Warum Wessis uns nicht verstehen und Ossis nicht richtig wählen können

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Willybald

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Ist der Osten Deutschlands nach über 30 Jahren staatliche Einheit im Westen angekommen? Oder sind wir jetzt selbst der Westen? Fragen, auf die ich nach wochenlangem Brüten und literweise "Gotano" noch immer keine zufriedenstellende Antwort finde. Dabei sprechen die Fakten für sich: Wir singen das Deutschlandlied, wir stehen auf deutsche Hausmannskost, wir fahren zum Ficken in die Tschechei und zum Kippen kaufen nach Polen und freuen uns wie ein Schnitzel, wenn wir im Spanien-Urlaub leckere Grillrippchen geradeso wie aus dem heimischen Herd vorgesetzt kriegen. Noch urdeutscher geht es doch gar nicht!

Somit ist es nur legitim, dass wir über uns selbst schreiben. Also, wir Ossis über den Westen, meine ich. Unseren Westen. Den im Osten. Denn mal ehrlich: Durchgeistigt-verkopfte Reportagen, in denen uns Wessis erklären, wie es einst in der DDR zuging, haben wir bis zum Abwinken gesehen. Doch wer sollte profunder über den Alltag im Westen schreiben können als jemand aus dem Osten, wo wir doch schon zu DDR-Zeiten sehnsüchtig über die Mauer geschaut und uns mit allem beschäftigt haben, was der Westen zu bieten hatte! Ja, wir kannten uns aus mit dem Westen und zwar aus verschiedenen Blickwinkeln – nämlich aus dem des West-Fernsehens und aus dem von Karl-Eduard von Schnitzler. Mein Gott, unser alter Sudel-Ede, wenn wir geahnt hätten, womit er mitunter alles Recht gehabt hat! Realistisch betrachtet hatte doch jeder Ossi irgendwann mal eine Phase, in der er – mehr oder weniger aktiv – an eine „Übersiedelung“ in den Westen dachte. Wenigstens so ein bisschen geträumt. Meine lieben Brüder und Schwestern (und Diverses) im Westen, Hand aufs Herz: Wie viele von euch haben irgendwann auch nur ansatzweise mit einer Flucht in den Osten geliebäugelt? Womit die Kompetenzverteilung in Sachen gegenseitiges Verständnis geklärt sein dürfte. Damit erkläre ich auch offiziell das Phänomen für beendet, dass Kabarettisten aus dem Saarland, Ostwestfalen oder Franken klischeegestärkte Witze über den Osten reißen dürfen, zu denen jeder (im alten Westen) prustend meint: „Mensch, der trifft es auf den Punkt!“, wohingegen dem Oberbayer bei einem ostdeutschen Witze-Reißer, der sich über die Gebaren in zeitvergessenen Alpen- oder Eifeltälern lustig macht, ein „Jo mei, woas woaß der Ossi scho über uns im Westen, der soll sich zefix nochmoa um saane Probleme kümmern!“ entfährt.

Apricot unsere Probleme: Stimmt, da gibt es eines, welches uns bei freien demokratischen Wahlen immer wieder aufs Brot geschmiert wird, nämlich unser Wahlverhalten. Woher kommt das nur, dieser Rechtsdrift in einem alles vereinenden Vaterland (Elternland, meine ich)?
Was mich zur Grundsatzfrage bringt:
Was sind das nur für Leute, die eine Partei wählen, welche as in the early 30’s unverhohlen rechte Parolen drischt und das Blaue vom Himmel verspricht, ohne dafür gerade stehen zu müssen? Die, sobald sie in die Nähe der Macht rutschen, aus Angst vor Verantwortung nicht mal mehr ihren eigenen Kandidaten wählen, sondern lieber andere Parteien vorschieben! Deren Vordenker nur so tun, als ob sie tatsächlich welche von hier wären! Die lügen und betrügen (Parteispenden) und unbequeme Tatsachen (Klimawandel, Nazi-Diktatur) einfach klein reden!
Nun, die Antwort ist simpel und dem Umfeld der Zielgruppe angepasst: Einerseits zeigt eine solche Partei genau das richtige Maß Abgrenzungsbereitschaft und damit verbundene Ausländerfeindlichkeit, welche vonnöten ist, um nicht teilen oder auch nur vom mühsam errungenen Wohlstand etwas abgeben zu müssen. My home is my castle! Zwei Mal „my“ in einem Satz sagt viel über den eigenen Standpunkt. Das Castle meines direkten, meines europäischen oder gar globalen Nachbarn kümmert mich frühestens in zweiter Instanz. Besitzstandswahrung, dieses Wort gehört zum offiziellen Sprachgebrauch und so gespreiztes Politikerdeutsch es auch sein mag, in dem Fall fahren wir voll darauf ab.

