*** Was das Auge nicht sieht ***
Im Zimmer glimmte eine alte Messinglampe. Ihr verstaubter, mit schweren Kordeln behangener Schirm entließ einen rostfarbenen Lichtkegel, der kaum über das Nachtschränkchen hinausreichte.
Jim saß am Tisch. Seine Augen konzentrierten sich auf unscharfe Bilder, die über den Monitor flimmerten. Ab und zu griff er nach dem Pappbecher neben dem Laptop und trank einen Schluck Kaffee. Sein rechter Zeigefinger klickte unermüdlich auf der Maus, während die Zeiger einer alten Uhr über der Kochnische unaufhaltsam dem Ende des Tages entgegensprangen.
Ein gelegentliches Seufzen kam über die Lippen des Jägers. Stundenlanges Starren auf den verwaisten Krankenhauskorridor hatte ihn ermüdet.
Der Blick auf die digitale Anzeige unterhalb der Aufnahmen zeigte, dass bald die Ereignisse folgen würden, die ihn und seinen Bruder veranlasst hatten, das Gebäude zu verlassen, um unangenehmen Fragen der Polizei aus dem Weg zu gehen.
Jim rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Er drückte sich gegen die Stuhllehne, bis ihr sprödes Knarzen die Bewegung stoppte. Seine Augen verdunkelten sich, als Amelia im Korridor erschien. Plötzlich hatte Jim das Gefühl, ihr Name würde sich in seine Seele einbrennen. Für einen kurzen Augenblick spürte er ihren zitternden Körper wieder in seinen Armen und stieß zischend einen Atemzug durch seine Nase.
Nur wenige Sekunden später sah er sich selbst in Begleitung seines Bruders den gleichen Weg gehen.
Er war ein seltsames Gefühl, die Vergangenheit noch einmal zu erleben – mit dem schrecklichen Wissen, das er jetzt hatte.
Kurze Zeit später verließen beide Jäger in Begleitung der Schwester den Raum. Amelia war sichtlich angeschlagen. Sie taumelte an seiner Seite, bis das schwarze Auge der Kamera sie aus ihrem Blickwinkel verlor.
Jim war erstaunt, denn in der Realität war ihm die Zeit viel länger erschienen. Plötzlich hellwach, fuhr er mit dem Mauszeiger zurück und betrachtete konzentriert einzelne Bilder, die mit jedem Klick einen winzigen Augenblick der Vergangenheit vor seinen Augen einfroren.
Über Amelias Schultern schwebte ein Schatten. Er war zerfetzt. Sicher aber war, dass zwei seiner Auswüchse auf ihren Schultern hafteten. <Was ist das?> Jims Stirn zog sich in Falten. Er schob sein Gesicht näher an den Monitor, um das verrauschte Standbild zu fixieren.
<Fingerabdrücke!> Schoss es ihm durch den Kopf. Alle Opfer hatten violette Abdrücke auf ihren Schultern.
Jim atmete tief durch. Dann erhob er sich, um zum Fenster zu gehen. Er öffnete es und genoss den kühlen Atem der Nacht, der sich in den braunen Strähnen über seiner Stirn verfing.
Es war kurz vor Mitternacht und Jim wusste, dass Ron vor morgen früh nicht zurückkehren würde. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über seine Lippen. Doch nur Sekunden später hatten die Ereignisse um diesen rätselhaften Fall seine Gedanken wieder in Besitz genommen, um als zusammenhanglose Fakten seinen Verstand zu quälen.
Der junge Jäger sah in die Nacht. Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Im einfallenden Mondlicht zeichnete sich die Silhouette seines hochgewachsenen Körpers deutlich vor dem Fenster ab.
*** *** ***
Sonnenstrahlen kitzelten in Ron’s Nase. Kurz bevor er die Augen öffnete, huschte ein Lächeln über seine Lippen, denn die erwachende Erinnerung jagte eine Armee kleiner Ameisen durch seine Adern. Der warme Körper, der sich in seine Arme schmiegte, bezeugte, dass er nicht träumte.
Ron blinzelte kurz in das helle Licht. Dann richtete er den Blick auf Lilly, die ihren Kopf auf seine Brust gebettet hatte. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, strich er mit dem Zeigefinger diese widerspenstigen Locken aus ihrer Stirn und beobachtete lächelnd ihren Schlaf. Lillys Kopf hob sich mit jedem seiner Atemzüge. Für einen Augenblick wurde der Wunsch in ihm nach einer Familie übermächtig. Wie in Trance ließ er die blonden Strähnen durch seine Finger gleiten und schloss die Augen. Aber er wusste, für Seinesgleichen würde es niemals ein Zuhause geben. Seufzend befreite sich Ron aus der wärmenden Umarmung.
„Du bist schon wach?“, flüsterte Lilly.
„Ich muss gehen“, antworte Ron so leise, dass er seine eigenen Worte kaum verstand. Er zuckte zusammen, als er sich aufrichtete, denn die Verletzung - gestern Nacht durch den Rausch der Sinne zum Schweigen gebracht - meldete sich nun umso heftiger zurück.
Lillys Hand ergriff seinen Arm. Fragend sah sie ihn an. „Kommst du zurück?“.
In Rons Augen zeigte sich ein Leuchten. „Immer“, flüsterte er rauchig und gab Lillys Forderung, sie noch einmal in seine Arme zu schließen, nach.
Doch sein letzter Kuss schmeckte nach Abschied.
*** *** ***
„Jetzt erzählt mir alles noch einmal von vorn“, forderte Bill. Der alte Jäger hatte auf einem der Betten Platz genommen und sah die Brüder aufmerksam an. Ungeduldig trommelten seine Finger auf dem Nachttisch. Die Anreise steckte ihm in den Knochen und stimmte ihn mürrisch.
