,
und Mord und Dodschlag.
Dat is de Glutherd vons Böse,
mitten in unsern Revier.“

Friedrich ist froh, als sie wieder die Wache an den Raboisen erreichen.

Meine liebste Stine
Heute habe ich meinem Kollegen Karl kennengelernt.
Wir sind zusammen durch unser Revier gegangen.
So viele der neuen Eindrücke bewegen mich noch.
So laut ist es in den Straßen,
so viele Menschen, Kutschen, Straßenbahnen.

Hier gibt es große Häuser
mit vielen Kontoren und Läden
und mit schönen Geschäften
für Kleider, Hüte und Schuhe.

Aber auch Straßen und Orte,
wo ich Dich niemals hinführen würde.
So viel Elend und so viel Schatten
In dieser großen leuchtenden Stadt.

Ich führe Dich stattdessen
lieber zu den Restaurants,
mit Kaffee, Schokolade
und Gebäck.

Ich träume von dem Tag,
an dem ich Dich hier ausführen darf.

Dein Friedrich
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Habe gerade den dritten Teil gelesen. Du kennst dich im Hamburg der Jahrhundertwende um 1900 unglaublich gut aus; manche der Begriffe sind mir allerdings nicht geläufig.
Einige Redewendungen wiederholst du recht oft: Ist das Absicht?
Beispiel: Dann gehen sie weiter ..., weiter über..., weiter über ..., dann weiter ...
tausende von ... hunderte von...

Zwei kleine Grammatikfehler habe ich entdeckt:

"und das Restaurant Bauer,
in der das die beiden einkehren"

"Heute habe ich meinem meinen Kollegen Karl kennengelernt"

Gruß, Hyazinthe
 

Tessy

Mitglied
Via Sanguis - Friedrich und Stine - 3 – Das Revier

© Tessy

„Von Klosterthor bis noh’n Millernthor,
von de Gas-Anstalt op’n Grasbrook
bis hin noh’n Dammthor,
dat is unser Revier“,
sagte Karl im schönsten Missingsch.

“De Uniform, de loot man to Hus”,
sagt er zu seinem neuen Kollegen,
„Melone, Gehrock, Paletot,
bei Regen noch ne Pelerine“.

„Fiete, am Graskeller, Ecke Rödingsmarkt,
bi Wedemann gift dat allens wat je brukt“,
weiß Karl, der etwas ältere Kollege,
„und bi Elsner gift das Stiefel und Gamaschen“.
„Denn man to“, fordert er,
„dann wüllt wi mal unser Revier inspizieren.“

Am Klosterthor, am Bahnhof,
wo die Züge halten nach Hannover, nach Berlin
und in der Gegenrichtung nach Altona.

Wo Straßenbahnen, Kutschen, Gepäckträger lärmen,
wo Fahrgäste zur Bahn hetzen,
wo schräge Gestalten müßig gehen,
wo schöne Frauen flanieren,
wo Gäste in den großen Hotels übernachten,
Höfers, Germania und Pariser Hof,
wo Männer in Gastwirtschaften sitzen,
die einige Stufen im Souterrain liegen.

„Mit jede Bahn kümmt een Döskopp, de ward beklaut und verkloppt,
und een Schlingel, de nix Goodes in Sinn het,
und een Deern, de in de falsche Handen kümmt.“

„Und jeden Morgen und jeden Obend,
kümmen noch minnstens twee,
de verschwindt spurlos,
de find’ wi nich wedder,
ward wohl geschanghait op’n Schip,
oder afmurkst, verbuddelt oder inne Elbe versenkt“,
weiß Karl zu berichten.

Weiter über den Meßberg,
wo die Bäuerinnen mit ihren großen gelben Hüten
ihre Waren aus den Vierlanden feilbieten.

Weiter über den Zollcanal in die Speicherstadt,
alter Wandrahm, Holländischer Brook,
zum Sandthor-Hafen, zum Grasbrook-Hafen
mit dem Dalmann Quai, bis hin zur Gasanstalt,
wo man in den Mastenwald des Segelschiff-Hafens sieht.

Große Dampfer liegen am Quai,
Kräne hieven Kisten, Fässer und Säcke heraus,
die starke Hafenarbeiter in die Schuppen bringen
oder auf Schuten verladen.

Dazwischen auch noch ein ‚Fliegenwirt’,
der aus großen Kannen
Köm und Bier
an die Schauerleute verkauft.

„Dor is’n Dampfer von Woermann“, sagt Karl,
„De kümmt ut Kamerun,
un bringt Bananen un Palmöl,
un dor is een van de Hamburg-Süd.
Dat kannst an’n Schornstein sehn.”

Auf dem Rückweg kehren sie ein,
fünf Stufen hinab
in eine ganz kleine Kneipe.
„Dat nennt man in Hamburg een Piselei“,
erklärt Karl und genießt sein Glas Bier.

Dann gehen sie weiter
Über Mühren, Kajen, Vorsetzen,
vorbei an großen Bürohäusern
bis zu den St. Pauli Landungsbrücken,
wo die kleinen Ausflugsdampfer liegen.