Wie in diversen anderen Lebensbereichen dürfen wir auch hierbei ungestraft die verlangsamte kognitive Evolution bemühen: Einst war es überlebenswichtig, für die eigene Sippe eine sichere Höhle zu finden und diese notfalls mit der Waffe – also der Keule, dem steinzeitlichen Vorläufer des Baseballschlägers – in der Hand zu verteidigen. Zu viel Nachdenken über Wohl und Wehe der Neandertaler aus dem Nachbartal konnte das eigene Überleben in Frage stellen. „Ich habe gehört, bei den Uga-ugas aus dem Dunkeltal hat sich der Vater kürzlich beim Pinkeln den Knöchel verstaucht. Mein Gott, gerade jetzt, wo die Mammutjagdsaison beginnt! Ich frage mich, wie sie da ausreichend Wintervorräte zusammenklauben sollen. Was meinst du, Schatz, sollten wir nicht mal in deren Höhle nach dem Rechten sehen?“ Gefreut hätte sich über so viel überbordende Anteilnahme im Endeffekt nur der Säbelzahntiger als lachender Dritter.

Zum anderen kommt es den Followern dieser relativ neuen politischen Gruppierung (die den Uga-ugas und ihren Nachbarn noch gänzlich unbekannt war!) auf all die Tricksereien und Betrügereien gar nicht an. Das sind Peanuts, ein Fliegenschiss in der ansonsten erfolgreichen Parteigeschichte und irgendwie auch nur eine Art des Widerstands gegen das verfluchte Establishment. Der Namensteil „Alternative“ macht, noch vor irgendwelchen lästigen Inhalten, den entscheidenden Unterschied zu einer Partei, deren Handeln gern als „alternativlos“ gilt - zumindest in den eigenen Reihen. Der geneigte Leser mittleren Jahrgangs möge sich erinnern, dass es in der Geschichte der deutschen demokratischen Parteien schon einmal eine alternative Liste gab. Sie nannte sich Alternative Liste und legte trotz geschmackloser Strickpullover und Turnschuhen im Plenarsaal beachtliche Wahlergebnisse hin. Auch heute mischt sie noch emsig im politischen Geschehen mit, wenngleich es freilich längst keine alternative Liste mehr ist und die Selbstgestrickten fair gehandelten Maßanzügen weichen mussten.

Alles, wonach im letzten Wahljahr gut 23 Prozent der thüringer oder 27,5 Prozent der sächsischen Wähler – in Görlitz sogar über 37 – lechzten, ist jemand, der nicht „im Zuge unsere Sachzwänge verlangen es die gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten…“ runterblubbert. Der zwar nie was wirklich Positives verkünden kann, aber zu jedem neuen Kuckucksei in Gesetzesform mit seltsamer Fingerhaltung erklärt, dies sei einfach alternativlos. Sondern der schlichten Gemütern mit einem hochoffiziellen „Wir haben die Schnauze voll!“ aus der Seele spricht. Ganz im Sinne des erzgebirgischen Volkssängers Anton Günther (aus dem heutigen Tschechien), der schon vor rund 100 Jahren „de nidorträschtche, ausgeschamte, falsche Bolledigg“ anprangerte. Recht hatte er! Das war damals geradezu revolutionär und obwohl er weder aus der Hiphop- noch der Party-, sondern eher aus der Fichtenwälder-Szene kommt, ist er heute wieder total In. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sich der heimatverbundene Waldschratt mit der ernsten, bedeutungsschweren Miene auch nicht wirklich konkret dazu äußerte, wie er es denn selbst besser machen würde. Sein Credo „Deitsch un frei wolln mer sei“ wird jedenfalls gern wieder von jungen Leuten aus Sachsen, in altdeutscher Schrift, auf die Heckscheibe ihres Autos geklebt. Oftmals junge Leute mit seeehr kurzen Haaren und so ganz bestimmten Tattoos. Ist schließlich nicht verboten, Anton Günther zu zitieren, sondern zeigt lediglich Heimatverbundenheit. Das ist was gaaanz anderes als Rechtsextremismus.

