Wandern

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karlai

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Wandern

Wir müssen zuerst die Ostsee sehen, nachdem wir aus dem Zug gestiegen sind. Sechs Stunden Zugreise – nun endlich die Ostsee! Und gehen schon, und gehen, und sind schon unterwegs, ohne es zu bemerken: zum Wasser, am Strand entlang nach Norden, durch Sand und Schlick und über Steine, mit den Füßen durch das Meer, das so kalt ist, dass sich die Haut sogleich rot färbt.

Solange Wind, Wasser, Farben, Formen und Gerüche mich faszinieren, ist von der Beschwernis nichts zu spüren. Ich bücke mich dann und wann nach einem kleinen Bernstein oder einer Versteinerung. Darin habe ich Übung und Talent! Ich weiß schon, wie es geht, Kostbares aufzuheben und mitzunehmen!

Auf der linken Seite ziehen sich hinter den Bäumen über 4,5 Kilometer gespenstige Bauten aus Hitlers Zeiten entlang. Bis heute hat man nicht geschafft, sie abzureißen, und anscheinend aus Verzweiflung darüber fängt man nun an, einzelne Teile davon zu renovieren, auszubauen und zu nutzen.
Nachdem wir den Strand verlassen, kommen wir in Buchenwälder. Die Anemonen sind im Begriff, aufzublühen: Teppiche bis zum Horizont, noch zartweiß, ohne Üppigkeit, die sie bereits fest versprechen.

Gegen Abend verlaufen wir uns kreuz und quer in den Buchenwäldern zwischen Hügeln und Tälern, Bächlein und Sümpfen und kommen schließlich durch eine gigantische Gespensterstadt. An zahllosen Bunker und Baracken kommen wir vorbei, manche ganz verfallen, manche recht gut erhalten, an unheimlichen betongerahmten Eingängen, die in bewaldete Hügel hineinführen. „Schade, dass ich meine Taschenlampe nicht mithabe“, meint der zögerliche Theo, während ich den nächsten Eingang schon passiert habe. Meine Schritte hallen. Ich rufe einen Ton, um den Raum abzuschätzen. Mein Ton hallt und klingt und bildet Echos. Grandiose Akustik – große Halle unter dem Hügel. Ich singe Dreiklänge, die beeindruckend laut und voll den Raum füllen und Theo auch herbeilocken. „Lass uns einen Kanon singen!“ „Ich trau mich nicht!“ Ich singe ein Lied. Er singt es nach, ich stimme wieder ein. Das Echo singt mit. Ein ganzer Chor erklingt mit wunderbaren Stimmen, mehr und mehr Stimmen kommen hinzu. Konzert! Stimmgewaltig! – und dann klingt es aus. Die Stille danach ist beinahe ebenso beeindruckend.

Wieder hinaus aus dem fremden Gebiet unwirklicher Atmosphäre, raus aus Ohne-Auge-Ganz-Ohr-Land, zurück in den dämmerigen Wald! Immer mehr Gebäude stehen am Wege, Geisterhäuser. Riesengroß und schattenhaft tauchen sie hinter den Bäumen auf. Silberglänzende Rohre von bestimmt vierzig Zentimetern Durchmesser werden hoch durch den Wald geführt, Hunderte von Metern weit, gehalten von primitiven Holzgestellen, um dann irgendwo abzureißen und an ganz anderer Stelle wieder zu beginnen. Vielstöckige Betonkästen mit zahllosen Fenstern oder auch nur scheibenlosen Fensterlöchern, lange Baracken mit offenstehenden Türen und Fenstern, winzige Häuschen und riesige Hallen, alles seit Jahrzehnten unbenutzt und zum Teil zerstört und überwachsen, zum Teil noch recht gut erhalten. Sogar Prunkbauten sind dabei wie dieses herrlich gelbe Schloss ohne Dach, in dem hinter prächtigen Fassaden und stuckverzierten Fenstern Buchen wachsen; monumentale Bauten, deren riesenhafte Säulen zum Teil noch stehen und zum Teil neben umgestürzten Buchenstämmen liegen, die irgendwann einem Sturm zum Opfer gefallen sind. Wie gefallene Soldatenbrüder liegen sie nebeneinander.

