Vororte
Ein langes Klingeln an der Wohnungstür ließ Karla aus einem komplizierten Traum aufschrecken. Gerade hielt ihr ein Polizist einen alten Ausweis entgegen, darin lag das Foto eines toten Mannes. Der Polizist fragte sie, ob sie das sei. Im Pass neben dem Foto stand ihr Name. Karla hätte gerne gewusst wie der Traum weiter gegangen wäre. Sie sah schnell zur Uhr, kurz nach zwei, bestimmt hatte sich jemand in der Tür geirrt – bei diesem Hochhaus kein Wunder, hier wohnten die wenigsten Mieter länger als ein Jahr. Karla lebte jetzt schon seit sieben Jahren hier. Ihrem Bedürfnis so wenig wie möglich zu wohnen, kam dieser Ort sehr entgegen. Es war die betonierte Version einer Zeltstadt für Urbannomaden - nichts endgültiges nur eine Station. Darum hielt sie es hier auch länger aus, als in den schönen Wohnungen und Häusern, die immer mit Hoffnungen und einer Zukunft verbunden waren. Dieser Ort stellte keine Glückserwartung an seine Bewohner. Das Klingeln hörte nicht auf, seufzend stand Karla auf, angelte nach den dicken Socken die sie in der Wohnung immer trug, zog ihr langes Nachthemd herunter und zwang ihren Körper, der noch in ihrem Traum verweilen wollte, zur Tür zu gehen.
„Sie haben sich in der Tür geirrt, würden sie bitte sofort ihren Finger von der Klingel nehmen,“
rief Karla mit schlafrauer Stimme, während sie durch den Spion sah.
Den Mann der vor der Tür stand, hatte sie schon gesehen, wahrscheinlich im Aufzug. Es war ihr allerdings völlig gleichgültig, ob sie ihn kannte oder nicht, sie wollte zurück in ihren Traum, wollte erfahren, ob sie der tote Mann im Ausweis war, sehnte sich nach dem Augenblick, wenn ihr Körper sich wieder unter der Decke ausstrecken konnte. Manchmal dachte sie, kein anderer Mensch konnte es so genießen wie sie, ins Bett zu gehen - sich erst hineinzusetzen, die Kissen noch einmal richten, ein Buch zu greifen, die Lampe in die richtige Position bringen, um sich dann endlich mit aller Hingabe vom Bett umarmen zu lassen. Karla dachte manchmal, dies muss ein Mann fühlen, wenn er in eine Frau eindringt. Dieser Moment war in den letzten Jahren zu ihrem Orgasmus geworden, der Höhepunkt des Tages, manchmal schien er der einzige Grund zu sein, das Haus zu verlassen in ihre Buchhandlung zu gehen, zu arbeiten und zu leben. Es war natürlich nicht wirklich so, sie liebte ihr Geschäft, unterhielt sich mit vielen interessanten Menschen, hatte Freunde. Der Mann klingelte nicht mehr, blieb aber vor der Tür stehen. Durch die Verzerrung des Spions sah er sehr merkwürdig aus, offenbar kam er gerade aus seiner Wohnung, er trug einen dunkelroten Bademantel, seine Arme hingen schlaff herunter, den Haarschopf hatte der Schlaf zerzaust, nur seine Augen waren wach und starrten in das kleine Loch in ihrer Tür.
Karla riss sich zusammen, wenn er aus dem Haus war, musste entweder etwas passiert sein, oder er hatte sich ausgesperrt.
Karla entschloss sich, die Tür zu öffnen, legte aber erst die Sicherheitskette vor. Obwohl sie ja mit ihren Mitte fünfzig für einen so jungen Mann wahrscheinlich nicht mehr der Anlass war, aus dem Bett zu schlüpfen, wenn ihn eine Sehnsucht überkam. Durch den Türspalt linsend fragte sie,
„ist etwas passiert? Kann ich etwas für sie tun, soll ich jemanden holen - einen Arzt oder die Polizei?“
Ihr schoss durch den Kopf - es wird doch hoffentlich nicht brennen – sie streckte den Kopf vor und schnupperte in den Gang. Nichts, kein Rauchgeruch, stellte sie erleichtert fest.
