Muchnara 7
Warum nur?
Einen Monat später
Keron sah durch das geschlossene Küchenfenster hinaus. Schweigend kaute er auf seinem Schinkenbrot und beobachtete, wie die schweren Regentropfen gegen das dicke Glas schlugen, das zwar Licht hineinließ, aber zu verzerrend und trübe war, um mehr als die groben Umrisse von der neuen Scheune erkennen zu können. Doch war seine Aufmerksamkeit ohnehin weniger auf das Fenster gerichtet als auf das unregelmäßige Kratzen und Schaben hinter seinem Rücken. Manchmal wurde es unterbrochen, dann lauschte er aufmerksam.
„Wie viel ist 18 mal 36?“
Aylenes Aufgabe ließ Farah beim Schnitzen innehalten. Sie sah von ihrem Holzbild auf, und man konnte sehen, wie angestrengt sie nachdachte.
„18 mal 36? ... das ... das ist aber...“, meinte sie zögernd.
„Nicht ‚aber’, sondern ausrechnen“, mahnte Aylene. „360 plus 240 plus ?“
„Plus 48?“
„Ja, also zusammen?“
Keron ertappte sich, wie er versuchte, mit seiner Tochter um die Wette zu rechnen.
„648!“, rief Farah laut.
„Sehr gut!“, lobte Aylene, „so schnell war ich in deinem Alter nicht. Wenn du so weitermachst, wird dich kein Händler über das Ohr hauen.“
„Nein, aber ich ihn!“, freute sich Farah hörbar.
Keron drehte sich langsam um und sah unauffällig seine Tochter an. Sie saß zusammen mit Aylene an dem großen Küchentisch, und nahm mit ihrem von der Anstrengung immer noch geröteten Gesicht wieder das kleine Schnitzeisen auf, um sich erneut ihrem Werk zuzuwenden. Wie beabsichtigt bemerkte sie nicht seinen stolzen Blick, so konnte er ihn einen Moment lang auf ihr ruhen lassen und sich mit ihr in jener Verbundenheit über die erbrachte Leistung freuen, die man nicht erklären, sondern nur erleben kann.
„Eine heiße Milch?“, fragte Hilde und stellte einen dampfenden Becher auf den Tisch.
Farah nickte und nahm den Becher in beide Hände. Hilde deutete auf das Brett:
„Sieht schon ganz gut aus. Welcher Vogel wird das?“, fragte sie interessiert.
„Ein Graukopfsittich, Oma“, antwortete Farah. „Mit deinem Schnitzeisen ist es einfach.“
Wie gut sie jetzt miteinander auskommen!, dachte Keron, Und es ist so einfach, nur etwas Aufmerksamkeit. Doch wir waren blind. Sein Blick schweifte hinüber zu Aylene, die ihn ebenso wenig bemerkte wie zuvor seine Tochter. Er fand, dass ihr großer hagerer Körper und ihr schmales Gesicht mit den kurzen schwarzen Haaren und den ebenso schwarzen Augen etwas Strenges an sich hatten, was durch die gebildet und neuerdings manchmal leicht aristokratisch wirkende Stimme noch unterstrichen wurde. Seltsamerweise schien Farah das nicht zu stören, sondern zu bewundern.
Plötzlich drehte Aylene ihren Kopf und sah ihn an.
„Durch den Regen ist die Strauchwolle zu nass zum ernten, deshalb kannst du mir besser beim Feuerholz helfen“, sagte Keron rasch.
„Natürlich, Keron. Wann sollen wir los?“
„Nach dem Essen. Hoffentlich ist es dann trockener.“
Aylene nickte, dann wandte sie sich wieder Farah zu, man konnte sehen, wie sie bereits über ihre nächste Rechenaufgabe nachdachte.
Am frühen Nachmittag gingen Keron und Aylene zusammen in den Wald. Er lag im Westen, wo er ein sanft geschwungenes Tal zwischen zwei kleinen Bergen ausfüllte. Einst reichte er bis an den Hof heran, doch durch den Raubbau der vorherigen Besitzer war der Waldrand nun fast eine Wegstunde entfernt. Dazwischen befand sich eine Mischung aus Gräsern und Büschen, die zwar mehr als mannshoch wuchsen, aber zu nichts nutze waren, außer dass sie den trockenen Boden vor der vollständigen Verwüstung bewahrten.
Die Baragnars hatten aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt und schonten den restlichen Wald so gut sie konnten. Entsprechend wurde das Feuerholz nicht geschlagen, sondern in Form von abgestorbenen Ästen eingesammelt. So dauerte es länger, dafür erforderte es weniger Kraft.
Nachdem sie etwa zwei Stunden lang einen großen Haufen an Feuerholz angesammelt hatten, teilten Aylene und Keron ihn in zwei Bündel auf und halfen sich dann gegenseitig, sie auf den Rücken zu schnallen.
Aylene schwankte unter der Last, bis sie sich nach einigen Schritten an sie gewöhnt hatte. Sie beobachtete, dass es dem vor ihr gehenden Keron nicht besser erging, hatte er sich doch die doppelte Last aufgebürdet. Sie hatte ihn nicht darum bitten müssen, im Gegenteil.
Der Rückweg war schwierig. Es war weniger das Gewicht ihrer Bündel, was sie behinderte, sondern einige sperrige, seitlich weit aus ihnen herausragende Zweige, mit denen sie sich immer wieder in den umgebenden Büschen verhakten. Gelegentlich geschah das so ruckhaft, dass man aus dem Gleichgewicht geriet und sogar stürzte. Schließlich klagte Keron:
„Ist das schwer! Es wird Zeit, dass wir unseren neuen Karren bekommen.“
„Was ist denn mit dem alten Karren passiert?“
„Verbrannt. Er war in der Scheune, die du angezündet hast. Dabei stand er mitten drin und sollte nicht zu übersehen gewesen sein“, antwortete er trocken. „Beim nächsten Mal rollst du ihn vorher raus, ja?“, fügte er nach einer kurzen Pause scherzend hinzu.