Nach vielem Kreuz und Quer und Hin und Her durch die Wälder und Geistergebiete kommen wir schließlich in Sassnitz an. Unten im Hafen treffen wir auf einen Mann mit hustendem Hund und grauenhaftem Berliner Dialekt. Er schildert, wie vor zwei Wochen der Sturm an der Küste wütete und wieder große Teile der Steilküste mitgenommen hat. Vom Leuchtturm habe er ein Foto gemacht. „Der dort, siehst du den? Fünfzehn Meter ist er hoch, aber die Welle, die ich zufällig fotografiert habe, die war mehr als doppelt so hoch!“ Ich will ihn überreden, das Foto zu holen oder uns zu sich mitzunehmen, damit wir es anschauen könnten, aber es klappt nicht. So distanzlos ist Theo nicht, und so boykottiert er meinen Plan dezent.

„Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Das nächste Hotel nehmen wir.“

Das nächste Hotel ist gleich um die Ecke, oben auf dem Steilufer, der Balkon geht aufs Meer hinaus. Ich lasse mich aufs Bett fallen, Theo plumpst daneben auf die Tagesdecke, Schuhe aus, Füße hängen runter, sechs Uhr ist es, Abendbrotzeit. Gleich wollen wir uns ein Restaurant suchen, wir haben einen Bärenhunger.

Das Abendessen haben wir verpasst: Aufgewacht sind wir um sieben Uhr morgens in Jacken und Socken und Hosen voller Schlamm am Saum.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo karlai,

eine schöne unaufgeregte Schilderung eines beeindruckenden Tages hast Du da geliefert.
In Gedanken bin ich eine Teilstrecke mitgewandert – zumindest bis zu den Bauten von Prora, die mich seit Jahren bei jedem Besuch wieder faszinieren.
Bis heute hat man nicht geschafft, sie abzureißen, und anscheinend aus Verzweiflung darüber fängt man nun an, einzelne Teile davon zu renovieren, auszubauen und zu nutzen.
Ganz so einfach ist es nicht: Prora hat eine sehr wechselvolle Geschichte hinter sich, ist – ohne je seiner ursprünglichen Bestimmung als KdF-Erholungsstätte zugeführt worden zu sein - von der Wehrmacht, der NVA und der Bundeswehr genutzt worden. Man hat über die Jahrzehnte immer wieder Pläne zur weiteren Nutzung ausgearbeitet, wieder verworfen, in Teilen mit dem Umbau begonnen. Abreißen wird man diese Massen von Beton wohl nie. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob dieser Koloss mehr Schandfleck oder Mahnmal darstellt, ich glaube, er ist von beidem etwas.

Gruß Ciconia
 

karlai

Mitglied
Hallo Ciconia,

jedenfalls scheinen einige kreative Köpfe sich dort nun ein individuelles Zuhause in schöner Lage zu schaffen. Hier und da wird herumgebaut, und stellenweise kommt viel Farbe ins Spiel.

Danke für die Antwort und Infos zu den Hintergründen!

Grüße! k.

(Wie funktioniert das jetzt hier? Per Mail schicken? Kategorie? ... ?)
 

Hagen

Mitglied
Hallo Karlai, Hallo Ciconia!

Ein sehr schöner Bericht einer Wanderung. In Gedanken bin ich auch mitgewandert, aber meine alten Knochen machen sowas nicht mehr mit.
Da fahre ich lieber mit dem Auto und suche ‘Ruinenbauten‘ auf, denn diese üben auf mich eine gewisse Faszination aus.
Da sind wir auch schon auf dem Punkt, denn unser Freund Karlai kann unmöglich auf oder in Prora rumgestolpert sein!

1. Prora liegt bei Binz, eine Entfernung, die vom Bahnhof zu Sassnitz, er liegt etwas abgelegen von Sassnitz und hat einen Anschluss an die Fähren, ebenso bedient das Eisenbahnstreckennetz der Deutschen Bahn AG das Stralsund–(Rügendamm)–Bergen–Sassnitz (Kursbuchstrecke KBS 195). Diese Strecke kann man an einem Tag, auch nach sechsstündiger Bahnfahrt ‘erwandern‘, sogar wenn man sich etwas verläuft.
2. Um vom Bahnhof Sassnitz nach Binz (wo Prora liegt) und zurück nach Sassnitz zu wandern, bedarf es schon etwas mehr.
3. Prora besitzt keine ‘Prachtbauten‘!
4. Prora ist eingezäunt und touristisch soweit erschlossen, dass unser Freund Karlai dem einen oder anderen Touristen begegnet wäre. Leider gibt er keine Auskunft, zu welcher Jahreszeit er mit seinem Freund Theo gewandert ist. Ich nehme aber an, dass es vor kurzen geschah. (durch Sand und Schlick und über Steine, mit den Füßen durch das Meer, das so kalt ist, dass sich die Haut sogleich rot färbt … Die Anemonen sind im Begriff, aufzublühen: Teppiche bis zum Horizont, noch zartweiß, ohne Üppigkeit, die sie bereits fest versprechen.)
5. Karlai ist nach Norden gewandert, die Ostsee lieg somit rechts,
„Auf der linken Seite ziehen sich hinter den Bäumen über 4,5 Kilometer gespenstige Bauten aus Hitlers Zeiten entlang.“
6. Prora ist deutlich länger als die vergleichsweise lächerlichen 4,5 Kilometer.
7. Unser Freund Karlai dürfte, der Beschreibung nach, in den Ruinen von Schloss Dwasiden rumgestolpert sein und es für Prora gehalten haben. (Wikipedia) Ein für einen Laien verzeihlicher Fauxpas.