Trotzdem irgendwie komisch, finde ich, dass es nie von der Antifa, den Grünen (die ja auch total auf Regional stehen) oder linksintellektuellen Kreisen verwendet wird, sondern immer nur aus dem bräunlichen Dunstkreis herüber schwadet! Sachdienliche Hinweise auf die Existenz einer links-progressiven heimatlichen Traditionspflege (oder linksextremistischer Gruppenchats bei der Polizei) nehme ich gern entgegen. Vielleicht setze ich sogar noch eine Belohnung dafür aus, aber erst mal abwarten, was der Verlag so springen lässt.

Mancher einer, der den erwähnten altdeutschen Schriftzug stolz zur Schau trägt, weiß womöglich gar nicht, dass sich Anton Günther nachdrücklich von den Nazis distanzierte und vier Jahre nach Hitlers Machtergreifung aus Verzweiflung seinem Leben selbst ein Ende setzte. Ein tragisches Schicksal und ein bisschen mit Parallelen zu Karl May gesegnet. Beide würden sich wundern, wenn sie wüssten, wie sie von Rechtsaußen vereinnahmt wurden bzw. werden! Doch trotz allen Mitfühlens spüre ich – voller Beschämung, ich geb’s ja zu – ein wenig von befriedigten Rachegedanken in mir für das, was mir Anton Günther, Hans Stoph oder irgendwelche arzgebirgschen Rutkappeln in meiner Kindheit angetan haben. Ihr alten Blaubeerschänder, an ungezählten Adventssonntagen habt ihr mir mit euren „haamlich rauschenden Waldern“ das vinylgewordene Grauen vom Plattenspieler beschert! Noch heute verspüre ich eine instinktiv eingebrannte Abneigung gegen besinnliche Weihnachten.

Zurück zur vollen Schnauze. Wer glaubt denn ernsthaft daran, dass man die durch den Gang zur Wahlurne wieder frei bekommt? Wir im Osten haben jedenfalls andere Erfahrungen gemacht und, das gebe ich zu, uns fehlt ein nicht unbedeutender Abschnitt an Demokratie in unserer Historie. In der real existierenden DDR gab es selbstverständlich Wahlen und dem Wahlvolk stand es frei, wen sie wählen. Okay, das war jetzt natürlich ein Scherz. Nein, vielmehr machten wir uns schon sehr verdächtig, wenn wir nicht zur Wahl gingen. Da konnte es passieren, dass unsere Hüter der Demokratie mit der Wahlurne bei dir zu Hause auftauchten und dich unmissverständlich aufforderten, deiner demokratischen Pflicht als Wähler unaufgefordert nachzukommen! Das bedeutete, wer nicht zur Wahl ging, sollte möglichst Pilze suchen oder in den Garten des Schwagers eines Freundes flüchten. Zum Glück hatte ich an meiner Junggesellenbude keine Außenklingel.

Wer zur Wahl ging, ob nun aus Überzeugung (Witz!) oder lediglich, um keinen Ärger zu kriegen, dem stand es frei, die vorgeschlagenen Kandidaten der nationalen Front zu wählen. Dieser martialische Begriff umschrieb den einvernehmlichen Wahlvorschlag aller Parteien einschließlich der knallharten Opposition von CDU und den FDP-Vorgängerparteien. Bauern, Rentner und Frauen waren selbstverständlich auch mit eigenen politischen Vereinigungen vertreten, aber die können wir in diesem Zusammenhang getrost vernachlässigen. Die anderen Blockparteien im Grunde genommen auch.

Jedenfalls waren die Wahlvorschläge auf dem Stimmzettel nicht verhandelbar. Höchstens in den obligatorischen Wahlveranstaltungen. Man kann sich das im allerweitesten Sinne am ehesten noch als eine Art ähnlich dem Wahlkampf vorstellen. Doch so kämpferisch wir auch sonst eingeschworen wurden, die Vergabe der Mandate für die sozialistischen Volksvertretungen erfolgte im Kuschelmodus nach dem Motto „Alle haben sich lieb“ und hatte beim besten Willen nichts mit Kampf zu tun.