„Natürlich“, scherzte Aylene zurück, „dann werde ich später nicht so schleppen müssen.“
Das Feuerholz sollte in der neuen Scheune gelagert werden. Als sie endlich in Sicht kam, es war inzwischen später Nachmittag geworden, konnte Aylene sehen, wie sich die Sonne auf ihrer hellen Holzwand spiegelte.
„Magst du etwas Herbtee?“, fragte Keron wenige Schritte vor dem offenen Scheunentor.
„Du meinst dieses bittere Wasser?“, fragte Aylene skeptisch.
„Es ist herb und nicht bitter“, meinte Keron. „Du kannst aber auch Rottee haben. Ragar hat nach der Anstrengung bestimmt einen Schluck für dich über.“
„Stimmt doch, oder? Ragar?“, rief er in die Scheune und trat ein.
Die Scheune schien leer. Keron ging zum Ablageplatz für das Feuerholz und ließ seine Last von den Schultern gleiten.
„Er macht wohl gerade eine Pause“, meinte er und half Aylene beim Abladen. „Irgendwo wird schon ein Krug sein...“ Suchend sah er sich um.
„Vater!“, schrie er auf und rannte quer durch die Scheune.
Aylene bemerkte jetzt auch die leblose Gestalt, die zusammengekrümmt in der gegenüberliegenden Ecke lag.
„Oh!“, rief Aylene aus und rannte ebenfalls los.
Keron warf sich vor dem leblosen Körper auf die Knie und beugte sich gerade über ihn, als Aylene hinzukam. Auch sie kniete sich hin. Es war Ragar. Sie sah, was geschehen war, und diese Erkenntnis schlug ihr dumpf in die Magengrube.
„Was ist mit ihm?“, fragte Keron hilflos.
„Er ist ermordet worden“, antwortete Aylene tonlos.
„Ermordet?“
„Sein Hals ist durchschnitten worden“, hörte Aylene sich sagen.
Dies war zu unwirklich, sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Sie hob ihre Hand hoch, auf der sie sich abgestützt hatte, und sah sie an. Sie war rot vor Blut, und es klebte nicht nur an der Hand, sondern auch an beiden Schienbeinen und Knien. Aylene richtete sich auf, und fast wäre sie dabei in der Blutlache ausgerutscht, in der sie sich nun wiederfand. Sie kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder. Seltsamerweise war es der Gedanke, sich auf keinen Fall über Ragars Körper erbrechen zu wollen, der ihre Gedanken wieder in geordnete Bahnen lenkte.
„Wir müssen nach den Anderen sehen“, meinte sie.
Kerons Kopf ruckte zu ihr herum und starrte sie an, dann lief er los.
Aylene folgte ihm, doch im Gegensatz zu ihm lief sie nicht, sondern ging mit großen Schritten zum Wohnhaus. Jetzt herrschte eine unnatürliche Klarheit in ihrem Kopf, die jegliche Emotion unterdrückte. Sie glaubte zu wissen, was folgen würde. Es war bereits unabänderlich geschehen. Jetzt war wichtig, die Nerven zu behalten.
Auf den ersten Blick saß Hilde scheinbar ruhig und mit müden aber offenen Augen auf einem Stuhl in ihrer Küche. Erst die totenartige Blässe und das eingefallene Gesicht deuteten an, was der doppelt handgroße Blutfleck auf ihrem Kleid bezeugte: Auch sie war tödlich verletzt worden, lediglich die hinter der Rückenlehne gefesselten Arme hielten sie noch in dieser normales Leben vorgaukelnden Position.
Keron wollte die Fessel lösen, doch als er an ihr zog, stöhnte Hilde ebenso leise wie schmerzvoll auf. Aylene sah, wie sich dabei ein kleiner Schwall frischen Blutes in den Fleck drückte und ihn weiter anwachsen ließ. Sie schluckte die aufkommende Beklemmung herunter. Wieder ergriff diese unnatürliche Nüchternheit sie. Sie hielt Kerons Arm fest.
„Nicht, jede Bewegung quält sie nur noch unnötig.“
„Wir müssen ihr helfen!“, herrschte er sie an. „Oder soll ich sie so sterben lassen?“
„Es ist zu spät, sie ist verloren“, erwiderte Aylene ruhig. „Man hat ihr in den Bauch gestochen. Weil sich dabei das Blut im Körper ansammelt, sieht es harmloser aus als es ist“, fügte sie hinzu.
„Was sagst du da? Wie kannst du nur so gleichgültig sein?“, fuhr Keron sie an.
Ehe Aylenes auf Kerons Vorwurf reagieren konnte, stöhnte Hilde erneut auf.
„Farah!“
„Was?“, entfuhr es Keron, „Was ist mit Farah?“
Als Hilde nicht sofort antwortete, wollte er Hilde ergreifen, doch Aylene hinderte ihn erneut.
„Nicht!“, rief sie und hielt ihn fest. Kurz rangen sie miteinander.
„Hört auf ... Farah!“, stöhnte Hilde wieder.
Keron ließ Aylene los.
„Ja, was ist mit ihr? Sag es endlich!“, forderte Keron verzweifelt.
Aylene kniete sich neben Hilde und strich ihr sanft über die Wange.
„Wir hören dich, Hilde“, sagte sie leise. „Was ist passiert?“
„Sie haben sie mitgenommen ... wollte es verhindern ... fesselten mich ... versagt ...“
„Wer hat sie mitgenommen?“, fragte Keron aufgeregt.
