Vom Essen

Der kleine Hunger

An einem Ort, der nicht leicht von jedermann, gefunden werden kann. Er liegt nämlich so ziemlich genau am Ende des Regenbogens, wenn der auf die Erde trifft. Dort steht im hohen Gras verborgen, ein kleines altes Holzhaus, mehr eine Kate, denn ein Haus. Sein verwittertes Dach war mit einer dicken Moosschicht überwachsen und Steine lagen darauf als Schutz damit es der Wind nicht davon trug. Auch seine Fassade sah ähnlich verwittert aus wie das Dach, nur das die kleinen Fensterchen liebevoll mit bunt bepflanzten Blumenkästen geschmückt war. Das war aber auch der einzige Hinweis darauf, das diese Behausung bewohnt war. Gehen wir nun hinein und schauen uns etwas um.
Sobald man durch die Türe hindurch getreten war, änderte sich der Anblick. Was von außen unscheinbar und ärmlich aussah, war im Innenraum, groß und prächtig. Der hinter der Eingangstür liegende Raum öffnete sich zu einer großen runden Diele, die an der Decke von einem gläsernen Oberlicht erhellt wurde. Zu beiden Seiten der Diele führte eine breite geschwungene Freitreppe hinauf, in den ersten Stock des Hauses. Beide Enden der Treppe bildeten eine kunstvoll verzierte Galerie, auf die, die Bewohner des ersten Stockes mühelos gelangen konnten, da von dort zahlreiche Türen zu den einzelnen Zimmern führten.
Wer aber waren die geheimnisvollen Bewohner? Geduld wir werden sie gleich sehen.
Punkt sechs Uhr in der Frühe, erklang im Ganzen Haus, das jetzt doch mehr einer Villa glich, ein tiefes dunkles Geräusch. Es klang fast wie ein Knurren. Wie auf ein geheimes Kommando, öffneten sich die Türen. Die Wesen, die, die Zimmer bewohnten traten heraus und kamen nacheinander die große Treppe herunter. Unten angekommen, blieben sie in lockeren Grüppchen stehen, begrüßten sich und schwatzten, wie es in Familien so üblich ist. Denn eine Familie waren sie. So unterschiedlich sie auch aussahen, die Ähnlichkeit war unübersehbar. Es war die Familie der Hungers die das Haus am Ende des Regenbogens bewohnte. Dazu gehörten solche Mitglieder wie der Große Hunger, Heißhunger, Bärenhunger, Pferdehunger, Grimmiger Hunger, Gar kein Hunger, Süßhunger, Schokohunger usw. Zum Schluss und von allen ein bisschen unbeachtet, weil er klein und unscheinbar war, deshalb auch leicht zu übersehen..., der Kleine Hunger. Als alle da waren und keiner mehr fehlte, läutete ein kleines Porzellanglöckchen mit fein schwingendem Ton. Sofort verstummten die Gespräche und genau in diesem Augenblick öffnete sich die große prächtige Tür, die der Treppe genau gegenüber lag. Die Blicke der Anwesenden richteten sich erwartungsvoll nach oben. Aus der Tür heraus trat ein kleines zierliches steinaltes Mütterchen. Sie hatte weißes sorgfältig onduliertes Haar. Über ihre schmalen Schultern hatte sie sich eine weiße Spitzenstola, die ihr altmodisches dunkelgrünes Kleid bedeckte, gelegt. Um ihren Hals hing eine schwere goldene Uhrkette mit einem Lorgnon daran. Sie trug weiße Glacé Handschuhe und an den Füßen zierliche schwarze Schnürstiefelchen aus Lackleder. Hoheitsvoll und langsam schritt sie die Treppe hinunter. Es war die Mutter aller Hungers, der man hier den Ihr gebührenden Respekt erbrachte. Ihr Name war Fräulein Appetit. Auf der vorletzten Stufe, blieb sie dann stehen, um die versammelten Mitglieder ihrer Familie zu begrüßen und sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Sodann begaben sich alle zum gemeinsamen Frühstück, dabei erfolgte auch immer die Aufgabenverteilung der Hungers durch das Fräulein Appetit. Aber erst einmal wurde fröhlich getafelt. Nachdem das schmutzige Geschirr abgeräumt war und alle dafür gesorgt hatten das es wieder sauber im Schrank, zur nächsten Benutzung bereit stand, ging es an die Arbeitseinteilung der heutigen Tages.
Fräulein Appetit erhob sich von ihrem bequemen Sessel und sprach „ Nachdem jetzt alle hinreichen gestärkt sind, möchte ich euch sagen wo ihr heute den Tag verbringen werdet. Also, Großer Hunger geht zu den Kindern, Pferdehunger zu den Bauern und anderen die schwer arbeiten, Bärenhunger zu den Tieren, Grimmiger Hunger dich schicke ich auf Fernreise, Gar kein Hunger bitte zu den Königen und Adligen , Heißhunger zu den Wettkämpfern, Süß-und Schokohunger zu den Naschkatzen.” Aufgeregt sprang der Kleine Hunger auf und ab, war er doch der Meinung auch mit eingeteilt zu werden. Kopfschüttelnd schaute das Fräulein Appetit auf den kleinen Kerl herab und sagte zu ihm. “ Kleiner, du bist noch nicht groß genug, um die Aufgaben in der Hunger Familie mit übernehmen zu können. Wenn du erst richtig groß bist, wirst auch du deine Aufgabe, wie alle anderen auch zugeteilt bekommen. Bis dahin allerdings behalte ich dich hier in meiner Nähe und du darfst noch spielen.” das allerdings gefiel dem kleinen Hunger gar nicht und er war überzeugt davon das auch er schon imstande war eine , wenn auch kleine, Aufgabe zu lösen.