Die jungen Jäger hatten sich an den Tisch gesetzt. Vor ihnen türmten sich die Reste ihres späten Frühstücks in Form von Papiertüten.
„Angefangen muss es wohl mit dem Koch im Diner haben“, begann Ron zu berichten. Er sah auf Jim, der ihm bestätigend zunickte.
„Wir hörten einen Schrei und dann rannte der Junge aus der Küche“, fuhr dieser fort. Jim war bemüht, es sich auf dem Stuhl bequem zu machen. Doch seine langen Beine fanden nirgends Platz und schoben leere Pappbecher vor sich her.
Ron versuchte sein Grinsen zu verkneifen. „Er hat unseren Kleinen fast zu Boden gerissen als er ihm in die Arme stolperte.“
„Alter … ! Musst du ständig darauf herumreiten“, maulte Jim und sah zur Decke.
Ron hob beschwichtigend die Hände: „Als wir in die Küche kamen war der Koch bereits tot. Er lag angekokelt auf dem Grill. Laut unseren Recherchen ist er der erste Tote“, berichtete er und schob seinen Oberkörper nach hinten, bis auch sein Stuhl knarrte. Erschrocken sah er über seine Schultern und rückte wieder nach vorn.
Jim hatte das Treiben seines Bruders grinsend beobachtet. „Wir konnten ihn leider nicht richtig begutachten. Aber er hatte genau wie der Küchenjunge und Amelia diese Druckstellen auf seinen Schultern“, fuhr er fort. Jim beugte sich in Bills Richtung. Seine Stirn zog sich in Falten. „Wir wurden von etwas Unsichtbarem angegriffen – nur durch die Kamera konnten wir beim Angriff einen Schatten erkennen.“ Verheißungsvoll richtete Jim seinen Oberkörper wieder auf. „Genau diesen Schatten habe ich gestern Nacht auch auf dem Sicherheitsvideo des Krankenhauses entdeckt, als er über Amelia schwebte.“
„Ja – aber, Jimmy“, fiel ihm Ron ins Wort. „Bedenke, unser EMF hat Amelia eindeutig als den Geist ausgewiesen.“
Jims Augen streiften den Älteren zornig. „Komm runter, Ron! Das Mädchen war doch kein Geist!“ Er machte eine Pause und murmelte: „Vielleicht war sie irgendwie besessen?“
Bill zupfte an seinem grauen Bart. Er sah einige Momente gedankenversunken in den Raum, bevor er sich erneut an die Jäger wandte. „Was ist im Krankenhaus passiert? Konntet ihr was sehen?“ Bill lehnte sich etwas zurück.
„Nichts – wir kamen zu spät“, antworte Ron. Er holte tief Luft. Seine Finger spielten ratlos mit einer der Papiertüten auf dem Tisch.
„Wieder einmal“, zischte Jim.
Rons missmutiger Blick traf ihn augenblicklich.
„Amelia lag am Boden – offensichtlich war sie gestolpert.“ Jim war aufgestanden und hatte sich zur Wand gedreht. Er seufzte, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig.
„Gestolpert …“, widerholte der Alte leise.
„Ja – zum Glück“, stellte Ron fest. „Wenn ich mir vorstelle, dass sie die Vorhänge des Bettes weggezogen hätte. Die Arme, sie hätte bei diesem Anblick einen Schock fürs Leben bekommen.“
Jim drehte sich schlagartig um: „Ja - aber das ist egal, denn sie lebt nicht mehr…!“, fauchte er.
Ron senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen.
Bill saß immer noch auf dem Bett. Aufmerksam beobachtete er die Brüder. „Was war mit dem Küchenjungen? Los Jungs! Muss ich euch denn alles aus der Nase ziehen?“ drängte er.
„Er war tot und er sah auch so aus, als wäre das schon seit Jahren so.“ Rons Stimme klang gereizt. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und kippelte mit dem Stuhl.
„Später waren wir in der Pathologie, um ihn uns genauer anzusehen“, sagte Jim. Er setzte sich wieder und atmete einmal tief durch.
„Wie seid ihr denn da rein gekommen“, fragte Bill erstaunt.
Die Brüder wechselten einen kurzen Blick und antworteten grinsend: „Frag lieber nicht …“
Jim gebeugt sich nach vorn. „Der Tote hatte diese Flecken auf der Schulter – sein Körper war völlig ausgezehrt und offensichtlich waren seine Rippen Matsch.“
Bill hob nachdenklich seinen Kopf.
„Als wir bei Amelia ankamen, war sie noch am Leben“, sprach Ron leise. Seine Augen waren auf Jim gerichtet. Dieser hatte den Kopf in seine Hände gelegt.
„Wir konnten zuerst nichts finden. Dann zeigte der EMF Messer etwas an … es war Amelia…!“ Ron stoppte. Er konnte die aufwallende Erregung seines kleinen Bruders daran erkennen, dass sich seine Atmung wieder beschleunigte.
„Und dann?“, fragte Bill zögernd. Er verstand Rons warnende Geste und beobachtete nun ebenfalls den impulsiven Jüngeren.
„Sie starb einfach“, antwortete Ron.
„Du meinst wohl, wir haben sie sterben lassen“, fuhr es unkontrolliert aus Jim heraus. Er schnellte in die Höhe und sein Körper baute sich zu Furcht einflößender Größe auf.
Ron war ebenfalls aufgesprungen. Er sah Jim eindringlich an. Mittlerweile raste auch sein Puls. „Wir konnten nichts tun“, versuchte er Jim zu besänftigen.