„Du hast nicht versagt“, überging Aylene Kerons Frage, „Ganz bestimmt nicht. Sie waren einfach stärker und haben dich überwältigt. Es ist nicht dein Fehler gewesen.“
„Es waren Diebe ... helfe meinem Sohn ... bitte ...“
„Ja, natürlich! Wir werden Farah bestimmt finden. Ich habe es gelernt, Banden zu verfolgen und zu finden.“
Hilde schloss die Augen. Ihre Worte hatten ihr die Kraft gekostet, die sie dafür so lange hatte aufsparen müssen. Doch ihr Körper erschlaffte nicht völlig.
„Danke für deine gute Behandlung, Hilde, das werde ich nie vergessen.“ Sie sah Keron an, der seine sterbende Mutter anstarrte. „Ich lasse dich jetzt mit Keron alleine, damit er sich von dir ... verabschieden kann. Vielleicht sehen wir uns wieder. Dort, wo es besser ist...“
Aylene wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging aus der Küche. Im Gang setzte sie sich auf den Boden. Eigentlich wollte sie noch weiter gehen, um Keron nicht zu hören, doch sie konnte es nicht.
Als Keron später auf den Gang folgte, musste er sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Fast wäre er über die zusammengekauerte Aylene gestolpert, die mit ihren verweinten Augen zu ihm hoch blickte.
„Sie sind tot. Warum nur? Gebt mir wenigstens meine Tochter wieder“, forderte er müde. „Ihr könnt haben, was ihr wollt, aber tut ihr nichts. Sag mir, was willst du?“
„Ich?“, stieß Aylene hervor. „Glaubst du wirklich, ich hätte hiermit zu tun?“
„Du, deine dreckige Bande oder die verdammten Soldaten! Wollen sie dich so freipressen? Das ist mir gleich, ich will nur Farah zurück.“
Keron wich vor Aylen zurück, als sie langsam aufstand.
„Ich verstehe dein Misstrauen, doch ich habe nichts damit zu tun“, sagte sie eindringlich. „Man kann mich nicht auf diese Art freipressen, denn nicht Ketten, sondern dieser Ring hier“, sie deutete auf ihren Metallreif um den Hals, „fesselt mich. Wäre es anders, ich hätte einfach weglaufen können oder man hätte mich abgeholt, als ich alleine in den Strauchfeldern war.“
„Was dann? Gold?“
„Ich weiß es nicht!“, schrie Aylene ihn laut an. „Hörst du: Ich weiß es nicht!“
Keron sprang auf sie zu. Hart erfasste er ihre Oberarme und riss sie an sich.
„Ich will meine Tochter zurück!“
Doch bevor Aylene etwas sagen konnte, ließ er sie wieder los. Keron begrub sein Gesicht in beiden Händen und wandte sich ab. Als sie bemerkte, dass er mit zuckenden Schultern weinte, schloss sie ihre Augen.
Wie sie sich gefreut hatte, als Hilde ihre Schnitzereien ansah.
Es kostete ihr alle Anstrengungen, diese Erinnerungen zurückzudrängen.
Ich muss ruhig bleiben, oder sie ist verloren!
Aylene öffnete wieder ihre Augen und trat an Keron heran. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und zog sie zu sich herum. Dann legte sie ihre Hände um seine Handgelenke und zog ihm seine Hände aus dem Gesicht. Sie blickte ihn intensiv an.
„Keron! Sie haben Farah entführt, aber nicht umgebracht. Es gibt also noch Hoffnung.“
Kerons Anspannung ließ spürbar nach. „Ja“, nickte er schließlich. „Das stimmt.“
„Dann denke nach.“
Er nickte und schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sah Aylene nachdenklich an. „Vielleicht hat sie sich irgendwo versteckt? Lass uns im Haus nachsehen, du oben, ich unten.“
„Gut“, meinte Aylene zögernd. Sie lief auf den Gang und weiter die Treppe hinauf.
Aylene war erst ein Mal im oberen Stockwerk gewesen, als Farah ihr Zimmer gezeigt hatte. Damals war ihr alles so klein, voll und lebendig vorgekommen, und sie hatte sich alles neugierig angesehen. Als sie das Zimmer jetzt wieder betrat, traf sie nur erdrückende Leblosigkeit vor. Schnell sah sie überall nach, wo sich ein Kind verstecken würde: unter dem Bett, im Schrank, in den zwei Truhen, doch ohne Erfolg. Rasch floh sie wieder aus dem Raum.
Das zweite Zimmer gehörte Keron. Sie hatte es nie zuvor gesehen, doch nun war keine Zeit für Neugierde. Stattdessen sah sie nur an möglichen Versteckstellen nach. Sie hatte von Anfang an nicht mit einem Erfolg gerechnet und nur zugestimmt, damit Keron sich beruhigen würde, so war sie nicht enttäuscht, als sie Farah auch hier nicht fand. Nein, es hatte keinen Sinn. Selbst wenn Hilde sich geirrt hätte, was sie nicht glaubte, könnten sie tagelang suchen, wenn Farah sich nicht von sich aus bemerkbar machen würde. Sie war zu geschickt und klug, um sich ungewollt finden zu lassen. Der Gedanke daran ließ Aylene kurz lächeln, bis ihr der traurige Ernst der Lage wieder bewusst wurde. Sie hastete aus dem Zimmer und lief die Treppe hinab.
Aylene fand Keron in der Küche. Er machte jetzt einen sehr ruhigen Eindruck auf sie. Erst ein genauerer Blick in sein starres Gesicht und sein fahriger Blick zeigten seine Anspannung.
„Farah ist nicht im Haus“, sagte Aylene.
„Natürlich nicht“, erwiderte Keron zu ihrer Überraschung. „Ich habe nachgedacht, wir brauchen Hilfe.“
„Sollen wir in das Dorf laufen?“
Er machte eine unsichere Geste. „Vielleicht... Doch so will ich meine Eltern nicht so zurücklassen.“
Bei diesen Worten ging er zum Stuhl und ergriff die Leiche seiner Mutter. Aylene nahm schnell ein Messer und durchschnitt ihre Fesseln, dann hob Keron sie hoch und legte sie behutsam auf den Küchentisch. Sorgfältig richtete er ihre Arme und Beine aus und zupfte ihre Kleidung ordentlich. Mit einer Handbewegung, die für sein Volk typisch war, bezeugte er noch seine Liebe, dann wandte er sich um zu Aylene.