Der Mann musste ihren kurzen Schreck bemerkt haben, er hob besänftigend die Hände,
„es ist nichts passiert, sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich weiß nicht, ob sie sich an mich erinnern, wir sind uns einige Male im Aufzug begegnet, ich wohne unter ihnen im achten Stock.“
Karla war etwas ratlos,
„warum klingeln sie dann bei mir, irgendetwas muss doch sein, wenn sie mich um halb drei wecken.“
Der Mann hob den Kopf, sah verlegen aber konzentriert in die Neonbeleuchtung des Flurs und meinte,
„ich habe auch schon bei anderen geklingelt, aber keiner hat mich ausreden lassen. Könnten sie mir bitte fünf Minuten zuhören und ihre Meinung sagen. Dann gehe ich sofort wieder. Wäre das möglich?“
Karla wusste nicht was sie dazu sagen sollte, so brummte sie so etwas wie eine Zustimmung und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Türrahmen.
Der junge Mann fing ohne Umschweife an, seine Stimme war etwas höher als vorher, Karla merkte dass er sich vorher jedes Wort zurechtgelegt hatte.
„Ich wohne mit meiner Frau und unserem Kind seit einem halben Jahr hier - wir haben jetzt ein schönes Haus am Stadtrand gefunden. Morgen ist der Umzug.“
Er atmete tief durch bevor er weiter sprach,
„vor drei Monaten habe ich eine andere Frau kennen gelernt. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll, ich war noch nie so verrückt nach einem anderen Menschen, es ist Lust und Liebe. Wenn ich bei ihr bin, gehört mir die ganze Welt. Trotzdem weiß ich, wenn ich morgen mit meiner Frau und dem Kind in das Haus ziehe, wird es eine Entscheidung sein, die ich nicht wieder rückgängig machen kann. Das andere habe ich dann verloren. Was soll ich tun? Ich weiß es einfach nicht, ich werde das machen, wozu sie mir raten. Ich kann mich nicht selber entscheiden.“
Karla verstand sofort, warum ist sie selber damals nicht auf die Idee gekommen bei den Nachbarn zu klingeln? So fragte sie,
„lieben sie ihre Frau?“
„natürlich liebe ich meine Frau und unsere Tochter, das ist etwas völlig anderes. Bei dieser anderen Frau fühle ich mich vollkommen. Ich weiß das klingt komisch, aber es ist eine Spannung die sich in wunschlosem Glück entlädt.“
Karla räusperte sich, bevor sie mit sorgfältig gewählten Worten antwortete, die gleichen die ihr die beiden Male geholfen hatten, als sie vor so einer Entscheidung stand.
„Sie verwechseln da Liebe und Leidenschaft, wenn sie ihre Frau lieben, dann bleiben sie bei ihr und dem Kind. Die Beziehung zu der anderen Frau hat keine Perspektive und keine Zukunft, die Leidenschaft flacht ab, dieses Gefühl reicht nicht für eine Partnerschaft. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Der Mann sah kurz zu Boden und nickte,
„danke sie haben mir sehr geholfen.“
Mit diesen Worten verschwand er aus Karlas Blickfeld und sie schloss erleichtert die Wohnungstür. Mit einem befriedigten Lächeln ging sie in das Schlafzimmer, manchmal war es doch gut, älter zu sein, dies alles zu kennen. Während sie in ihr leeres Bett schlüpfte, erwachte in ihr ein unangenehmer Gedanke. Wenn sie bereits zweimal die richtige Entscheidung getroffen hatte, warum hatten dann ihre beiden Ehen nicht gehalten? War es vielleicht gar nicht die Entscheidung zwischen Liebe und Leidenschaft, sondern eher eine zwischen Vernunft und Liebe?