„Wir hätten sie retten müssen - Mann“, schrie der Jüngere gequält. Seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen.
„Wie denn“, fragte Ron leise. Er ging einen zaghaften Schritt auf Jim zu und breitete die Arme aus. „Sag mir wie, Jimmy – wir hatten nichts …!“ Unglücklich sah er seinen Bruder an.
„Jungs - Jungs - Jungs bleibt ruhig!“ Bill war aufgestanden und unterbrach das Gespräch. Das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte war, dass die Beiden wie Kampfhähne aufeinander losgingen. Bill hob beschwichtigend seine Arme, als er sich ihnen näherte. „Was ist danach passiert?“, fragte er.
„Dann wurden wir selber angegriffen“, antwortete Jim als erster und stieß zischend Luft aus seinen Lungen. Manchmal wünschte er sich etwas mehr Kontrolle über seine Gefühle. Als seine Augen den Älteren betreten streiften, entspannten sich auch dessen Gesichtszüge.
Ron ging zurück zum Stuhl, um wieder Platz zu nehmen.
„Zuerst wurde ich attackiert und anschließend Ron. Wir konnten den Angreifer nicht sehen“, berichtete Jim weiter und wanderte im Zimmer auf und ab. „Er hat meinen Namen gerufen!“
„Was hat er genau gesagt“, wollte Bill wissen.
Jim hielt inne und antworte: „Er sagte: Jim, nimm mich mit.“ Seine Augen wanderten hilfesuchend zu Ron.
Dieser hob ratlos seine Schultern und sprach weiter: „Also mich hat er nur gebissen. Der Mistkerl muss verdammt groß gewesen sein. Er hat mich mühelos umgerissen und war verdammt schwer. Dieser Typ hat mir fast die Rippen gebrochen.“
Jim nickte Bill bestätigend zu. „Ging mir auch so“, sagte er als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte.
Die Augen des alten Jägers blitzten. „Was ist dann passiert?“, fragte er.
„Dann war er weg“, antwortete Jim.
„Zum Glück“, bemerkte Ron. „Der hätte uns echt fertig gemacht.“
„Wie weg?“, bohrte Bill nach.
„Was weiß ich denn – er war einfach weg. Vielleicht wars die Sonne“, murmelte Jim ratlos.
„Ja es war bereits Morgen“, stellte Ron fest. „Der Milchwagen läutete vor der Tür.“
Bills Augen weiteten sich. „Ihr meint, so ein alter Milchwagen - wo der Fahrer noch mit einer Glocke seine Kundschaft ruft?“
Ron und Jim sahen sich erstaunt an. „Ja …“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Bill stand auf und ging murmelnd im Zimmer auf und ab. Er hatte den Kopf gesenkt und kraulte seinen Bart. Nach einer Weile wandte sich der alte Jäger den Brüdern zu. „Jim?“, frage er. „Der Küchenjunge riss dich um, weil er stolperte?“
Erstaunt sah Jim zurück. „Hab ich doch schon gesagt“, seufzte er.
„Es gehört ziemlich viel Kraft dazu dich umzureißen“, fuhr Bill schmunzelnd fort.
Über Jims Gesicht huschte wieder dieser beleidigte Gesichtsausdruck. Gerade als er widersprechen wollte unterbrach ihn Bill.
„Nein, nein – ist schon gut. Ich glaube es dir.“ Bill streckte Jim seine Hände entgegen. Mit gekräuselter Stirn fasste er die Aussagen zusammen: „Die Krankenschwester … sie lag am Boden weil sie“ –
„…gestolpert war …“, fielen ihm die Brüder ins Wort und rissen die Augen auf.
„Los sag schon Bill – du weißt doch was“, drängte Jim.
Der alte Jäger nickte besorgt: „Jungs! Ich weiß, mit wem wir es hier zu tun haben …“
*** *** ***
Etwas Derartigem waren sie noch nie begegnet. Jim sah mit besorgtem Gesicht auf Bill. Ron spielte mit einer der Papiertüten auf dem Tisch. Auch er nahm den Alten ins Visier. Bill setzte sich seufzend zurück auf das Bett. Die durchgelegene Matratze gab sofort dem Gewicht des alten Jägers nach. Schnaufend kämpfte er, wild mit den Armen rudernd, um sein Gleichgewicht.
Auf Rons Stirn zeigte sich mittlerweile eine steile Falte. Bills Wortarmut beunruhigte ihn und er drängte den Alten, endlich sein Schweigen zu beenden.
„Also Jungs!“, begann Bill. „Nach euren Informationen haben wir es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Druckgeist zu tun.“ Abrupt beendete er den Satz, indem er die Lippen zusammenpresste.
„Druckgeist?“ Jim schaute ihn ungläubig an.
„Was zum Henker ist denn ein Druckgeist?“ Ron richtete sich weiter auf – sorgsam darauf bedacht, den alten Stuhl nicht übermäßig zu strapazieren.
„Nachdem, was ihr mir erzählt habt, tippe ich mal auf einen Aufhocker“, fuhr Bill fort.
„Aufhocker? – hab ich noch nie was von gehört“, fiel ihm Ron ins Wort. Gleichzeitig wandte er sich an Jim. „Steht was zum Thema in John`s Tagebuch“, fragte er.
Jim stand auf und kramte im Schubfach seines Nachtschränkchens. Nachdem er das Tagebuch ihres Vaters in den Händen hielt, blätterte er durch die eng beschriebenen Seiten. Seine Augen flogen über Texte und handgezeichnete Skizzen von seltsamen Kreaturen, in der verzweifelten Hoffnung, etwas zu entdecken. Dies, obwohl er die Zeilen, Seite für Seite, schon auswendig kannte. „Hier steht auch nichts drin“, seufzte er und schloss das Buch.