Einmal machte ich mir den Spaß und nahm an einer solchen Veranstaltung teil. Das war vor der letzten unfreien Kommunalwahl in der DDR. Aufsehen erregte ich dadurch, weil zu dieser bereits vorab geklärten Nominierungsfarce nur die hingingen, die von ihrem Betrieb oder ihrer Partei dahin „delegiert“ wurden; sprich, die hingehen mussten. Als absoluter Außenseiter, aber halbwegs Angepasster, der ich war, traute ich mich nicht, bei der Abstimmung gegen die vorgeschlagenen Kandidaten zu stimmen. Ich enthielt mich lediglich. Begründen konnte ich das damit, dass ich – als einziger – eine Frage an die vorgestellten künftigen Mandatsträger hatte. Ich wollte wissen, was sie gegen die zunehmende Umweltverschmutzung, insbesondere in unserem Dorfbach, zu unternehmen gedachten.

Diese Frage traf die Abnick-Genossen natürlich völlig unvorbereitet und sie war auch nicht ganz fair, ich geb’s zu. Fahriges Sortieren in den Stapeln von der Parteileitung vorbereiteter Pamphlete und etwas Gestammel von wegen, dass müsse man gemeinsam angehen und Lösungen suchen und alle müssten dazu ihren Beitrag leisten – mehr konnte dazu beim besten Willen nicht kommen. Ich fand es witzig, die scheinheiligen Genossen etwas aus dem Takt gebracht zu haben, aber dass man mit Wahlen oder ungeplanten Anfragen an die Kandidaten nichts ändern kann, war mir selbstverständlich klar.

Vom Gegenteil überzeugt glaubten wir uns für eine kurze Zeitspanne, als unsere Deutsche Demokratische Republik allmählich unterging und die Demokratie Einzug hielt. Endlich konnten wir frei wählen und das war tatsächlich ein schönes Gefühl! Vor niemanden mussten wir uns rechtfertigen, weder wenn wir unser Kreuz hinter der schnell nach rechts abschwenkenden DSU noch hinter kurzzeitig auftauchenden Gruppierungen wie der Biertrinker-Union oder der Deutschen Sex-Liga machten. Freiheit – wie gut schmeckte das!

Letztendlich wählten wir, trotz aller Parteienvielfalt, die D-Mark und speziell die Ecke, aus der uns der größte Haufen versprochen wurde. Dass nicht alles Gold ist, was wie Westgeld glänzt, merkten wir erst später. Als zur dritten gesamtdeutschen Bundestagswahl per Urnengang ein radikaler politischer Wandel stattfand – von CDU-Kohl zu SPD-Schröder -, wurde Hartz-IV eingeführt, die Vermögenssteuer abgeschafft und endlich durfte bei dem Kosovo-Einsatz wieder einmal eine deutsche Armee in den Krieg ziehen. Das alles wirkte unterm Strich nicht wie ein konsequenter Links-Schwenk. Die Arbeiterklasse übernahm nicht die Macht, die großen Multis wurden nicht enteignet, lediglich Kevin Kühnert spielte im Kinderzimmer mit seinen Plastik-Indianern die Erstürmung von Großbanken und Energiekonzernen. Es änderte sich nicht allzu viel und schon gar nicht radikal. Lediglich der Wähler hatte für einen Moment das Gefühl, aktiv in die Politik eingegriffen und damit etwas verändert zu haben. Ein paar Jahre später wollte keiner mehr den großen Macher aus Niedersachsen, den Genosse der Bosse, gewählt haben. Schließlich musste er sich einen neuen Job bei irgend so einer Gas-Klitsche suchen, die CDU übernahm wieder in bewährter Manier und Hartz-IV blieb ebenso wie, nach einem kurzzeitigen Rückzieher, der Atom-Ausstieg. So viel zum Thema Veränderung durch Wählen! Dass man durch falsches oder Trotz-Wählen ebenso wenig verändert, schon gar nicht zum Positiven, tut dabei nichts zur Sache. Um unsere Gefühle der Empörung zu befriedigen, genügt mitunter schon ein provokatives Kreuz auf dem Wahlschein, so wie seinerzeit meine aufrührerische Frage bei der Vorstellung der Kandidaten der nationalen Front. Dass ich damit nicht die Wende einleiten würde, nicht einmal für unseren versauten Saubach (der hieß wirklich und heißt heute immer noch so, obwohl er sauberer geworden ist), daran hegte ich keinen Zweifel. Es war einfach ein kleines, persönliches Aufbegehren nach dem Motto: Ich hab’s wenigstens probiert und dabei einige Leute aufgeschreckt. Nicht viel weniger erreicht man, wenn man sein Kreuz hinter bigotten Populisten macht, die viel erzählen können, weil sie ja doch nie wirkliche gestalterische Verantwortung übernehmen müssen. Meckern ist bekanntlich immer leichter als machen oder will etwa jemand behaupten, die Ziegen auf der Weide strengten sich mehr an als ihr Bauer?