„Dank dir konnte ich mich wenigstens noch von ihr verabschieden. Ich wollte ihr so viel sagen, doch es war so wenig Zeit. Ich hätte sie nicht anschreien dürfen ... und dich auch nicht.“
„Schon gut“, meinte Aylene abwehrend, an deiner Stelle hätte ich sicherlich nicht anders reagiert.“ Sie deute auf Hilde. „Darf ich auch?“
Keron nickte. „Natürlich, ihr habt euch immer gut verstanden.“
Aylene trat an den Tisch. Sie berührte mit den Zeigefingern und Mittelfingern ihrer beiden Hände zuerst ihren eigenen Mund, dann strich sie mit ihnen über Hildes Stirn. Dazu murmelte sie leise Worte, die Keron nicht verstehen konnte.
„Hilfst du mir bei meinem Vater?“, fragte er danach.
„Möchtest du ihn und deine Mutter beerdigen?“
Keron schüttelte seinen Kopf. „Das geht leider nicht. Der Bürgermeister wird bestimmt alles untersuchen lassen wollen. Doch ich möchte meinen Vater hierher bringen, in der Scheune würden ihn die Tiere nicht in Ruhe lassen.“
Sie gingen in Scheune zurück. Aylene wunderte sich, wie ruhig Keron inzwischen wirkte. Es kostete sie qualvolle Mühe, sich zu beherrschen, und es waren nicht ihre Eltern, die ermordet worden waren. Hatte man auf dem Land ein vertrauteres Verhältnis zum Tod? Oder war es die Sorge um Farah?
Der Anblick Ragars ließ einen Schauer über Aylenes Rücken laufen, es war schlimmer als beim ersten Mal. Sie musste sich mit Gewalt zwingen, in die Blutpfütze zu schreiten. Aylene begriff allmählich, dass es Schock des Ungeheuerlichen war, der sie und Keron schützte. Ein Schutz, der aber langsam nachließ.
Keron bückte sich und hob seinen Vater an den Schultern hoch, während Aylene dessen Beine nahm. Gemeinsam trugen sie ihn in die Küche und legten ihn neben seiner Frau auf den Tisch. Mit einem Tuch wischte Keron zunächst das Blut weg, danach richtete er, wie zuvor bei Hilde, die Arme und Beine sorgfältig gerade. Erst danach nahm er den rechten Arm seines Vaters und legte ihn auf den Leib seiner Mutter. Spontan spiegelte Aylene diese Geste mit Hildes linkem Arm. Keron wirkte etwas verwundert, doch er ließ sie gewähren. Als Aylene schließlich zurücktrat, bemerkte er ihren fragenden Blick.
„Das ist etwas ungewöhnlich, aber passend“, meinte er.
Beide schwiegen einen Moment lang, dann meinte Keron:
„Im Dorf wird man uns nicht helfen können.“ Er holte hörbar Atem. „Wir müssen zu den Soldaten auf dem Hügel.“
„Du willst die Soldaten um Hilfe bitten?“, fragte Aylene zweifelnd.
„Ja. Es bleibt mir keine andere Wahl. Im Dorf leben nur einfache Menschen wie wir. Sie haben nicht einmal Reitpferde. Die Soldaten dagegen sollen eine Nachrichtenanlage auf ihrem Hügel haben. Damit können sie Alarm schlagen.“
„Das stimmt, die Wachpunkte sind üblicherweise mit Spiegeln und Rauchfeuern ausgestattet. Sie sind vielleicht die einzige Möglichkeit, die Entführer zu finden, bevor sie untertauchen können. Nur...“
„Du glaubst, es war Herl und er steckt wieder mit den Soldaten unter einer Decke?“, fiel Keron ihr in das Wort.
„Ja. Dann laufen wir ihnen direkt in die Arme.“
Er seufzte. „Ich traue ihnen doch auch nicht! Aber habe ich eine Wahl?“
„Nein“, stimmte Aylene nach kurzem Überlegen zu. „Und es ist richtig, zu ihnen zu gehen, denn wahrscheinlich sind sie gar nicht beteiligt gewesen. Sie mögen mit Herl Geschäfte gemacht haben, aber warum sollten sie das hier getan haben? Das ergäbe keinen Sinn.“
Keron schüttelte seinen Kopf.
„Wie soll das überhaupt einen Sinn haben? Vielleicht war es einfach derselbe Hass, der auch Janina tötete?“
„Janina?“
„Meine Frau.“
„Deine Frau?“
Keron machte eine verzweifelte Geste. „Bitte lass mich damit in Ruhe!“ Er sah Aylene eindringlich an. „Jetzt ist Farah wichtig. Das war der letzte Wunsch meiner Mutter. Wir dürfen nicht an uns denken und was war. Die Soldaten sind meine einzige Hoffnung, nur sie können uns helfen.“
„Aber...“
„Kein ‚aber’!“, unterbrach er sie schroff. „Falls sie dahinter stecken, ist sowieso alles verloren. Ohne Farah ...“
Aylene konnte hören, wie sich seine Qual hörbar Bahn brach. Sie half ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Zu spät bemerkte sie, dass es ausgerechnet der Stuhl war, auf dem seine Mutter gestoben war. Ihr Blick schweifte von dem weinenden Mann über den Tisch mit den beiden Toten. Als sie fühlte, wie in ihr Wut aufkochte über die Tat, lenkte sie ihre Gedanken schnell in andere Bahnen.
Warum nur?
Doch sie fand keine Antwort.