„Wie kommst du darauf?“, fragte er den Alten neugierig und warf schwungvoll das Buch auf eines der Betten.
Bill schnaubte. „Die Indizien verraten es mir. Obwohl ich noch nie von einem wirklichen Fall gehört habe.“ Seine Stimme klang nachdenklich. „Ein Aufhocker ist ein koboldähnliches Geschöpf. Seine typischen Spukorte sind Bäche, Brücken, Seen, Wälder, Wegkreuzungen, Kirchhöfe und Mord- oder Richtstätten. Begegnungen mit dem Aufhocker haben für seine zufälligen Opfer oft körperliche und seelische Krankheiten zur Folge. Er springt den Leuten auf die Schultern oder auf den Rücken. Dann ernährt er sich von der Lebensenergie des Opfers und wird mit der Zeit immer schwerer.“ Während Bill berichtete, schweifte sein Blick über die alte Blumentapete.
„Bis den Opfern nach einer gewissen Zeit durch diese Last die Knochen brechen“, stellte Ron kopfnickend fest. „Kein Wunder, dass sie so ausgelaugt aussahen“, fügte er hinzu und schaute bestätigend auf den alten Jäger.
Jim nahm seinen Laptop vom Bett und ging zum Tisch. Mit einem Wisch schob er den Papiermüll zur Seite. Er ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. Bills Tipp machte es leicht, nach weiteren Informationen zu googeln.
„Ja, eure Schilderungen stimmen mit meinen Informationen fast überein“, erklärte Bill weiter: „Wenn die Opfer angesprungen werden, geraten sie oft durch die Wucht des Ansprunges ins Stolpern.“
Seine Hände fuhren wieder durch die grauen Barthaare. „Ich habe allerdings noch nie gelesen, dass diese Kobolde töten. Sie verwirren ihre Opfer so, dass sie wie in einem Alptraum gefangen sind“, murmelte er.
„Möglicherweise ist dieser hier besonders hungrig“, versuchte Ron den merkwürdigen Umstand zu erklären und hob seine Schultern.
Bill und Ron beobachteten Jim, der fast mit dem Monitor seines Laptops verschmolz. Seine schmalen Augenbrauen hatten sich zusammen geschoben. Unter ihnen folgten aufmerksame Augen den Zeilen zahlloser Artikel.
„Die modernen Sagen bestätigen deine Aussage, Bill“, murmelte der Jüngste und hob den Kopf. Seine Augen funkelten hinter seinen Strähnen. „Aber … !“ Jim holte Luft und seine Stimme bekam einen verheißungsvollen Singsang-Ton. „Die ältesten Berichte über Aufhocker sprechen eindeutig von aufhockenden Leichen und nicht von Kobolden. Im Gegensatz zum Nachzehrer, der sein Grab nicht verlassen musste, wenn er den Lebenden Schaden zufügen wollte, stiegen andere Untote ähnlich den Vampiren hinaus und raubten den Menschen die Lebenskraft.“
Jim sah wieder auf den Laptop. Er klickte mit der Maus, um sich durch den Text zu scrollen. „Jetzt kommt’s!“ Jim erhob erneut den Kopf. „Im Westen Deutschlands verschmilzt der Aufhocker mit dem Werwolf zum Stüpp, einem gefährlichen Unhold, der die Menschen anspringt und sich so lange herumtragen lässt, bis das Opfer an Entkräftung stirbt.“ Erfreut über diese Spur schlug er mit den Händen auf seine Oberschenkel und bemerkte: „Also kann die Heimsuchung doch tödlich enden.“
Ron senkte verächtlich den Kopf. Er fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Stoppeln und erwiderte verärgert: „Was ist denn das für ein beschissener Geist! Eine Mischung aus Zombi, Vampir und Werwolf mit einer Prise Succubus? Wie kann man ihn töten?“ Entschlossen hatte er die wichtigste Frage gestellt. „Es ist einfach unglaublich“, murrte er. „Jetzt müssen wir uns auch noch mit deutschen Legenden rumplagen!“
Über Jims Gesicht huschte ein Grinsen. „Ja Bruderherz – Geister kennen wohl keine Grenzen! Vermutlich wurde er von Einwanderern importiert.“ Seufzend wandte er sich wieder den Informationen aus dem Internet zu und las weiter: „Der Aufhocker bleibt auf dem Wanderer sitzen, bis dieser durch Sonnenlicht, ein Gebet oder Glockengeläute von ihm erlöst wird.“
„Die Glocke des Milchwagens“, flüsterte Ron und sah Bill an. Dieser nickte bestätigend.
„Heißt das nun, dass er weg ist?“
Bill wollte etwas sagen, doch Jim fiel ihm ins Wort: „Das glaube ich nicht – Ron“, seine Stimme war leise. „Die Glocke hat ihn sicher nur verscheucht. Er wird wieder zuschlagen.“
Ron stand auf. Er sah seinen jüngeren Bruder an: „Dann ist er noch in Amelias Wohnung?“-
„Und er wartet auf das nächste Opfer“, vollendete Jim den Satz.
„Steht da nun, wie man dieses Ding erledigt, oder nicht?“, fragte Ron ungeduldig. Nach einer Besinnungspause wandte er sich an Jim und flüsterte: „Hey, Kleiner – ich habe dir wohl Unrecht getan!“ Er lächelte versöhnlich. „Offensichtlich war der Küchenjunge doch schwerer, als er aussah.“
Jim hob seine Hand und begann wieder mit der Recherche. „Ist schon okay, Alter“, murmelte er.