Karla gefiel diese Vorstellung nicht. Aber sobald sie sich der Umarmung ihres Bettes hingegeben hatte, war alles vergessen. Am nächsten Morgen sah sie dem Möbelwagen vor der Haustüre parken, der Mann von gestern Abend hievte grade einen Karton in den Lastwagen, er sah fröhlich aus und als er sie erkannte winkte er ihr zu und rief,
„vielen, vielen dank für ihre Hilfe.“
Ein langes Klingeln an der Wohnungstür ließ Karla aus einem komplizierten Traum aufschrecken. Gerade hielt ihr ein Polizist einen alten Ausweis entgegen, darin lag das Foto eines toten Mannes. Der Polizist fragte sie, ob sie das sei. Im Pass neben dem Foto stand ihr Name. Karla hätte gerne gewusst wie der Traum weiter gegangen wäre. Sie sah schnell zur Uhr, kurz nach zwei, bestimmt hatte sich jemand in der Tür geirrt – bei diesem Hochhaus kein Wunder, hier wohnten die wenigsten Mieter länger als ein Jahr. Karla lebte jetzt schon seit sieben Jahren hier. Ihrem Bedürfnis so wenig wie möglich zu wohnen, kam dieser Ort sehr entgegen. Es war die betonierte Version einer Zeltstadt für Urbannomaden - nichts endgültiges nur eine Station. Darum hielt sie es hier auch länger aus, als in den schönen Wohnungen und Häusern, die immer mit Hoffnungen und einer Zukunft verbunden waren. Dieser Ort stellte keine Glückserwartung an seine Bewohner. Das Klingeln hörte nicht auf, seufzend stand Karla auf, angelte nach den dicken Socken die sie in der Wohnung immer trug, zog ihr langes Nachthemd herunter und zwang ihren Körper, der noch in ihrem Traum verweilen wollte, zur Tür zu gehen.
„Sie haben sich in der Tür geirrt, würden sie bitte sofort ihren Finger von der Klingel nehmen,“
rief Karla mit schlafrauer Stimme, während sie durch den Spion sah.
Den Mann der vor der Tür stand, hatte sie schon gesehen, wahrscheinlich im Aufzug. Es war ihr allerdings völlig gleichgültig, ob sie ihn kannte oder nicht, sie wollte zurück in ihren Traum, wollte erfahren, ob sie der tote Mann im Ausweis war, sehnte sich nach dem Augenblick, wenn ihr Körper sich wieder unter der Decke ausstrecken konnte. Manchmal dachte sie, kein anderer Mensch konnte es so genießen wie sie, ins Bett zu gehen - sich erst hineinzusetzen, die Kissen noch einmal richten, ein Buch zu greifen, die Lampe in die richtige Position bringen, um sich dann endlich mit aller Hingabe vom Bett umarmen zu lassen. Karla dachte manchmal, dies muss ein Mann fühlen, wenn er in eine Frau eindringt. Dieser Moment war in den letzten Jahren zu ihrem Orgasmus geworden, der Höhepunkt des Tages, manchmal schien er der einzige Grund zu sein, das Haus zu verlassen in ihre Buchhandlung zu gehen, zu arbeiten und zu leben. Es war natürlich nicht wirklich so, sie liebte ihr Geschäft, unterhielt sich mit vielen interessanten Menschen, hatte Freunde. Der Mann klingelte nicht mehr, blieb aber vor der Tür stehen. Durch die Verzerrung des Spions sah er sehr merkwürdig aus, offenbar kam er gerade aus seiner Wohnung, er trug einen dunkelroten Bademantel, seine Arme hingen schlaff herunter, den Haarschopf hatte der Schlaf zerzaust, nur seine Augen waren wach und starrten in das kleine Loch in ihrer Tür.
Karla riss sich zusammen, wenn er aus dem Haus war, musste entweder etwas passiert sein, oder er hatte sich ausgesperrt.
Karla entschloss sich, die Tür zu öffnen, legte aber erst die Sicherheitskette vor. Obwohl sie ja mit ihren Mitte fünfzig für einen so jungen Mann wahrscheinlich nicht mehr der Anlass war, aus dem Bett zu schlüpfen, wenn ihn eine Sehnsucht überkam. Durch den Türspalt linsend fragte sie,
„ist etwas passiert? Kann ich etwas für sie tun, soll ich jemanden holen - einen Arzt oder die Polizei?“
Ihr schoss durch den Kopf - es wird doch hoffentlich nicht brennen – sie streckte den Kopf vor und schnupperte in den Gang. Nichts, kein Rauchgeruch, stellte sie erleichtert fest.