Dann hinauf zum Millernthor.
Dahinter liegt der Hamburger Berg
und die Reeperbahn
bereits im Revier von Altona.
Zurück über den Zeughausmarkt
in die ‚Neustadt’, wie Karl es nennt.

Schmale sich windende Gassen,
kleine Twieten, durch die keine Kutsche fahren kann
und enge Eingänge zu hunderten von Hinterhöfen,
in die kein Sonnenstrahl fällt
und in denen traurige, hungrige Kinder
mit blasser Haut und müden Augen sitzen.

Kleine zwei- bis dreistöckige Häuser,
tausende von Fenstern
aus denen Menschen enttäuscht
mit grimmig traurigen Gesichtern blicken.

Das ist nicht das schöne Hamburg,
was Friedrich in seinen Gedanken hat
und Karl sagt: „Dat is hier Feindesland.
Hier wüllt se uns nich hebben.
Hier sind se fünsch op uns un op’n Staat.“

Sie gehen weiter zurück zum Rödingsmarkt
Über Graskeller und Großer Burstah,
wo die Strassenbahnen fahren,
aufgereiht wie Perlen an der Kette stehen.
Hier sind die großen Bauten,
Banken, Geschäfte, Versicherungen,
Handelshäuser, Börse, Rathaus
und das Restaurant Bauer,
in das die beiden einkehren,
um ihre trockenen Kehlen zu erfrischen.

Dann über den Reesendamm,
die Bergstraße,
vorbei am Restaurant Siechen,
vorbei an der Parfümerie Douglas,
mit all den schönen Düften für die Frauen,
vorbei an Lünsmann’s Keller
zum Jungfernstieg und Alsterpavillon.
„Hier kannst Di’n Deern mol utföhrn.“

Nun geht es weiter
über Speersort, Kattrepel, Niedernstraße.
„Dat is ganz alte Bausubstanz“,
weiß Karl, „von vorm Brand noch.“
Die Häuser sind alt, hunderte von Fenstern stehen offen,
die muffige Luft gegen den Geruch der Straße zu tauschen.

Depenau mit dem ‚Verbrecherkeller’,
Klingberg, Fischertwiete,
Mohlenhofstraße,
durch die Springeltwiete,
eng und dunkel,
mit hunderten von Durchgängen
in verwinkelte enge Hinterhöfe.
Es stinkt nach Exkrementen, Schmutz und Abfall,
und aus den Kneipen nach Bier und Erbrochenem.

Nun geht es hinüber zum Barkhof.
Hier flanieren die hübschen Mädchen,
die den Männern die Zeit vertreiben
und die Sehnsüchte der Matrosen erfüllen.
Eine hübscher als die andere
stehen sie in den Eingängen der Etablissements.

Karl lenkt in einen der vielen hundert Hinterhöfe
mit vielen kleinen Durchgängen
zu neuen engen dunklen Höfen
und Treppen hinab in die Kasematten und Keller.
Ein Irrgarten, eng, teils nicht einmal zwei Meter breit.
Muffig stinkend und dunkel, passend zu den Gestalten
die dort stehen oder sitzen,
schmutzig im Gesicht,
bedrohlich,
unrasiert,
schmutzige Hände,
und verschlissene Kleidung.

„Dat hier is de Hölle von Hamburg“, flüstert Karl,
"dese Keller sünd all verbunden, sogar twee Lagen deep.
Dor sin Kneipen, de sün Dag un Nacht in Gang,
dor geeft dat Dinge,
de sünd so unmoralisch,
dat künnst Di gornich utdenken,
Schnaps, Bier, Fruenslüüd,
Opium ut Indien,
und Mord und Dodschlag.
Dat is de Glutherd vons Böse,
mitten in unsern Revier.“

Friedrich ist froh, als sie wieder die Wache an den Raboisen erreichen.

Meine liebste Stine
Heute habe ich meinen Kollegen Karl kennengelernt.
Wir sind zusammen durch unser Revier gegangen.
So viele der neuen Eindrücke bewegen mich noch.
So laut ist es in den Straßen,
so viele Menschen, Kutschen, Straßenbahnen.

Hier gibt es große Häuser
mit vielen Kontoren und Läden
und mit schönen Geschäften
für Kleider, Hüte und Schuhe.

Aber auch Straßen und Orte,
wo ich Dich niemals hinführen würde.
So viel Elend und so viel Schatten
In dieser großen leuchtenden Stadt.

Ich führe Dich stattdessen
lieber zu den Restaurants,
mit Kaffee, Schokolade
und Gebäck.

Ich träume von dem Tag,
an dem ich Dich hier ausführen darf.

Dein Friedrich
 

Tessy

Mitglied
Hallo Hyazinthe
Vielen Dank, dass Du die Episode gelesen und kommentiert hast.

Auf dem nachstehendem Link, auf der Karte von 1903 kann man die Schauplätze meiner Geschichte wiederfinden.
http://www.christian-terstegge.de/hambur...burg/index.html

Ja, die Wiederholungen sind so gewollt.

Nein, die Grammatikteufelchen natürlich nicht. Ich habe sie korrigiert.

Nachher gibt es noch eine neue Episode.

Gruß,
Tessy
 



 
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