Nach einer Weile hektischer Suche trafen seine Augen fragend auf den alten Jäger. „Hier steht nicht wie man ihn erledigt. Hast du eine Ahnung, Bill?“
Dieser sah an die Zimmerdecke und schnaubte wie ein alter Gaul. „Das genau ist unser Problem! Man kann ihn nur vertreiben, aber nicht töten! Jungs, ihr habt wahnsinniges Glück gehabt. Wenn der Mistkerl erst mal auf einem hockt … lässt er sich nicht mehr so einfach durch Glockenläuten vertreiben – dann ist er praktisch unverwundbar und kann sich sogar von Angriffen erholen. Sehr zum Schaden der armen Opfer.“
Bills Gesicht sprach Bände. „Solange wir nicht wissen, wie wir ihn erledigen können, müsst ihr verhindern, dass jemand diese Wohnung betritt.“
„Wie sollen wir das anstellen? Das ist ein Tatort – also wird die Polizei längst da gewesen sein“, meinte Jim.
„Dann wird es inzwischen wieder jemanden erwischt haben“, sinnierte Ron.
*** *** ***
Detektiv Mike Miller kniff die Augen zusammen und kräuselte die Stirn, als das entgegenkommende Licht ihm die Sicht nahm. Nach wenigen Sekunden war der gleißende Strahl vorbeigesaust. Mit hypnotisierender Wirkung zogen die gelben Begrenzungsstreifen der Fahrbahn wieder gleichmäßig am Auto vorbei.
Dieser Fall war unheimlich. In seiner gesamten Dienstzeit war ihm etwas derartiges noch nicht untergekommen. Drei grausame Todesfälle in drei Tagen und noch immer kein Anhaltspunkt. Wer war der Täter und wie konnte er seine Opfer derart schrecklich zurichten? Es schien fast, als würde sich das Sterben wie eine Virusinfektion ausbreiten. Ein Seufzen kam über Millers Lippen, als er einen Gang runter schaltete. Langsam nahm die Steigung der Straße zu, was ihm sagte, dass er bald am Ziel ankommen würde. <Noch eine Stunde>, dachte er und wischte sich übers Gesicht. Aufkommende Dunkelheit und Nebel zerrten an seinen Nerven.
Am liebsten hätte Miller den Fall jetzt nicht aus der Hand gegeben. Aber er hatte schon vor Wochen den längst überfälligen Urlaub eingereicht und sein Chef bestand nun darauf, dass dieser auch eingehalten wurde. Wenn Miller ehrlich zu sich selbst war, hatte er einige Tage Auszeit auch dringend nötig. Er war nicht unentbehrlich und konnte sich auf sein Ermittlerteam verlassen. Mit Sicherheit würde die frische Luft am See seinen Kopf befreien. Das war für seine Arbeit unerlässlich.
Mike Miller fuhr in die Berge, um seine freien Tage in einer Blockhütte zu verbringen. Der Kofferraum seines Wagens war mit Lebensmitteln, Kleidern, sowie einer beeindruckenden Anglerausrüstung bestückt.
Lauter werdendes Knirschen unter den Rädern seines Autos verriet, dass sich die asphaltierte Landstraße zu einem schmalen Pfad verengt hatte, der sich durch das Dickicht eines alten Waldes schlängelte. Fest umklammerte der Detektiv das Lenkrad. Sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet, deren Ränder von Büschen überwuchert wurden. Ausladende Zweige klatschten immer öfter gegen die Windschutzscheibe des Wagens und glitten geräuschvoll an den Seiten entlang. Der unbefestigte, unebene Weg ließ das Auto schlingern. Miller musste seine Fahrt durch die bizarren Schatten der alten Eichen immer weiter verlangsamen.
Endlich lichteten sich die Büsche rechts und links des Weges. Zwischen den Stämmen der Baumriesen schimmerte die Oberfläche des Sees im Mondlicht. Nicht weit vom Ufer entfernt, konnte Mike die Umrisse seiner Blockhütte erkennen. Fast lautlos rollte der Wagen aus dem Schatten und kam auf einer Wiese vor der Hütte zu Stillstand.
Als Mike die Autotür öffnete, schlug ihm frischer Duft von Wasser, Moos und Erde entgegen. Er atmete tief ein und genoss den reinen Atem des Waldes.
Entschlossen ging Miller zum Kofferraum und trug sein spärliches Gepäck ins Haus. Der moosige Untergrund dämpfte die Geräusche seiner Schritte.
Eine Stunde später saß er zufrieden in seinem Lieblingssessel und blickte gedankenversunken in die knisternden Flammen des Kamins. Miller liebte den würzig harzigen Geruch, den die Wände der Blockhütte auch nach Jahrzehnten noch ausdünsteten.
Sein zufriedenes Gesicht verdunkelte sich nur hin und wieder. Es war immer dann, wenn er an die Mordserie dachte. Wieder hatte er dieses schreckliche Bild vor Augen. Eine junge Krankenschwester lag tot am Boden. Ihr Körper war mumifiziert, als läge sie schon Jahre unbemerkt in ihrer Wohnung - und doch war erwiesen, dass diese Frau noch am Vortag in der Klinik gearbeitet hatte. In der gleichen Klinik, wie Opfer Nummer zwei – ein Küchenjunge. Im Wohnzimmer der Frau gab es deutliche Hinweise auf einen Kampf. Leider konnte die Spurensicherung keinen einzigen verwertbaren Finger- oder Fußabdruck finden. Wer auch immer in dieser Wohnung gewesen war, er hatte seine Spuren gründlich beseitigt. Miller seufzte. Er selbst war einer der Ersten, die den Tatort auf Grund eines anonymen Hinweises in Augenschein genommen hatten. Miller streckte sich und fluchte leise, als er ein plötzliches Stechen in seiner Schulter verspürte. Wahrscheinlich hatte er sich doch verletzt, als er gestern ungeschickt über die Schwelle der Wohnzimmertür des letzten Opfers gestolpert war.