Traurig ging der kleine Kerl zur Tür hinaus, er wollte allein sein und sich selber eine Aufgabe, bei der er gebraucht wurde ausdenken. Es wollte ihm aber so recht nichts einfallen. Immer weiter ging er durch das hohe Gras, bis er sich auf einer Lichtung in einem Wäldchen wiederfand. Dort sah er eine Gestalt stehen die er nicht kannte, ihm aber doch seltsam vertraut vorkam. Hatte sie doch eine frappierende Ähnlichkeit mit den übrigen Hungers. Die Gestalt war sehr groß und sehr dünn. Lange schwarze Haare fielen ihm bis auf die knochigen Schultern. Bekleidet war es mit einem sackartigen Gewand mit riesigen Taschen daran. Diese waren mit allerlei essbarem gefüllt, wie der kleine Hunger beim näherkommen feststellen konnte. Immerzu fuhren die Hände des Mannes mal in diese, mal in jene Tasche, um etwas hervorzuholen und sich in den Mund zu stopfen.
Der Kleine Hunger blieb vor dem Mann stehen und betrachtete ihn. Neugierig fragte er ihn nach seinem Namen, denn er wollte erfahren woher die Ähnlichkeit mit seiner Familie kam. Brummig antwortete er,” Ich heiße Immer Hunger und komme von meiner Studienreise zurück nachhause zu meiner Mutter Fräulein Appetit.” Da begriff der Kleine Hunger das er hier seinen Bruder, von dem in der Familie oft erzählt wurde, vor sich hatte. Seinerseits stellte sich der Kleine Hunger vor, groß war die Freude als sie sich als Brüder erkannten. Der Kleine Hunger erzählte ihm auch von seinem Kummer und fragte seinen Bruder um Rat. Immer Hunger fiel auch etwas ein, zu dem auch der Kleine Hunger schon in der Lage wäre. Er riet ihm sich zu den kranken Kindern zu begeben, die im Bett liegen müssten und oft nicht gesund werden konnten weil sie nichts zu sich nehmen konnten, weil ihnen so ein kleiner Hunger fehlte und damit Nährstoffe um die Krankheit auszutreiben. Diese Aufgabe gefiel dem Kleinen Hunger. Er dankte seinem Bruder, der sich schon in Richtung Hungervilla auf den Weg gemacht hatte.
Der Kleine Hunger musste auch gar nicht lange suchen um das erste kranke Kind zu finden. Es war die kleine Hildegard die sich im Fluss beim Baden eine schwere Erkältung zugezogen hatte und nun im Bett lag und so schwach war das sie nicht einmal mehr richtig husten konnte. Der Kleine Hunger setzte sich zu ihr ans Bett und erzählte ihr von seiner Familie und andere schöne Geschichten. Bald schlief sie ruhig ein und das Fieber sank. Als sie nach tiefem Schlaf dann erwachte und ihre Mama an ihrem Bett stehen sah, flüsterte sie ihr zu “Mama ich verspüre einen kleinen Hunger, bitte bring mir doch ein wenig Suppe.” Erleichtert weil ihr Sonnenschein etwas essen wollte eilte Hildegards Mutter in die Küche. Nachdem das Mädchen ihren Hunger gestillt hatte und auch wieder ein wenig Farbe ins Gesicht bekam, war die Aufgabe des Kleinen Hungers erfüllt. Zufrieden mit sich begab er sich von einem kranken Kind zum nächsten. Überall wo der Kleine Hunger sich bemerkbar machte, gesundeten die kranken Kinder.
Am Abend machte er sich zurück auf den Weg in die Hungervilla, er wollte dem Fräulein Appetit sagen das auch er eine Aufgabe gefunden hatte. Gleichzeitig wollte er sie bitten, künftig ihn weiter zu den kranken Kindern zu schicken, das machte ihm großen Spaß. Fräulein Appetit sah ein, das auch so ein kleiner Hunger nicht unterschätzt werden darf und zum Leben gehörte.
Fortan stellten sich Auch der Kleine Hunger und der Immer Hunger mit zu der Morgendlichen Verteilung der Aufgaben nach dem Frühstück auf. Beide gingen nun gemeinsam zu den Kranken ob Klein oder Groß. Wo es gelang einen kleinen Hunger zu wecken, so eine ganz kleinen, und kräftiger zu werden, da folgte dann zum Vollständigen Gesunden der Immer Hunger. Zufrieden kehrten sie dann in ihr Kleines/Großes Haus zurück und blinzelten sich verschwörerisch zu. Die Geschichte da sich das zutrug ist schon lange her, aber an der Arbeit der Hungers hat sich bis heute nichts geändert.Immer wenn uns der Magen knurrt ist das ein Zeichen bei dem in der Hungervilla die Türen in der Diele aufgehen.

ENDE...
 



 
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