Von Intensivstationen und Leichenhäusern

EG Shadow

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*** Von Intensivstationen und Leichenhäusern ***

Kaum hatten sie die große Drehtür des historisch anmutenden Krankenhauses passiert, wehte ihnen der intensive Geruch von Desinfektionsmitteln entgegen. Weiches Linoleum dämpfte ihre Schritte und ein reger Menschenstrom verriet, dass Besuchszeit war. Schwestern in raschelnden Kitteln begleiteten Patienten in den sonnenüberfluteten Park. Eine Angestellte rollte einen Serviertisch mit diversen Tellern und Tassen in eine kleine Küche.

Ron und Jim gingen ohne Umweg direkt auf den Empfang zu.

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“, fragte die Schwester an der Rezeption, ohne den Blick von einem Formular zu wenden, dass sie gerade ausfüllte.

Ron setzte ein strahlendes Lächeln auf: „Guten Tag, FBI, mein Name ist Marlowe und mein Partner hier heißt Mason. Wir ermitteln im Fall des gestern aufgefundenen verwirrten, jungen Mannes.“ Er schob einen Ausweis mit seinem Foto über den Tresen und forderte Jim auf, es ihm gleich zu tun.

Die Schwester hob ihren Kopf und schielte über den Rand einer Brille, die über ihrer Nase zu schweben schien. „Hat er was angestellt?“, fragte sie. „Woher haben Sie überhaupt die Information, dass wir einen solchen Patienten haben?“

Sie legte ihren Kugelschreiber beiseite und stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, um sich zu erheben.

„Nun“, entgegnete Ron, „wir sprachen gestern mit Detektiv Miller. Er hat gesagt, dass unsere gesuchte Person möglicherweise einer Ihrer Patienten ist.“

Misstrauisch beäugte die Schwester zunächst die Ausweise der Männer, bevor sie anschließend die Krawattenträger selbst in Augenschein nahm. Nachdem sie sich von der Richtigkeit ihres Beamten-Status überzeugt hatte, sank sie zurück auf den Stuhl und begann, etwas in ihren Computer zu tippen.

Sekunden später antworte sie „Station 4, Zimmer 63. Aber glauben Sie mir Detektivs, Sie werden nicht viel in Erfahrung bringen. Der arme Junge ist völlig weggetreten.“

Die Jäger bedankten sich lächelnd und schlenderten durch den langen Korridor in Richtung Fahrstuhl. „Melden sie sich bitte bei der Stationsschwester“, rief ihnen die Frau hinter dem Tresen noch zu.

Leise klingelnd kündigte der Fahrstuhl die gewünschte Station an, als sich die Tür auch schon öffnete. Hier oben war nichts mehr vom hektischen Treiben im Empfangsbereich spürbar. Jims Blick schweifte suchend über die Türschilder. Er wies mit dem Finger in die Richtung, in der Zimmer 63 zu erwarten war.

Rasch schritten Ron und Jim durch den menschenleeren Korridor. Die Stille war beängstigend. Fast am Ende des Ganges entdeckten sie eine offenstehende Türe.

Ihr Instinkt riet zu äußerster Vorsicht. Ron griff unter sein Jackett. Langsam glitt der Schaft einer Beretta in seine Hand. Er betrat als erster den Raum. Sofort sah er die Krankenschwester mit ihrem Gesicht nach unten am Boden liegen. Der Medizinwagen war anscheinend umgerissen worden und verschiedene Medikamente lagen verstreut auf dem Linoleum. Einzelne Tabletten knirschten unter Rons Schuhen. Das Krankenbett im sonst kahlen Zimmer stand verborgen hinter einem weißen Leinenvorhang.

Jim war nur einen Augenblick später seinem Bruder gefolgt und kümmerte sich sofort um die Schwester. Sie bewegte sich leise stöhnend. Er half ihr auf die Beine, während Ron sich mit entsicherter Waffe entschlossen dem Bett näherte.

Verdutzt und sprachlos blickte das Mädchen zu Jim hinauf.

„Was ist passiert? Haben sie sich verletzt?“, fragte der Jäger und musterte besorgt die junge Frau. Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich muss gestolpert sein“, murmelte sie. Hastig versuchte sie, ihren zerzausten Zopf zu ordnen und strich sich ihre weisse Schürze glatt. Als sie aufstehen wollte, verzog sie ihr Gesicht.

„Ist wirklich alles OK?“ Jim hatte sie vorsichtshalber am Arm festgehalten, um zu verhindern, dass sie erneut ins Straucheln geriet.

„Ist OK – danke“, hauchte sie mit errötenden Wangen. „Ich habe mir wohl an der Schulter wehgetan!“

„Wie heißen Sie?“, fragte Jim mit sanfter Stimme.

„Mein Name ist Amelia.“ Sie rieb sich an der linken Schulter und drehte sich zu Ron um. „Wer sind Sie und was machen Sie beide eigentlich hier?“

Die blaugrauen Augen des jüngeren Jägers hefteten sich auf das Gesicht des Mädchens: „Amelia – Mein Name ist Jim“, antwortete er ruhig.