Warum nur?
Einen Monat später
Keron sah durch das geschlossene Küchenfenster hinaus. Schweigend kaute er auf seinem Schinkenbrot und beobachtete, wie die schweren Regentropfen gegen das dicke Glas schlugen, das zwar Licht hineinließ, aber zu verzerrend und trübe war, um mehr als die groben Umrisse von der neuen Scheune erkennen zu können. Doch war seine Aufmerksamkeit ohnehin weniger auf das Fenster gerichtet als auf das unregelmäßige Kratzen und Schaben hinter seinem Rücken. Manchmal wurde es unterbrochen, dann lauschte er aufmerksam.
„Wie viel ist 18 mal 36?“
Aylenes Aufgabe ließ Farah beim Schnitzen innehalten. Sie sah von ihrem Holzbild auf, und man konnte sehen, wie angestrengt sie nachdachte.
„18 mal 36? ... das ... das ist aber...“, meinte sie zögernd.
„Nicht ‚aber’, sondern ausrechnen“, mahnte Aylene. „360 plus 240 plus ?“
„Plus 48?“
„Ja, also zusammen?“
Keron ertappte sich, wie er versuchte, mit seiner Tochter um die Wette zu rechnen.
„648!“, rief Farah laut.
„Sehr gut!“, lobte Aylene, „so schnell war ich in deinem Alter nicht. Wenn du so weitermachst, wird dich kein Händler über das Ohr hauen.“
„Nein, aber ich ihn!“, freute sich Farah hörbar.
Keron drehte sich langsam um und sah unauffällig seine Tochter an. Sie saß zusammen mit Aylene an dem großen Küchentisch, und nahm mit ihrem von der Anstrengung immer noch geröteten Gesicht wieder das kleine Schnitzeisen auf, um sich erneut ihrem Werk zuzuwenden. Wie beabsichtigt bemerkte sie nicht seinen stolzen Blick, so konnte er ihn einen Moment lang auf ihr ruhen lassen und sich mit ihr in jener Verbundenheit über die erbrachte Leistung freuen, die man nicht erklären, sondern nur erleben kann.
„Eine heiße Milch?“, fragte Hilde und stellte einen dampfenden Becher auf den Tisch.
Farah nickte und nahm den Becher in beide Hände. Hilde deutete auf das Brett:
„Sieht schon ganz gut aus. Welcher Vogel wird das?“, fragte sie interessiert.
„Ein Graukopfsittich, Oma“, antwortete Farah. „Mit deinem Schnitzeisen ist es einfach.“
Wie gut sie jetzt miteinander auskommen!, dachte Keron, Und es ist so einfach, nur etwas Aufmerksamkeit. Doch wir waren blind. Sein Blick schweifte hinüber zu Aylene, die ihn ebenso wenig bemerkte wie zuvor seine Tochter. Er fand, dass ihr großer hagerer Körper und ihr schmales Gesicht mit den kurzen schwarzen Haaren und den ebenso schwarzen Augen etwas Strenges an sich hatten, was durch die gebildet und neuerdings manchmal leicht aristokratisch wirkende Stimme noch unterstrichen wurde. Seltsamerweise schien Farah das nicht zu stören, sondern zu bewundern.
Plötzlich drehte Aylene ihren Kopf und sah ihn an.
„Durch den Regen ist die Strauchwolle zu nass zum ernten, deshalb kannst du mir besser beim Feuerholz helfen“, sagte Keron rasch.
„Natürlich, Keron. Wann sollen wir los?“
„Nach dem Essen. Hoffentlich ist es dann trockener.“
Aylene nickte, dann wandte sie sich wieder Farah zu, man konnte sehen, wie sie bereits über ihre nächste Rechenaufgabe nachdachte.
*
Am frühen Nachmittag gingen Keron und Aylene zusammen in den Wald. Er lag im Westen, wo er ein sanft geschwungenes Tal zwischen zwei kleinen Bergen ausfüllte. Einst reichte er bis an den Hof heran, doch durch den Raubbau der vorherigen Besitzer war der Waldrand nun fast eine Wegstunde entfernt. Dazwischen befand sich eine Mischung aus Gräsern und Büschen, die zwar mehr als mannshoch wuchsen, aber zu nichts nutze waren, außer dass sie den trockenen Boden vor der vollständigen Verwüstung bewahrten.
Die Baragnars hatten aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt und schonten den restlichen Wald so gut sie konnten. Entsprechend wurde das Feuerholz nicht geschlagen, sondern in Form von abgestorbenen Ästen eingesammelt. So dauerte es länger, dafür erforderte es weniger Kraft.
Nachdem sie etwa zwei Stunden lang einen großen Haufen an Feuerholz angesammelt hatten, teilten Aylene und Keron ihn in zwei Bündel auf und halfen sich dann gegenseitig, sie auf den Rücken zu schnallen.
Aylene schwankte unter der Last, bis sie sich nach einigen Schritten an sie gewöhnt hatte. Sie beobachtete, dass es dem vor ihr gehenden Keron nicht besser erging, hatte er sich doch die doppelte Last aufgebürdet. Sie hatte ihn nicht darum bitten müssen, im Gegenteil.
Der Rückweg war schwierig. Es war weniger das Gewicht ihrer Bündel, was sie behinderte, sondern einige sperrige, seitlich weit aus ihnen herausragende Zweige, mit denen sie sich immer wieder in den umgebenden Büschen verhakten. Gelegentlich geschah das so ruckhaft, dass man aus dem Gleichgewicht geriet und sogar stürzte. Schließlich klagte Keron:
„Ist das schwer! Es wird Zeit, dass wir unseren neuen Karren bekommen.“
„Was ist denn mit dem alten Karren passiert?“
„Verbrannt. Er war in der Scheune, die du angezündet hast. Dabei stand er mitten drin und sollte nicht zu übersehen gewesen sein“, antwortete er trocken. „Beim nächsten Mal rollst du ihn vorher raus, ja?“, fügte er nach einer kurzen Pause scherzend hinzu.