Menschen wollen nicht immer sachbezogene Lösungen. Logik kann sogar richtig wehtun und es gibt statistisch nachweisbar deutlich weniger Menschen, die Geld dafür ausgeben, sich Schmerzen zufügen zu lassen, als AfD-Wähler. Der Mensch ist ein fühlendes Wesen. Kein logisches. Das hatte schon unser Ex-Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Anno 1990 erkannt, als die bundesdeutsche Osterweiterung sozusagen sein persönliches Elbe-Hochwasser und die letzte Chance für ihn war, den Ritt vom absteigenden Ast abzufangen. Dank der – nein, nennen wir es ruhig: Dank seiner Wiedervereinigung blieb er noch stolze acht Jahre im Amt. Das Ganze nicht mit Hilfe einer fundierten, messerscharfen Analyse, sondern indem er mit großer Geste uns Ossis zu sich ins Paradies einlud und gar nicht schnell genug reinholen konnte. Um diesen leicht überstürzten Husarenritt allen so richtig schmackhaft zu machen, versprach er uns blühende Landschaften. Keinem werde es schlechter gehen, aber vielen besser. Natürlich glaubten wir ihm das, dem Kanzler der Einheit! Wir fühlten uns willkommen und das war ein wahrlich gutes Gefühl (wie wir es nicht so schnell wieder erleben sollten). Ganz anders dagegen Kohls damaliger Gegenpart Oskar Lafontaine mit seiner Miesmacherei und ganzen Bananenkisten voller Bedenken. Natürlich hat er Recht gehabt, was die Kosten der Einheit und die Lebensunterschiede zwischen Ost und West betraf. Aber das wollte keiner hören! So viel Realitätssinn passte einfach nicht zur landauf, landab herrschenden Feierlaune. Die Diktatur des Proletariats musste über Nacht der Diktatur der grenzenlosen Freiheit und Freude weichen. Statt sozialer Kanzler der Einheit wurde der saarländische Landsmann von Erich Honecker (aha, da haben wir’s also – und später noch Kramp-Karrenbauer aus der gleichen Ecke!) folgerichtig verbitterter, auf dem linken Auge hellsehender Abweichler. Komisch nur, dass er dafür Sahra Wagenknecht abbekommen hat. Eigentlich kriegen am Ende immer die siegreichen Helden das schöne Mädchen. Oh mein Gott, jetzt will dieses schreckliche Bild nicht mehr aus meinem Kopf: Der dicke Helmut und die hübsche Sahra! Huuuh, vielleicht doch besser, dass die Geschichte so gelaufen ist, wie es kommen musste…

Sicher spielt auch die Reizüberflutung durch die Nachrichten eine gewisse Rolle beim Wahlverhalten. (Natürlich, die Medien sind schuld, eine im Osten gern bemühte Zuweisung bei Klärung der Schuldfrage!) Aber man braucht doch nur einmal mit Doc Browns Delorian einige Jahrzehnte in der Zeit zurückzureisen. Damals bezog man die Nachrichten des Tages aus 15 Minuten Tagesschau. Wer es bis ins letzte Detail haben wollte, eben 20 Minuten Heute-Nachrichten auf dem Zweiten. Jetzt dagegen gibt es Nachrichten rund um die Uhr, fortlaufende News-Ticker, aktuelle Brennpunkt-Shows und kurzfristig einberufene Expertenrunden. Passiert etwa heute so viel mehr als damals, die momentane Nachrichtenhoheit der Coronameldungen einmal ausgenommen? Nein, kein erneuter Mauerbau, zumindest nicht in Deutschland, keine Kuba-Krise, die Ölkrisen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, aber die News (anstelle von Nachrichten) prasseln aus allen Ecken auf uns herab, auf 80 Sendern. Dazu stets ein Kommentar, der die Hintergründe erläutert, warum in Neukirchen-Vluyn ein Einkaufswagen mit Kind gegen einen parkenden SUV gekracht ist und warum sich diese Katastrophe schon seit längerem angedeutet hat, aber die Verantwortlichen alle nachträglichen Warnungen im Vorfeld konsequent ignoriert haben.