*** *** ***
Mürrisch warf Ron die Waffentasche in den Kofferraum des Ford Mustang. „Und du meinst wirklich, wir müssen jetzt rauf in die Berge zu dieser Blockhütte?“
„Ich habe alle Personen überprüft, die bei den Ermittlungen dabei waren“, antworte Jim. „Alle sind heute Morgen wohlbehalten zur Arbeit erschienen. Niemand klagte über Müdigkeit, Ohrensausen oder Rückenschmerzen, Ron! Detektiv Miller ist der einzige, den ich noch nicht überprüfen konnte, da er laut Angaben seines Chefs für einige Tage zum Fischen gefahren ist.“
„Vielleicht ist dieser Aufhocker ja auch verschwunden?“ Ron sah über seine Schulter zu Bill. „In Amelias Wohnung war er jedenfalls nicht mehr!“
Bill zog den Kopf in den Nacken und fixierte einen Punkt am Himmel.
Bevor er etwas sagen konnte, hatte Jim das Wort ergriffen. „Ron! – Wir müssen der Sache nachgehen!“ Seine Augen schauten ihn drängend an.
„Ich weiß, Jim“, seufzte Ron und beugte sich in den Kofferraum. Nach einer Weile erschien sein Kopf über dem Wagendach. In der Hand hielt er einen matt glänzenden Gegenstand aus Messing mit einem Holzgriff. Als er den Arm in die Höhe hob erfüllte ein helles Läuten die Luft.
Ron nahm seinen Bruder ungläubig ins Visier. „Jim! Sag mir bitte nicht, dass du mit so Etwas einen Geist jagen willst!“ Seine Brauen hoben sich: „Wenn Dad das sehen könnte, würde er uns zum Teufel jagen!“ knurrend warf er die Glocke zurück
Jim sah zu Boden. Seine Hände verschwanden in den Taschen seiner Jeans. „Ron, wir haben nichts anderes, um ihn abzuschrecken!“
Bill lauschte belustigt dem Gespräch der Brüder.
„Sag doch auch mal was“, fauchte Ron, nachdem sich sein Blick abermals auf den Bärtigen gerichtet hatte.
Aber der alte Jäger neigte nur den Kopf und drängte: „Können wir jetzt endlich losfahren?“
„Sag mal Jimmy – hast du eigentlich irgendeinen Plan, wie wir dieses Ding fangen sollen“, wollte Ron wissen.
„Keine Ahnung! – Wir müssen versuchen, ihn einzusperren.“ Ratlos blinzelte Jim gegen die Sonne.
„Toller Plan! … Jimmy … echt toller Plan! Dummerweise habe ich mein Protonenpäckchen nicht dabei“, bellte Ron und schlug den Kofferraum zu.
Einige Minuten später bog der nachtschwarze Ford Mustang röhrend auf die Straße ein.
*** *** ***
„Detektiv Miller?“, flüsterte Ron, als er sich durch die geöffnete Tür ins Innere der Hütte schob. Die abgesägte Schrotflinte in seiner Hand hatte er mit Steinsalzpatronen geladen. Er erhielt keine Antwort, deshalb drehte er sich kurz um. Mit einem überlegenden Zucken auf den Lippen forderte er seine Begleiter auf, ihm zu folgen. Blitzschnell huschten drei Schatten in das Haus.
Die Blicke der Jäger schweiften durch den Raum. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Eine halb geöffnete Tragtasche stand auf den Holzdielen. Das Feuer im Kamin war erloschen. Außer ihrem eigenen Atem hörten sie nichts.
Jim bemerkte als erster die Haarbüschel hinter der hohen Lehne des Polstersessels vor dem Kamin. Seine Augen trafen mahnend auf Ron. Dieser nickte kurz und bewegte sich entschlossen darauf zu. Als er um den Sessel herum war, presste sich ein Atemstoß über seine Lippen. Rons Gesichtsausdruck verriet, was er sah: Mike Miller war tot.
Bill hatte augenblicklich damit begonnen, alle Fenster und die Eingangstür des Zweizimmerhäuschens mit Steinsalz zu versiegeln. Ron ließ den EMF-Messer über die Leiche gleiten. „Er hockt jedenfalls nicht mehr auf seinen Schultern“, interpretierte er das Schweigen des Gerätes. Anschließend überprüfte er den Raum und die Küche. „Hier ist er nicht“, flüsterte Ron und näherte sich vorsichtig seinen Partnern.
Jim richtete einen warnenden Blick nach oben. Eine schmale Leiter führte auf den Schlafboden, der etwa einen Drittel des Raumes einnahm. Wortlos gab der Jüngste zu verstehen, dass er hochsteigen wollte. Ron überließ ihm das EMF.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Jim, Sprosse für Sprosse, dem Boden. Sein Blick schweifte über die groben Holzdielen. Langsam hob er den EMF-Messer und scannte den Raum, der sich in Augenhöhe vor ihm ausbreitete.
Als der schrille Pfeifton seine Ohren betäubte, fegte bereits ein Körper über ihn hinweg. Jim schrie unter dem reißenden Schmerz, der seine Brust traf. Er verlor den Halt und stürzte von der Leiter.