Mit einem Räuspern unterbrach ihn Ron. Er zückte erneut den gefälschten Ausweis. „Wir wollten eigentlich ein paar Worte mit ihrem Patienten reden“, sagte er und nickte in Richtung Bett. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem zugezogenen Vorhang.

Erstaunt hoben sich Amelias Augenbrauen. „Warum denn so geheimnisvoll?“, flüsterte sie.

Ron hob die Schultern – „Nur so ein Gefühl.“ Er nickte Jim kurz zu.

Langsam griffen Rons Finger nach dem Saum des Vorhanges. Ein Ruck – und klirrend sausten die Führungsringe über die Aluminiumstange.

Entsetzt weiteten sich Amelias Augen. Ihr Schrei war kurz und schrill, denn Jim riss sie augenblicklich herum und presste ihr Gesicht gegen seine Brust. Seine Arme umschlangen sie fest und hinderten sie daran, den schrecklichen Anblick nochmals ertragen zu müssen.

Einen Laut des Entsetzten ausstoßend, wandte sich Ron von Jeremy ab. Er beugte sich nach vorn und hielt sich die Hand vor den Mund, um sein Würgen zu unterdrücken.

Vorwurfsvoll schaute Jim Ron an. In seinen Armen wimmerte Amelia. Jim konnte spüren, wie ihr Körper zitterte. Sie drohte, jede Sekunde zusammenzubrechen. Mit erhobenen Brauen gab er Ron durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass es an der Zeit war, das Zimmer zu verlassen.

*** *** ***

Knarrend bewegte sich der rostige Fenstergriff und löste so die Verriegelung. Nach einem leichten Stoß sprang das Fenster auf. Ein großer Schatten huschte geschmeidig durch die Öffnung und glitt lautlos zu Boden. Ihm folgte ein zweites Schemen … und ein Fluchen.

„Ron! Pass doch auf wo du hintrittst“, fauchte Jim und rieb sich den Fuß.

Zwei Lichtkegel irrten durch den Raum. „Kleiner - Mach mal das Licht an“, flüsterte Ron.

„Klar gern – wenn du mir sagst, wo der Schalter ist“, konterte Jim.

Nach wenigen Sekunden flackerten die Lichter der Leuchtstoffröhren auf und tauchten den Raum in ein kaltes Weiß. Auf dem gefliesten Boden standen einige gelbe Plastikbehälter unterschiedlicher Größe mit der Aufschrift Pathologie.

Die Jäger blinzelten und orientierten sich. Es war kühl. In der Luft schwebte der Geruch von Thymol und Phenol.

„Auf in den Kampf!“ Ron ging entschlossen auf eine Wand mit chromglänzenden Isoliertüren zu. Beherzt zog er am Klappgriff der ersten Luke.

„Ron…!“ Jim hatte sich neben den Obduktionstisch gestellt und positionierte die große 12-äugige OP-Lampe über einen verdeckten Körper.

„Vielleicht sollten wir es zuerst hier versuchen“, flötete er seinem großen Bruder entgegen.

„Ah!“ Ron drehte sich spontan um. „Frauen und Kinder zuerst.“, raunte er. Er sah Jim auffordernd an.

„Wieso ich?“ fragte Jim. Falten bewegten sich auf seiner Stirn.

„Weil ich heute schon gekotzt habe“, entgegnete Ron und wies mit dem Zeigefinger auf den Körper. „Los mach schon, Jimmy.“

Jim ergriff zögernd das weiße Tuch und schlug es zurück. Ein Ton des Ekels quetschte sich über seine Lippen. Er schluckte heftig. „Der sieht ja auch so aus, als wäre er längst überfällig.“

„Ja“, erwiderte Ron, aus sicherer Entfernung auf den Toten schielend. „Nur, dass dieser hier nicht auf einem Grill lag und folglich auch nicht hätte verbrennen können!“

„Was meinst du, könnte das hier verursacht haben?“ Er sah Jim fragend an.

Ratlos schob Jim seine Hände in die Hosentaschen. „Spontane Selbstverbrennung vielleicht?“

„Glaub ich nicht“, entgegnete Ron. „Dazu ist er zu gut erhalten. Da bleibt immer nur ein wenig Asche übrig.“

„Eine extrem hungrige Shtriga* vielleicht?“ Jim hob seine Augenbrauen.

Die Jäger sahen ratlos auf den verdorrten Körper. Er hatte so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Küchenjungen und wirkte wie eine Wüstenmumie. Das Fleisch schien komplett verschwunden, nur die Haut spannte noch über den Knochen. Im eingefallenen Gesicht lagen seine geschrumpelten Augen wie Rosinen in ihren tiefen Höhlen. Der Mund war aufgerissen, als hätte er nach dem letzten verzweifelten Schrei nicht mehr genug Zeit gehabt, ihn zu schließen.

„Was ist denn das?“ Ron zeigte auf kleine, violette Punkte an der Schulter des Toten. „So was hatte doch der Andere auch!“ Seine Augen erfassten Jim, dessen Fältchen sich grübelnd auf der Stirn bewegten.