Wer auf diese erdrückende Vielfalt hören will, dem muss zwangsläufig schwindelig werden. Und wie befreit man sich aus diesem Taumel? Man guckt konsequent in eine Richtung und diese ist hierzulande nun einmal vorrangig rechts. Jeder Fahrlehrer wird bestätigen können, dass im Zweifelsfall rechts vor links geht und unsere Fleppen sind uns heilig, seit sie uns zum Führen eines Westautos qualifiziert haben.

Was ich den Politikern des fortgeschrittenen neuen Jahrtausends damit sagen will: Nehmt euch gefälligst unserer Gefühle an! Wenn wir uns vom Syrer in unserem Alltag bedroht fühlen, obwohl es lediglich drei Dörfer weiter bis vor drei Monaten mal eine syrische Familie gab, dann ist dieses Gefühl echt. Vor allem, wenn es von solch unbestechlichen Fakten bewiesen wird, dass wir von jemandem gehört haben, der einen kennt, dass die abends immer total laut waren. Dann wollen wir nicht hören, dass real gar keine Islamisierung von Hinterkleinkleckersdorf droht. Eure völlig korrekten Statistiken zur fehlenden Überfremdung sind genauso nutzlos wie logische Argumente für einen unter Höhenangst leidenden Menschen, der am Treppengeländer eines Aussichtsturmes vor blankem Entsetzen festgefroren ist. Es bringt nichts, ihm zu erklären, dass rein physikalisch gesehen nichts passieren kann und die Treppe jeder denkbaren Belastung gewachsen ist - wenn er angesichts der Höhe, in der er sich befindet, vor gefühlter Angst schier gelähmt ist. Versuchen es etwa die Psychotherapeuten mit nüchterner Logik bei einem schizophrenen, dementen oder unter Depressionen leidenden Patienten? Wenn meine Oma angstvoll auf unsere geplante, ökologisch unkorrekte Urlaubsflugreise blickte und sich in schaurigsten Farben ausmalte, was alles mit dem Flieger passieren kann, brauchte ich ihr auch nicht mit Unfallvergleichsstatistiken zwischen Bus- und Flugreisen zu kommen, um sie zu beruhigen. Mor heert doch immor so viel! Diesem Argument kannst du keine Versachlichung entgegensetzen.

Na also! Aber im politischen Empfinden soll das völlig anders sein? Am Arsch, ihr Nicht-den-Wähler-Versteher! Davon haben wir die Schnauze voll! Falls ihr es noch immer nicht kapiert habt: Wenn es um die Politik geht, läuft unser limbisches System auf Hochtouren und der langweilig abwägende, zaudernde präfrontale Cortex hat Sendepause. Den brauchen wir erst wieder, wenn wir die Fernsehzeitung zur Hand nehmen oder „Among us“ spielen.

Es genügt, wie zu beweisen war, vollkommen, den Leuten ausreichend Honig ums Maul zu schmieren, das ist die schlichte Wahrheit. Die Zuschauer vom Dschungelcamp wollen auch nicht hinter die Kulissen schauen und die schnöde, abgekartete Realität erfahren, sondern eine gute Show, einige inszenierte Skandälchen und ab und zu paar blanke Titten sehen. Wenn der Honig süß genug schmeckt, kann er ruhig ein bisschen gepanscht sein oder aus irgendeinem vermaledeiten Ausland stammen. Parteivölker, hört die Signale! Und auf unsere Gefühle.

Gegen reale Bedrohungen wissen wir uns dann schon selbst mit unseren Bürgerwehren und Facebook-Gruppen zu schützen.
 

Tula

Mitglied
Hallo Willybald
Ausgezeichnet!! Nicht nur witzig, sondern vor allem treffend analysiert. Die Synthese am Ende bringt es auf den Punkt:

Es genügt, wie zu beweisen war, vollkommen, den Leuten ausreichend Honig ums Maul zu schmieren, das ist die schlichte Wahrheit.