„Natürlich“, scherzte Aylene zurück, „dann werde ich später nicht so schleppen müssen.“
Das Feuerholz sollte in der neuen Scheune gelagert werden. Als sie endlich in Sicht kam, es war inzwischen später Nachmittag geworden, konnte Aylene sehen, wie sich die Sonne auf ihrer hellen Holzwand spiegelte.
„Magst du etwas Herbtee?“, fragte Keron wenige Schritte vor dem offenen Scheunentor.
„Du meinst dieses bittere Wasser?“, fragte Aylene skeptisch.
„Es ist herb und nicht bitter“, meinte Keron. „Du kannst aber auch Rottee haben. Ragar hat nach der Anstrengung bestimmt einen Schluck für dich über.“
„Stimmt doch, oder? Ragar?“, rief er in die Scheune und trat ein.
Die Scheune schien leer. Keron ging zum Ablageplatz für das Feuerholz und ließ seine Last von den Schultern gleiten.
„Er macht wohl gerade eine Pause“, meinte er und half Aylene beim Abladen. „Irgendwo wird schon ein Krug sein...“ Suchend sah er sich um.
„Vater!“, schrie er auf und rannte quer durch die Scheune.
Aylene bemerkte jetzt auch die leblose Gestalt, die zusammengekrümmt in der gegenüberliegenden Ecke lag.
„Oh!“, rief Aylene aus und rannte ebenfalls los.
Keron warf sich vor dem leblosen Körper auf die Knie und beugte sich gerade über ihn, als Aylene hinzukam. Auch sie kniete sich hin. Es war Ragar. Sie sah, was geschehen war, und diese Erkenntnis schlug ihr dumpf in die Magengrube.
„Was ist mit ihm?“, fragte Keron hilflos.
„Er ist ermordet worden“, antwortete Aylene tonlos.
„Ermordet?“
„Sein Hals ist durchschnitten worden“, hörte Aylene sich sagen.
Dies war zu unwirklich, sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Sie hob ihre Hand hoch, auf der sie sich abgestützt hatte, und sah sie an. Sie war rot vor Blut, und es klebte nicht nur an der Hand, sondern auch an beiden Schienbeinen und Knien. Aylene richtete sich auf, und fast wäre sie dabei in der Blutlache ausgerutscht, in der sie sich nun wiederfand. Sie kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder. Seltsamerweise war es der Gedanke, sich auf keinen Fall über Ragars Körper erbrechen zu wollen, der ihre Gedanken wieder in geordnete Bahnen lenkte.
„Wir müssen nach den Anderen sehen“, meinte sie.
Kerons Kopf ruckte zu ihr herum und starrte sie an, dann lief er los.
Aylene folgte ihm, doch im Gegensatz zu ihm lief sie nicht, sondern ging mit großen Schritten zum Wohnhaus. Jetzt herrschte eine unnatürliche Klarheit in ihrem Kopf, die jegliche Emotion unterdrückte. Sie glaubte zu wissen, was folgen würde. Es war bereits unabänderlich geschehen. Jetzt war wichtig, die Nerven zu behalten.
Auf den ersten Blick saß Hilde scheinbar ruhig und mit müden aber offenen Augen auf einem Stuhl in ihrer Küche. Erst die totenartige Blässe und das eingefallene Gesicht deuteten an, was der doppelt handgroße Blutfleck auf ihrem Kleid bezeugte: Auch sie war tödlich verletzt worden, lediglich die hinter der Rückenlehne gefesselten Arme hielten sie noch in dieser normales Leben vorgaukelnden Position.
Keron wollte die Fessel lösen, doch als er an ihr zog, stöhnte Hilde ebenso leise wie schmerzvoll auf. Aylene sah, wie sich dabei ein kleiner Schwall frischen Blutes in den Fleck drückte und ihn weiter anwachsen ließ. Sie schluckte die aufkommende Beklemmung herunter. Wieder ergriff diese unnatürliche Nüchternheit sie. Sie hielt Kerons Arm fest.
„Nicht, jede Bewegung quält sie nur noch unnötig.“
„Wir müssen ihr helfen!“, herrschte er sie an. „Oder soll ich sie so sterben lassen?“
„Es ist zu spät, sie ist verloren“, erwiderte Aylene ruhig. „Man hat ihr in den Bauch gestochen. Weil sich dabei das Blut im Körper ansammelt, sieht es harmloser aus als es ist“, fügte sie hinzu.
„Was sagst du da? Wie kannst du nur so gleichgültig sein?“, fuhr Keron sie an.
Ehe Aylenes auf Kerons Vorwurf reagieren konnte, stöhnte Hilde erneut auf.
„Farah!“
„Was?“, entfuhr es Keron, „Was ist mit Farah?“
Als Hilde nicht sofort antwortete, wollte er Hilde ergreifen, doch Aylene hinderte ihn erneut.
„Nicht!“, rief sie und hielt ihn fest. Kurz rangen sie miteinander.
„Hört auf ... Farah!“, stöhnte Hilde wieder.
Keron ließ Aylene los.
„Ja, was ist mit ihr? Sag es endlich!“, forderte Keron verzweifelt.
Aylene kniete sich neben Hilde und strich ihr sanft über die Wange.
„Wir hören dich, Hilde“, sagte sie leise. „Was ist passiert?“
„Sie haben sie mitgenommen ... wollte es verhindern ... fesselten mich ... versagt ...“
„Wer hat sie mitgenommen?“, fragte Keron aufgeregt.
