Vorgeburtstagliche Stimmung

Der Tag vor meinem Geburtstag​

„Was? – Nein! – Nicht schon wieder!“, denke ich und bekomme einen Kloß im Hals. Meine Mutter muss mal wieder ins Krankenhaus, ich kann es kaum fassen. Dabei ist sie doch vor ein bis zwei Wochen erst entlassen worden. „Musst du noch mal zum Arzt?“, frage ich sie und unterdrücke meine Tränen. Ich will jetzt stark sein, für sie. Ich merke, wie sie selbst auch mit dem Tränen zu kämpfen hat. „Ja, heute Abend muss ich noch einmal hin, da wird entschieden, ob ich wirklich noch mal ins Krankenhaus muss.“ Ich schaue auf die Uhr, es ist halb sechs. „Ich möchte gerne mitkommen.“ – „Das musst du nicht, ich kann das auch alleine.“ – „Ich möchte aber!“ Sie gibt nach, denn sie weiß, dass ich mitgehen werde. Ich flitze in mein Zimmer und ziehe mich schnell um.

Beim Arzt angekommen herrscht dort Totenstille. Sie schließen bald und haben nur auf meine Mutter gewartet. Die Arzthelferin führt uns in den OP, dort entfernt sie das Pflaster von der Brust meiner Mutter. Sie reinigt die Wunde und nimmt ein überlanges Ohrstäbchen, um zu gucken, wie tief das Loch diesmal ist. Ich sehe, wie meine Mutter vor Schmerzen das Gesicht verzieht. Sie leidet. An der besorgten Stimme der Arzthelferin merke ich, dass es wirklich wieder beunruhigend ist. Es dauert gefühlte Stunden, bis sie dieses Stäbchen wieder aus meiner Mutter entfernt. „So tief ist die Wunde mindestens“, meint sie und zeigt am Stäbchen gute zwanzig Zentimeter, „nach innen und zur Seite.“ Während der ganzen Untersuchung schreibe ich mit meinem Freund, doch jetzt halte ich inne, „so tief? Mama, vielleicht ist es wirklich besser, du gehst ins Krankenhaus, ich kann dich auch fahren!“ – „Nein Maus, heute nicht mehr, ich komme morgen noch mal her und dann kann mich deine Schwester fahren.“ Eigentlich bin ich dagegen, ich will, dass sie dort möglichst bald hinkommt. Gleichzeitig muss ich daran denken, dass ich morgen Geburtstag habe und sie mal wieder nicht da ist.

„Toller Geburtstag“, schießt es mir durch den Kopf, „irgendwie ist es jedes Jahr das gleiche, immer ist was und irgendwie ist alles scheiße.“ Ich denke daran, dass ich morgen ja auch noch arbeiten muss.
Morgen habe ich Frühschicht, die beginnt jetzt um 8:30 Uhr, habe ich heute erfahren und da wird neuerdings geputzt. Das heißt für mich, dass ich morgen alleine die Lobby und die Toiletten putzen muss. Wir öffnen auch nicht mehr um sieben, denn die Chefin hat festgestellt, dass die ersten Kunden erst so gegen neun oder später kommen, also öffnen wir jetzt zwei Stunden später. Mein Geburtstag beginnt also mit Toilettenputzen und Boden wischen. Aber damit habe ich noch nicht genug gearbeitet, um zwei habe ich zwar aus, aber dann muss ich mich sputen, denn um drei Uhr muss ich in Erlangen sein um Nachhilfe zu geben.

„So, fertig“, reißt mich die Arzthelferin aus meinen Gedanken. Wir fahren auf dem Weg nach Hause noch kurz bei einem Supermarkt vorbei, um mir ein Abendessen zu besorgen, da meine Mutter später mit ihrer Freundin essen geht. Die ganze Zeit bin ich den Tränen nahe. Beim Einkaufen merke ich, dass ich traurig bin. Statt ein ordentliches Abendessen auszusuchen, bettele ich meine Mutter erstmal um Schokolade und Kekse an. Letztendlich habe ich dann doch noch etwas gefunden – Schupfnudeln – zwar nicht das Gesündeste, aber besser als Schokolade.

Auf dem finalen Heimweg beichtet mir meine Mutter, dass sie nicht dazu gekommen ist, meine Muffins zu backen – die für meine Nachhilfeschüler. „Das ist schon ok“, versichere ich ihr, ich habe Verständnis, doch ein wenig enttäuscht bin ich schon, schließlich hat sie es mir versprochen.

Zu Hause angekommen, nimmt sie die Wäsche aus der Waschmaschine und hängt sie auf, während ich mir mein Essen mache. Gleichzeitig beginne ich damit, den Teig für die Muffins anzurühren. Draußen hupt jemand. „Das ist Brigitte, Jessi? Bist du so lieb und holst die Wäsche von draußen rein?“ – „Ja, ich hab ja sonst nichts Besseres zu tun“, murre ich und denke dabei an meine Hausarbeit, die Muffins und die Unterrichtsvorbereitung. „Ja, dann lass es“, antwortet meine Mutter leicht gereizt und geht. Ich rufe ihr noch hinterher, dass ich das schon mache und wünsche ihr viel Spaß. Sobald ich die Haustüre ins Schloss fallen höre, fange ich bitterlich an zu weinen. Es ist alles zu viel. Ich bin überfordert.