Honig und natürlich ein paar Skandälchen mit Titten. Davon überzeuge ich mich täglich wenn ich zu yahoo.de gehe, um dort meine mail zu lesen.

LG
Tula
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Als Opa Helmut gesagt hat: "Holt die Bananen raus, heute kommt Besuch aus`m Osten!", konnte uns das nur recht sein: Jede Menge neue Brüder und Schwestern! Das Kinderzimmer wurde rammelvoll, die Verwandtschaft rückte näher ran ...
Und irgendwann hat Mutti Angela gesagt: "Die sind gekommen, um zu bleiben. Die ausm Osten - und auch die noch weiter ausm Osten. Wir schaffen das schon ...
Und?
Hamwerdoch.
Und wer da heute noch vorm Syrer bibbert, der mochte auch gestern nicht den Türken und vorvorgestern ...
Ich pfeife es nicht mehr mit: Das Hohelied von der Angst und den Unterschieden Nord-Süd-Ost-West. Was uns verbindet, ist die Hauptsache ;)
 

Willybald

Mitglied
Danke, Tula! Und - das war erst der Anfang, da geht noch was (Ist Teil eines Manuskriptes).
Ähem, und wo genau nochmal sieht man das auf yahoo? Ich meine nur, dass ich da nicht aus Versehen mal dahin gerate! :oops:

@Isbahan: Du hast natürlich Recht, irgendetwas verbindet alle - Ostfriesen und Bayern, Ossis und Wessis, Berlina und Sachsen, Cowboys und Indianer... Man muss sich nur Mühe geben, das zu finden. Manchmal kann uns schon die gemeinsame Einsicht in die Unterschiede verbinden! Allerdings gehört es auch zur Einsicht, dass sich der Mensch und zwar nicht nur der deutsche von nichts so ungern trennt wie von seinen Vorurteilen; nicht einmal von seiner Schwiegermutter! (Hat eine Studie angesehener Wissenschaftler von einer renommierten Universität herausgefunden.)
 

Tula

Mitglied
Hallo Willybald
Was ich meinte sind die Nachrichten auf yahoo. Eine Mischung aus aktuellen Themen, Klatsch und Titten. Heidi Klum und jetzt ihre Tochter (ganz zu schweigen - ihr dämlicher Mann und dessen wohl noch dämlicherer Bruder) sind im Durchschnitt wohl alle zwei Tage dabei. Dann noch irgendein unerhörtes Foto irgendeiner Dame (die ich fast nie kenne) auf Instagram und die Reaktion der Fans und Anti-Fans. Shit-Stürme von denen man nur deshalb Kenntnis nimmt, weil es dort steht.
Nicht dass ich mir diesen Müll durchlese. Es reicht ja die Liste der Titel beim Scrollen.

Und rein gar nichts von Willybald ... :(

LG
Tula
 

Willybald

Mitglied
Nee, von Willybald kommt da rein gar nix, weil ist ja auch mein Deckname! Könnte aber sein, dass bei "Rhyfan Stahl" was kommt - ist allerdings auch nur ein weiterer Deckname.

Was die von dir angesprochene Themenwichtung betrifft, da trägt mein Berufszweig - der Journalismus - eine gewisse Mitschuld. Viele Konsumenten wichten die Themen nicht mehr nach ihrer Auffassung, sondern sortieren sie nach der Platzierung. Das Aufmacherthema ist demzufolge die wichtigste Angelegenheit, die Kurzmeldung auf S. 6 unwichtig. Diese Art der Wertung wird sogar übernommen, wenn auf S. 1 darüber berichtet wird, dass Heidi Klum beim Einkaufen der Hund (oder der Mann) weggelaufen ist und weiter hinten in einer Kurzmitteilung darüber informiert wird, dass bei einem Terroranschlag in Abbottabad 35 Menschen getötet wurden. Diese eingeschliffene Konsumenten-Gewohnheit machen sich natürlich auch viele Online-Dienste zunutze und platzieren das als Aufmacher, womit sie die meisten Werbeumsätze generieren: Klatsch und Titten. Aber anders herum wollen viele Konsumenten nun mal nicht als Schlagzeile lesen: "Heute kein einziges Kind auf dem Schulweg von einem Auto angefahren!", sondern lieber "Alkohol-Fahrer rast in Schülergruppe". Der einmal geschaffene Bedarf wird punktgenau bedient.
 



 
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