„Mh … sieht fast aus wie Fingerabdrücke“, antworte Jim und kratzte sich am Hinterkopf. „Dreh ihn mal um“, forderte er Ron auf.

Dieser sah ungläubig zurück. „Was? – Ich fass den doch nicht an!“ Ron schüttelte heftig den Kopf.

„Na mach schon Ron - ich habe schließlich die Decke weggezogen.“ Jims Blick duldete keinen Widerspruch.

Schnaufend nahm sich der Ältere ein Paar Gummihandschuhe aus einem Plastikbehälter. Mit angehaltenem Atem packte er den Körper und drehte ihn vorsichtig zur Seite.

Jim hatte sich hinunter gebeugt, um den Rücken genauer betrachten zu können. Fast stieß er mit seiner Nase gegen die Leiche. Über seine Lippen kamen Laute des Erstaunens.

„Jetzt mach schon“, ächzte Ron. „Der zerbröselt mir zwischen den Fingern!“

Jim richtete sich auf und nickte Ron zu. Sofort ließ der Ältere den Körper los, der sich knirschend in seine Ausgangsposition zurückbewegte.

„Na? – mein kleiner Hobbypathologe? Was hast du herausgefunden“, keuchte Ron. Er zog angewidert seine Handschuhe aus.

Jim machte eine abwertende Handbewegung und erklärte: „Jeweils rechts und links auf den Schultern Hämatome, die nach Fingerabdrücken aussehen und auf dem Rücken an beiden Seiten der Wirbelsäule zwei Eintrittswunden. Sieht aber nicht nach Einschusslöchern aus.“

Ron hob beeindruckt eine Braue. „Nicht schlecht, Herr Oberstudienrat!“ Er sah zurück auf den Toten „Was sagt uns das?“

„Wahrscheinlich gar nichts“, seufzte Jim. Er zeigte noch einmal auf den Torso: „Das deutet auf Rippenbrüche hin.“

„Hatte der erste Tote nicht auch gebrochene Rippen?“, murmelte Ron.

Jim nickte und legte seine Hand auf Rons Schulter. „Komm lass uns gehen. Ich brauche frische Luft.“

*** *** ***

Amelia nahm sich nach dem schrecklichen Vorfall in der Klinik den Rest des Tages frei. Der furchtbare Anblick hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte. Nachdem sie die Tür zu ihrer kleinen Wohnung hinter sich geschlossen hatte, fiel sie erschöpft auf die Couch.

Sie war froh, den beiden Männern begegnet zu sein. Auch wenn sie nicht glauben mochte, dass sie vom FBI waren. Im Grunde genommen war es ihr auch egal. Es war gut, dass sie da gewesen waren und ihr beigestanden hatten. Alleine wäre sie von der Situation völlig überfordert gewesen.

Müde schloss Amelia ihre Augen. Die Sonne, die freundlich durch ihre Fenster flutete, war nicht im Stande, das erdrückende Gefühl auf ihrer Brust zu vertreiben.

Von Unruhe getrieben, sie stand auf und kramte im heillosen Durcheinander ihrer Handtasche. Mit einem Lächeln hielt sie schließlich die Visitenkarte von Jim zwischen den Fingern und legte sie neben ihr Telefon.

Der Typ war echt süß, gestand sie sich ein und schielte auf die Handynummer. Vielleicht ruf ich ihn morgen an, dachte sie und nickte ein.

Als Amelia aufwachte war es bereits abends. Sie hatte den ganzen Nachmittag verschlafen und trotzdem das Gefühl, einen Marathon hinter sich gebracht zu haben. Ihr Nacken war verspannt und hinter ihren Augen schienen Presslufthämmer zu dröhnen. Mit einem Seufzer erhob sie sich, um in der Küche einen Tee aufzugießen.

Während der Wasserkessel leise vor sich hin summte, ging sie ins Schlafzimmer. Im Spiegel erkannte sie sich kaum wieder. „Gott Amelia, du siehst heute wieder aus wie 30“, dachte sie erschrocken. Seufzend öffnete sie ihre Schwesterntracht. Diese glitt raschelnd über ihre schmalen Hüften zu Boden. Amelia entnahm ihrem Kleiderschrank ein Longshirt und schlüpfte hinein.

Barfuß schlich sie über das kühle Parkett zum inzwischen kreischenden Wasserkessel in der Küche zurück. Amelia fühlte sich unwohl und beobachtet, als sie ihren Tee aufbrühte. Ein unheimliches Gefühl hatte Amelia beschlichen. Verängstigt stand sie in der Tür zum Wohnzimmer und blickte auf eine Umgebung, die sich im Nebel aufzulösen schien.

Das Schlimmste aber war eine Stimme, die beständig in ihr Ohr flüsterte: „Amelia – nimm mich mit …“


Anmerkung des Autors:
* Shtriga ist eine Hexe, welche sich von der Lebensenergie anderer ernährt. Sie bevorzugt Kinder, da sie mehr Lebensenergie haben als Erwachsene. Die Shtriga "saugt" die Kinder über mehrere Wochen lang aus, bis diese schließlich sterben. [Quelle Wikipedia.de]
 



 
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