„Du hast nicht versagt“, überging Aylene Kerons Frage, „Ganz bestimmt nicht. Sie waren einfach stärker und haben dich überwältigt. Es ist nicht dein Fehler gewesen.“
„Es waren Diebe ... helfe meinem Sohn ... bitte ...“
„Ja, natürlich! Wir werden Farah bestimmt finden. Ich habe es gelernt, Banden zu verfolgen und zu finden.“
Hilde schloss die Augen. Ihre Worte hatten ihr die Kraft gekostet, die sie dafür so lange hatte aufsparen müssen. Doch ihr Körper erschlaffte nicht völlig.
„Danke für deine gute Behandlung, Hilde, das werde ich nie vergessen.“ Sie sah Keron an, der seine sterbende Mutter anstarrte. „Ich lasse dich jetzt mit Keron alleine, damit er sich von dir ... verabschieden kann. Vielleicht sehen wir uns wieder. Dort, wo es besser ist...“
Aylene wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging aus der Küche. Im Gang setzte sie sich auf den Boden. Eigentlich wollte sie noch weiter gehen, um Keron nicht zu hören, doch sie konnte es nicht.
Als Keron später auf den Gang folgte, musste er sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Fast wäre er über die zusammengekauerte Aylene gestolpert, die mit ihren verweinten Augen zu ihm hoch blickte.
„Sie sind tot. Warum nur? Gebt mir wenigstens meine Tochter wieder“, forderte er müde. „Ihr könnt haben, was ihr wollt, aber tut ihr nichts. Sag mir, was willst du?“
„Ich?“, stieß Aylene hervor. „Glaubst du wirklich, ich hätte hiermit zu tun?“
„Du, deine dreckige Bande oder die verdammten Soldaten! Wollen sie dich so freipressen? Das ist mir gleich, ich will nur Farah zurück.“
Keron wich vor Aylen zurück, als sie langsam aufstand.
„Ich verstehe dein Misstrauen, doch ich habe nichts damit zu tun“, sagte sie eindringlich. „Man kann mich nicht auf diese Art freipressen, denn nicht Ketten, sondern dieser Ring hier“, sie deutete auf ihren Metallreif um den Hals, „fesselt mich. Wäre es anders, ich hätte einfach weglaufen können oder man hätte mich abgeholt, als ich alleine in den Strauchfeldern war.“
„Was dann? Gold?“
„Ich weiß es nicht!“, schrie Aylene ihn laut an. „Hörst du: Ich weiß es nicht!“
Keron sprang auf sie zu. Hart erfasste er ihre Oberarme und riss sie an sich.
„Ich will meine Tochter zurück!“
Doch bevor Aylene etwas sagen konnte, ließ er sie wieder los. Keron begrub sein Gesicht in beiden Händen und wandte sich ab. Als sie bemerkte, dass er mit zuckenden Schultern weinte, schloss sie ihre Augen.
Wie sie sich gefreut hatte, als Hilde ihre Schnitzereien ansah.
Es kostete ihr alle Anstrengungen, diese Erinnerungen zurückzudrängen.
Ich muss ruhig bleiben, oder sie ist verloren!
Aylene öffnete wieder ihre Augen und trat an Keron heran. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und zog sie zu sich herum. Dann legte sie ihre Hände um seine Handgelenke und zog ihm seine Hände aus dem Gesicht. Sie blickte ihn intensiv an.
„Keron! Sie haben Farah entführt, aber nicht umgebracht. Es gibt also noch Hoffnung.“
Kerons Anspannung ließ spürbar nach. „Ja“, nickte er schließlich. „Das stimmt.“
„Dann denke nach.“
Er nickte und schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sah Aylene nachdenklich an. „Vielleicht hat sie sich irgendwo versteckt? Lass uns im Haus nachsehen, du oben, ich unten.“
„Gut“, meinte Aylene zögernd. Sie lief auf den Gang und weiter die Treppe hinauf.
Aylene war erst ein Mal im oberen Stockwerk gewesen, als Farah ihr Zimmer gezeigt hatte. Damals war ihr alles so klein, voll und lebendig vorgekommen, und sie hatte sich alles neugierig angesehen. Als sie das Zimmer jetzt wieder betrat, traf sie nur erdrückende Leblosigkeit vor. Schnell sah sie überall nach, wo sich ein Kind verstecken würde: unter dem Bett, im Schrank, in den zwei Truhen, doch ohne Erfolg. Rasch floh sie wieder aus dem Raum.
Das zweite Zimmer gehörte Keron. Sie hatte es nie zuvor gesehen, doch nun war keine Zeit für Neugierde. Stattdessen sah sie nur an möglichen Versteckstellen nach. Sie hatte von Anfang an nicht mit einem Erfolg gerechnet und nur zugestimmt, damit Keron sich beruhigen würde, so war sie nicht enttäuscht, als sie Farah auch hier nicht fand. Nein, es hatte keinen Sinn. Selbst wenn Hilde sich geirrt hätte, was sie nicht glaubte, könnten sie tagelang suchen, wenn Farah sich nicht von sich aus bemerkbar machen würde. Sie war zu geschickt und klug, um sich ungewollt finden zu lassen. Der Gedanke daran ließ Aylene kurz lächeln, bis ihr der traurige Ernst der Lage wieder bewusst wurde. Sie hastete aus dem Zimmer und lief die Treppe hinab.
Aylene fand Keron in der Küche. Er machte jetzt einen sehr ruhigen Eindruck auf sie. Erst ein genauerer Blick in sein starres Gesicht und sein fahriger Blick zeigten seine Anspannung.
„Farah ist nicht im Haus“, sagte Aylene.
„Natürlich nicht“, erwiderte Keron zu ihrer Überraschung. „Ich habe nachgedacht, wir brauchen Hilfe.“
„Sollen wir in das Dorf laufen?“
Er machte eine unsichere Geste. „Vielleicht... Doch so will ich meine Eltern nicht so zurücklassen.“
Bei diesen Worten ging er zum Stuhl und ergriff die Leiche seiner Mutter. Aylene nahm schnell ein Messer und durchschnitt ihre Fesseln, dann hob Keron sie hoch und legte sie behutsam auf den Küchentisch. Sorgfältig richtete er ihre Arme und Beine aus und zupfte ihre Kleidung ordentlich. Mit einer Handbewegung, die für sein Volk typisch war, bezeugte er noch seine Liebe, dann wandte er sich um zu Aylene.