Diese Information war nicht böse gemeint, sie diente nur dazu, etwas von meinem ‘nutzlosen Wissen‘ loszuwerden.

Viele liebe Grüße an unseren Freund Karlai und natürlich auch Ciconia
Yours Hagen
_______
Erfahrung ist eine äußerst nützliche Sache.
Leider hat man sie erst nachdem man sie braucht.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Hagen,

ich bin davon ausgegangen, dass die Wanderung in Binz begann – auch dort gibt es einen „Großbahnhof“ für Fernzüge (neben dem „Kleinbahnhof“ für den Rasenden Roland). Bei einer Wanderung nach Norden liegt die Ostsee rechts, Prora also links vom Strand = Wanderstrecke.
Der eigentliche Gebäudekomplex von Prora ist übrigens genau 4,5 km lang, kann man nachlesen.
Eine Strecke von Binz nach Sassnitz, auch mit kleinen Umwegen, ist für geübte Wanderer durchaus an einem halben Tag zu schaffen, denke ich.

Aber überlassen wir es doch dem Autor, Unklarheiten zu beseitigen.

Beste Sonntagsgrüße
Ciconia
 

ENachtigall

Mitglied
Willkommen an Bord, karlai!

Für mich hat diese Reisebeschreibung fantastische Anklänge, die auf eine entweder Traumspuren tragende oder dem Kunstgriff des Zeitraffers geschuldete Verfremdung hindeuten könnten.
Dass mir die Topologie der Wanderlandschaft gänzlich unbekannt ist, sei erwähnt.

Sprachlich hat mich der Text voll eingefangen.

Lieben Gruß,

Elke
 

karlai

Mitglied
Danke, Elke,

auch dir, Hagen, danke für den Kommentar.

Ich nehme mal an, man "soll" hier eher über Schreibtechnisches diskutieren und nicht über den Inhalt von Berichten ;-) - hoffe, man hat Freiheiten hier...

Ich stehe Rede und Antwort zu den inhaltlichen Fragen, im Kommentar:

Die Wanderung hat Mitte April 2013 stattgefinden. Wir sind in Binz aus dem Zug gestiegen, zum Strand, und am Strand Richtung Sassnitz - waren dafür einen halben Tag zu Fuß unterwegs. Die anderes Hälfte ist mit Zugfahren draufgegangen.

Es ist richtig, zunächst sind wie an "Prora" vorbeigekommen, und die erwähnte Geisterstadt lag bei Sassnitz. Es muss sich tatsächlich um Dwasiden gehandelt habe, wie ich - zu meiner Schande gestehe ich: erst jetzt! - nachgeschaut habe.

4,5 km habe ich geschätzt anhand der Zeit, die wir benötigt haben, um an Prora vorbeizukommen. Von Einzäunungen habe ich nichts gesehen - vielleicht habe ich auch nicht das gesamte "Prora" gesehen, es lag ja zum Teil hinter Bäumen. Und es waren jedenfalls auch keine Touristen unterwegs.

Alle (Un-)Klarheiten beseitigt?
 

Hagen

Mitglied
Hallo Karlai,

ich hoffe, es sind nun alle zufrieden.
Ciconia, Elke und ich auch, zumal ich etwas von meinem ansonsten "nutzlosen Wissen" loswerden konnte.
Über den literarischen Gehalt kann ich (noch) nichts sagen.
Ich hoffe aber, wir werden noch viel von Dir zu lesen bekommen.

Liebe Grüße
yours Hagen

_________
nichts endet wie geplant!
 



 
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