Die Hausarbeit – muss bis Sonntag nächste Woche fünfzehn Seiten lang sein. Bisher habe ich nichts, da mein Dozent alle zwei Tage eine neue Anmerkung hat. Zu allem Überfluss hat er gestern mein ganzes Konzept verworfen. Wie soll ich das schaffen? Ich weiß nicht, wo vorne und hinten ist, ich habe hierbei keinen Plan mehr!

Die Arbeit – ständig muss man um sein Recht kämpfen, wofür darf man sich denn wünschen, dass man frei hat, wenn es sowieso nicht beachtet wird? Wie kann es sein, dass man bei krankheitsbedingtem Ausfall auch einen Ausfall der Lohnzahlung erwarten muss? Und wieso fehlt hier der persönliche Bezug zu den Mitarbeitern?

Die Nachhilfe – jeden Donnerstag das Gleiche. Was mache ich mit meinen Mädels? Aber diesmal kommt die Frage dazu: Schaffe ich es rechtzeitig zum Unterricht?

Meine Mutter – wieso muss sie schon wieder ins Krankenhaus? Und kann das nicht endlich vorbei sein?

Meine Gesundheit – wieder habe ich diese Schmerzen im Bauch oder der Blase, kann das nicht einfach mal weg bleiben? Wieso muss ich deswegen nächste Woche wieder jeden Tag zum Arzt? Heißt das wieder lange Wartezeiten ohne Ergebnisse und dafür weniger Zeit für die Hausarbeit?

Mein Freund – kommt er morgen oder bin ich ganz alleine? Soll ich eine Freundin fragen, ob sie Zeit für mich hat?

Meine Rücken- und Nackenschmerzen – Wann hören sie endlich auf? Und wieso kommt alles zusammen? Ich darf wegen meiner Blase keinen richtigen Sport machen, wieso kann ich im Fitnessstudio nicht endlich etwas für meinen Rücken machen?

Es prasselt alles auf einmal auf mich ein und ich möchte mich gerne ducken, eine Festung um mich bauen, aber es geht zu schnell, da sind die ersten Gedanken schon mit mir kollidiert und reißen mir den Boden unter den Füßen weg. Ich habe das Gefühl in ein tiefes Loch zu fallen. Mir wird schlecht, ich habe das Gefühl, dass ich keine Luft mehr bekomme.
Nun stehe ich heulend in der Küche und fülle den Teig meiner Muffins in die Förmchen, schiebe das Blech in den Ofen und nehme mein Essen vom Herd.
Wie in Trance schiebe ich mir eine Schupfnudel nach der anderen in den Mund. Nachdem der Teller leer ist, räume ich ihn auf, mache den Ofen aus, hänge die Wäsche auf und gehe in mein Zimmer. Mittlerweile habe ich mich ein wenig beruhigt, bin aber immer noch total schlecht gelaunt. Leider ist der Erste den es erwischt mein Freund. Nachdem er mir offenbart hat, dass er kommt, habe ich immer wieder betont, wie scheiße der Tag morgen doch wird. Ein wenig erleichtert bin ich schon, dass er kommt, so muss ich nicht sauer auf ihn sein, wenn er das nicht macht. Denn ein bisschen schwach wäre das dann schon gewesen.

„Ich schmeiß alles hin“, beteuere ich und hoffe insgeheim auf sein Verständnis und Bestätigung. „Ich würde es verstehen, aber ob das gut ist, bzw. das Richtige, musst du selbst wissen.“ Toll, damit kann ich nicht viel anfangen, das ist ein Ja, ein Nein, ein Vielleicht. Ich erkläre ihm, dass ich das ja selbst nicht genau weiß, woraufhin er mir pro und contra aufzählt. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, denn ich bin schon wieder am Heulen und weil das nicht genug ist, werde ich auf einmal wütend. Nicht auf ihn, sondern auf mich. „Bringst du dein Leben eigentlich endlich mal auf die Reihe? Du bist echt zu unfähig erwachsen zu sein!“ Es wird immer schlimmer, meine Gedanken drehen sich im Kreis und der wird immer enger. Ich sehe rot. Vollkommen unkontrolliert schlage ich mir von beiden Seiten mit den Handballen gegen den Schädel, einmal, zweimal, dreimal – Stopp! – So geht das nicht. Meine Gedanken kreisen um Schmerzen und Verletzungen. In meinem Kopf spielt sich wieder und wieder der Film, wie ich ein Messer nehme und es mir seitlich in den Unterarm ramme oder auf den Oberschenkel und dann jeweils Richtung Torso ziehen. Doch es bleiben nur Gedanken – Mein Verstand siegt.

Meinem Freund sage ich, ich würde mich am Liebsten im Wald vergraben und nie wieder auftauchen. Das ist die Wahrheit, aber in solchen Momenten wünsche ich mir von ganzem Herzen einen Unfall. Dafür kann ich nichts, das passiert einfach und dann bin ich weg. Für immer. Einfach verschwunden.

Meine Gedanken kreisen nur noch darum, ich kapituliere und schließe das Dokument meiner Hausarbeit. Es zieht mich in mein Bett, also verabschiede ich mich von meinem Freund, der mich beunruhigt fragt, ob ich noch telefonieren will, Doch ich lehne ab. Ich will alleine sein. Meiner Trauer freien Lauf gewähren, einschlafen und glücklicher wieder aufwachen. Hoffentlich…
 
F

floppy

Gast
ziemlich bedrückend.
diese burn-out erscheinungen greifen wirklich um sich.
ich hoffe es geht dir besser.

liebe grüße, floppy.

p.s. insofern dieser eintrag nicht fiktiv ist.
 



 
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