Heftig schüttelte der Alte die Glocke. Bill und Ron spürten einen Luftwirbel, als der Unsichtbare, offenbar durch das Gebimmel aufgeschreckt, den Raum durchraste. Innerhalb weniger Sekunden schien es, als hätte ein Orkan gewütet. Noch einmal hörten sie ein Fauchen. Dann fiel die Küchentür krachend ins Schloss.
„Er ist da drin“, flüsterte Bill.
Ron reagierte nicht. Er war bereits auf dem Weg zu seinem Bruder und warf sich neben ihm auf die Knie.
Jim lag stöhnend am Boden. Seine Finger verkrampften sich auf seinem rechten Brustmuskel, Blut durchtränkte die Fasern seines Hemdes.
„Versiegele die Tür mit Steinsalz!“, schrie Ron. Dann versuchte er, Jims Hand zu lösen. „Verdammt Jim, lass los!“, entwich es ihm heiser. Er zerrte am Arm des Jüngsten. Der Anblick des Blutes ließ Ron panisch werden. „Jimmy, komm schon“, bettelte er.
Aber Jims Hand wollte einfach nicht nachgeben. Benommen vom Sturz irrten seine Augen durch den Raum.
Nachdem Bill das Steinsalz entlang der Küchentür gestreut hatte, eilte er zu Ron und murmelte. „Es ist eingesperrt!“
„Scheiß drauf, Bill!“ stieß Ron hervor: „Verdammt hilf mir!“ Ihm war im Augenblick egal, wo sich dieser Geist herumtrieb und ob er eingesperrt war. Jims Anblick war das Einzige, was ihn in Angst und Schrecken versetzte.
Jim zog die Beine an. Er stöhnte gequält auf und presste seine Hand auf die Wunde.
„Er ist völlig benommen“, keuchte Ron und sah kurz zu Bill. Dann zog er mit aller Gewalt am Handgelenk seines Bruders. Bill ging in die Hocke, um dem Älteren zu helfen. „Jimmy! … JIM! Verdammt lass doch endlich los“, schrie Ron verzweifelt. Die beiden Männer hatten Mühe, den harten Griff des Jüngsten zu lösen.
Als Bill endlich einen Blick auf die Verletzung werfen konnte, entwich ihm nur ein Fluchen. Er sah Ron mit aufgerissen Augen an. „Das ist verdammt übel. Ron, dein Bruder braucht einen Arzt!“ Der Bärtige schwang sich auf die Beine. „Warte hier, ich hole Verbandzeug!“ Hastig verschwand Bill aus der Tür.
Jim wurde ruhiger. Er versuchte seinen Kopf zu heben, um sich die schmerzende Stelle selbst anzusehen.
„Bleib liegen, Jimmy“, flüsterte Ron und legte seine Hand mit sanftem Druck auf die Stirn des Bruders. Stöhnend gab der Jüngere nach und bewegte sich nicht mehr. Seine Atmung war schnell und sein Körper zitterte, als er Ron fragte: „Ist es schlimm?“ Nur mühselig quetschten sich die Worte durch seine Zähne.
Ron sah auf die Verletzung und schluckte. Sie erinnerte an den Prankenhieb eines Bären. Vier Krallen hatten sich zentimetertief durch die Haut und das darunterliegende Fleisch gepflügt. Sie hinterließen klaffende, zerrissene Gräben, welche stark bluteten.
„Wir kriegen das wieder hin, Kleiner“, murmelte Ron und streichelte Jims Wange. Schweißtropfen glitzerten an seinen Schläfen. Aber Ron wusste nicht, ob es an der Hitze lag oder ob es Angstschweiß war. Mit aller Macht versuchte er, sein Zittern vor Jim zu verbergen.
„Bill wird dich wieder zusammenflicken – es wird alles gut“, flüsterte er und beobachtete mit erstarrtem Gesicht die Blutlache, die sich auf den Dielen immer weiter ausbreitete.
*** Fortsetzung folgt ***
Im Zimmer glimmte eine alte Messinglampe. Ihr verstaubter, mit schweren Kordeln behangener Schirm entließ einen rostfarbenen Lichtkegel, der kaum über das Nachtschränkchen hinausreichte.
Jim saß am Tisch. Seine Augen konzentrierten sich auf unscharfe Bilder, die über den Monitor flimmerten. Ab und zu griff er nach dem Pappbecher neben dem Laptop und trank einen Schluck Kaffee. Sein rechter Zeigefinger klickte unermüdlich auf der Maus, während die Zeiger einer alten Uhr über der Kochnische unaufhaltsam dem Ende des Tages entgegensprangen.
Ein gelegentliches Seufzen kam über die Lippen des Jägers. Stundenlanges Starren auf den verwaisten Krankenhauskorridor hatte ihn ermüdet.
Der Blick auf die digitale Anzeige unterhalb der Aufnahmen zeigte, dass bald die Ereignisse folgen würden, die ihn und seinen Bruder veranlasst hatten, das Gebäude zu verlassen, um unangenehmen Fragen der Polizei aus dem Weg zu gehen.
Jim rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Er drückte sich gegen die Stuhllehne, bis ihr sprödes Knarzen die Bewegung stoppte. Seine Augen verdunkelten sich, als Amelia im Korridor erschien. Plötzlich hatte Jim das Gefühl, ihr Name würde sich in seine Seele einbrennen. Für einen kurzen Augenblick spürte er ihren zitternden Körper wieder in seinen Armen und stieß zischend einen Atemzug durch seine Nase.
Nur wenige Sekunden später sah er sich selbst in Begleitung seines Bruders den gleichen Weg gehen.
Er war ein seltsames Gefühl, die Vergangenheit noch einmal zu erleben – mit dem schrecklichen Wissen, das er jetzt hatte.