Der Mann musste ihren kurzen Schreck bemerkt haben, er hob besänftigend die Hände,
„es ist nichts passiert, sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich weiß nicht, ob sie sich an mich erinnern, wir sind uns einige Male im Aufzug begegnet, ich wohne unter ihnen im achten Stock.“
Karla war etwas ratlos,
„warum klingeln sie dann bei mir, irgendetwas muss doch sein, wenn sie mich um halb drei wecken.“
Der Mann hob den Kopf, sah verlegen aber konzentriert in die Neonbeleuchtung des Flurs und meinte,
„ich habe auch schon bei anderen geklingelt, aber keiner hat mich ausreden lassen. Könnten sie mir bitte fünf Minuten zuhören und ihre Meinung sagen. Dann gehe ich sofort wieder. Wäre das möglich?“
Karla wusste nicht was sie dazu sagen sollte, so brummte sie so etwas wie eine Zustimmung und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Türrahmen.
Der junge Mann fing ohne Umschweife an, seine Stimme war etwas höher als vorher, Karla merkte dass er sich vorher jedes Wort zurechtgelegt hatte.
„Ich wohne mit meiner Frau und unserem Kind seit einem halben Jahr hier - wir haben jetzt ein schönes Haus am Stadtrand gefunden. Morgen ist der Umzug.“
Er atmete tief durch bevor er weiter sprach,
„vor drei Monaten habe ich eine andere Frau kennen gelernt. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll, ich war noch nie so verrückt nach einem anderen Menschen, es ist Lust und Liebe. Wenn ich bei ihr bin, gehört mir die ganze Welt. Trotzdem weiß ich, wenn ich morgen mit meiner Frau und dem Kind in das Haus ziehe, wird es eine Entscheidung sein, die ich nicht wieder rückgängig machen kann. Das andere habe ich dann verloren. Was soll ich tun? Ich weiß es einfach nicht, ich werde das machen, wozu sie mir raten. Ich kann mich nicht selber entscheiden.“
Karla verstand sofort, warum ist sie selber damals nicht auf die Idee gekommen bei den Nachbarn zu klingeln? So fragte sie,
„lieben sie ihre Frau?“
„natürlich liebe ich meine Frau und unsere Tochter, das ist etwas völlig anderes. Bei dieser anderen Frau fühle ich mich vollkommen. Ich weiß das klingt komisch, aber es ist eine Spannung die sich in wunschlosem Glück entlädt.“
Karla räusperte sich, bevor sie mit sorgfältig gewählten Worten antwortete, die gleichen die ihr die beiden Male geholfen hatten, als sie vor so einer Entscheidung stand.
„Sie verwechseln da Liebe und Leidenschaft, wenn sie ihre Frau lieben, dann bleiben sie bei ihr und dem Kind. Die Beziehung zu der anderen Frau hat keine Perspektive und keine Zukunft, die Leidenschaft flacht ab, dieses Gefühl reicht nicht für eine Partnerschaft. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Der Mann sah kurz zu Boden und nickte,
„danke sie haben mir sehr geholfen.“
Mit diesen Worten verschwand er aus Karlas Blickfeld und sie schloss erleichtert die Wohnungstür. Mit einem befriedigten Lächeln ging sie in das Schlafzimmer, manchmal war es doch gut, älter zu sein, dies alles zu kennen. Während sie in ihr leeres Bett schlüpfte, erwachte in ihr ein unangenehmer Gedanke. Wenn sie bereits zweimal die richtige Entscheidung getroffen hatte, warum hatten dann ihre beiden Ehen nicht gehalten? War es vielleicht gar nicht die Entscheidung zwischen Liebe und Leidenschaft, sondern eher eine zwischen Vernunft und Liebe?
Karla gefiel diese Vorstellung nicht. Aber sobald sie sich der Umarmung ihres Bettes hingegeben hatte, war alles vergessen. Am nächsten Morgen sah sie dem Möbelwagen vor der Haustüre parken, der Mann von gestern Abend hievte grade einen Karton in den Lastwagen, er sah fröhlich aus und als er sie erkannte winkte er ihr zu und rief,
„vielen, vielen dank für ihre Hilfe.“