„Dank dir konnte ich mich wenigstens noch von ihr verabschieden. Ich wollte ihr so viel sagen, doch es war so wenig Zeit. Ich hätte sie nicht anschreien dürfen ... und dich auch nicht.“
„Schon gut“, meinte Aylene abwehrend, an deiner Stelle hätte ich sicherlich nicht anders reagiert.“ Sie deute auf Hilde. „Darf ich auch?“
Keron nickte. „Natürlich, ihr habt euch immer gut verstanden.“
Aylene trat an den Tisch. Sie berührte mit den Zeigefingern und Mittelfingern ihrer beiden Hände zuerst ihren eigenen Mund, dann strich sie mit ihnen über Hildes Stirn. Dazu murmelte sie leise Worte, die Keron nicht verstehen konnte.
„Hilfst du mir bei meinem Vater?“, fragte er danach.
„Möchtest du ihn und deine Mutter beerdigen?“
Keron schüttelte seinen Kopf. „Das geht leider nicht. Der Bürgermeister wird bestimmt alles untersuchen lassen wollen. Doch ich möchte meinen Vater hierher bringen, in der Scheune würden ihn die Tiere nicht in Ruhe lassen.“
Sie gingen in Scheune zurück. Aylene wunderte sich, wie ruhig Keron inzwischen wirkte. Es kostete sie qualvolle Mühe, sich zu beherrschen, und es waren nicht ihre Eltern, die ermordet worden waren. Hatte man auf dem Land ein vertrauteres Verhältnis zum Tod? Oder war es die Sorge um Farah?
Der Anblick Ragars ließ einen Schauer über Aylenes Rücken laufen, es war schlimmer als beim ersten Mal. Sie musste sich mit Gewalt zwingen, in die Blutpfütze zu schreiten. Aylene begriff allmählich, dass es Schock des Ungeheuerlichen war, der sie und Keron schützte. Ein Schutz, der aber langsam nachließ.
Keron bückte sich und hob seinen Vater an den Schultern hoch, während Aylene dessen Beine nahm. Gemeinsam trugen sie ihn in die Küche und legten ihn neben seiner Frau auf den Tisch. Mit einem Tuch wischte Keron zunächst das Blut weg, danach richtete er, wie zuvor bei Hilde, die Arme und Beine sorgfältig gerade. Erst danach nahm er den rechten Arm seines Vaters und legte ihn auf den Leib seiner Mutter. Spontan spiegelte Aylene diese Geste mit Hildes linkem Arm. Keron wirkte etwas verwundert, doch er ließ sie gewähren. Als Aylene schließlich zurücktrat, bemerkte er ihren fragenden Blick.
„Das ist etwas ungewöhnlich, aber passend“, meinte er.
Beide schwiegen einen Moment lang, dann meinte Keron:
„Im Dorf wird man uns nicht helfen können.“ Er holte hörbar Atem. „Wir müssen zu den Soldaten auf dem Hügel.“
„Du willst die Soldaten um Hilfe bitten?“, fragte Aylene zweifelnd.
„Ja. Es bleibt mir keine andere Wahl. Im Dorf leben nur einfache Menschen wie wir. Sie haben nicht einmal Reitpferde. Die Soldaten dagegen sollen eine Nachrichtenanlage auf ihrem Hügel haben. Damit können sie Alarm schlagen.“
„Das stimmt, die Wachpunkte sind üblicherweise mit Spiegeln und Rauchfeuern ausgestattet. Sie sind vielleicht die einzige Möglichkeit, die Entführer zu finden, bevor sie untertauchen können. Nur...“
„Du glaubst, es war Herl und er steckt wieder mit den Soldaten unter einer Decke?“, fiel Keron ihr in das Wort.
„Ja. Dann laufen wir ihnen direkt in die Arme.“
Er seufzte. „Ich traue ihnen doch auch nicht! Aber habe ich eine Wahl?“
„Nein“, stimmte Aylene nach kurzem Überlegen zu. „Und es ist richtig, zu ihnen zu gehen, denn wahrscheinlich sind sie gar nicht beteiligt gewesen. Sie mögen mit Herl Geschäfte gemacht haben, aber warum sollten sie das hier getan haben? Das ergäbe keinen Sinn.“
Keron schüttelte seinen Kopf.
„Wie soll das überhaupt einen Sinn haben? Vielleicht war es einfach derselbe Hass, der auch Janina tötete?“
„Janina?“
„Meine Frau.“
„Deine Frau?“
Keron machte eine verzweifelte Geste. „Bitte lass mich damit in Ruhe!“ Er sah Aylene eindringlich an. „Jetzt ist Farah wichtig. Das war der letzte Wunsch meiner Mutter. Wir dürfen nicht an uns denken und was war. Die Soldaten sind meine einzige Hoffnung, nur sie können uns helfen.“
„Aber...“
„Kein ‚aber’!“, unterbrach er sie schroff. „Falls sie dahinter stecken, ist sowieso alles verloren. Ohne Farah ...“
Aylene konnte hören, wie sich seine Qual hörbar Bahn brach. Sie half ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Zu spät bemerkte sie, dass es ausgerechnet der Stuhl war, auf dem seine Mutter gestoben war. Ihr Blick schweifte von dem weinenden Mann über den Tisch mit den beiden Toten. Als sie fühlte, wie in ihr Wut aufkochte über die Tat, lenkte sie ihre Gedanken schnell in andere Bahnen.
Warum nur?
Doch sie fand keine Antwort.