Kurze Zeit später verließen beide Jäger in Begleitung der Schwester den Raum. Amelia war sichtlich angeschlagen. Sie taumelte an seiner Seite, bis das schwarze Auge der Kamera sie aus ihrem Blickwinkel verlor.
Jim war erstaunt, denn in der Realität war ihm die Zeit viel länger erschienen. Plötzlich hellwach, fuhr er mit dem Mauszeiger zurück und betrachtete konzentriert einzelne Bilder, die mit jedem Klick einen winzigen Augenblick der Vergangenheit vor seinen Augen einfroren.
Über Amelias Schultern schwebte ein Schatten. Er war zerfetzt. Sicher aber war, dass zwei seiner Auswüchse auf ihren Schultern hafteten. <Was ist das?> Jims Stirn zog sich in Falten. Er schob sein Gesicht näher an den Monitor, um das verrauschte Standbild zu fixieren.
<Fingerabdrücke!> Schoss es ihm durch den Kopf. Alle Opfer hatten violette Abdrücke auf ihren Schultern.
Jim atmete tief durch. Dann erhob er sich, um zum Fenster zu gehen. Er öffnete es und genoss den kühlen Atem der Nacht, der sich in den braunen Strähnen über seiner Stirn verfing.
Es war kurz vor Mitternacht und Jim wusste, dass Ron vor morgen früh nicht zurückkehren würde. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über seine Lippen. Doch nur Sekunden später hatten die Ereignisse um diesen rätselhaften Fall seine Gedanken wieder in Besitz genommen, um als zusammenhanglose Fakten seinen Verstand zu quälen.
Der junge Jäger sah in die Nacht. Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Im einfallenden Mondlicht zeichnete sich die Silhouette seines hochgewachsenen Körpers deutlich vor dem Fenster ab.
*** *** ***
Sonnenstrahlen kitzelten in Ron’s Nase. Kurz bevor er die Augen öffnete, huschte ein Lächeln über seine Lippen, denn die erwachende Erinnerung jagte eine Armee kleiner Ameisen durch seine Adern. Der warme Körper, der sich in seine Arme schmiegte, bezeugte, dass er nicht träumte.
Ron blinzelte kurz in das helle Licht. Dann richtete er den Blick auf Lilly, die ihren Kopf auf seine Brust gebettet hatte. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, strich er mit dem Zeigefinger diese widerspenstigen Locken aus ihrer Stirn und beobachtete lächelnd ihren Schlaf. Lillys Kopf hob sich mit jedem seiner Atemzüge. Für einen Augenblick wurde der Wunsch in ihm nach einer Familie übermächtig. Wie in Trance ließ er die blonden Strähnen durch seine Finger gleiten und schloss die Augen. Aber er wusste, für Seinesgleichen würde es niemals ein Zuhause geben. Seufzend befreite sich Ron aus der wärmenden Umarmung.
„Du bist schon wach?“, flüsterte Lilly.
„Ich muss gehen“, antworte Ron so leise, dass er seine eigenen Worte kaum verstand. Er zuckte zusammen, als er sich aufrichtete, denn die Verletzung - gestern Nacht durch den Rausch der Sinne zum Schweigen gebracht - meldete sich nun umso heftiger zurück.
Lillys Hand ergriff seinen Arm. Fragend sah sie ihn an. „Kommst du zurück?“.
In Rons Augen zeigte sich ein Leuchten. „Immer“, flüsterte er rauchig und gab Lillys Forderung, sie noch einmal in seine Arme zu schließen, nach.
Doch sein letzter Kuss schmeckte nach Abschied.
*** *** ***
„Jetzt erzählt mir alles noch einmal von vorn“, forderte Bill. Der alte Jäger hatte auf einem der Betten Platz genommen und sah die Brüder aufmerksam an. Ungeduldig trommelten seine Finger auf dem Nachttisch. Die Anreise steckte ihm in den Knochen und stimmte ihn mürrisch.
Die jungen Jäger hatten sich an den Tisch gesetzt. Vor ihnen türmten sich die Reste ihres späten Frühstücks in Form von Papiertüten.
„Angefangen muss es wohl mit dem Koch im Diner haben“, begann Ron zu berichten. Er sah auf Jim, der ihm bestätigend zunickte.
„Wir hörten einen Schrei und dann rannte der Junge aus der Küche“, fuhr dieser fort. Jim war bemüht, es sich auf dem Stuhl bequem zu machen. Doch seine langen Beine fanden nirgends Platz und schoben leere Pappbecher vor sich her.
Ron versuchte sein Grinsen zu verkneifen. „Er hat unseren Kleinen fast zu Boden gerissen als er ihm in die Arme stolperte.“
„Alter … ! Musst du ständig darauf herumreiten“, maulte Jim und sah zur Decke.
Ron hob beschwichtigend die Hände: „Als wir in die Küche kamen war der Koch bereits tot. Er lag angekokelt auf dem Grill. Laut unseren Recherchen ist er der erste Tote“, berichtete er und schob seinen Oberkörper nach hinten, bis auch sein Stuhl knarrte. Erschrocken sah er über seine Schultern und rückte wieder nach vorn.
Jim hatte das Treiben seines Bruders grinsend beobachtet. „Wir konnten ihn leider nicht richtig begutachten. Aber er hatte genau wie der Küchenjunge und Amelia diese Druckstellen auf seinen Schultern“, fuhr er fort. Jim beugte sich in Bills Richtung. Seine Stirn zog sich in Falten. „Wir wurden von etwas Unsichtbarem angegriffen – nur durch die Kamera konnten wir beim Angriff einen Schatten erkennen.“ Verheißungsvoll richtete Jim seinen Oberkörper wieder auf. „Genau diesen Schatten habe ich gestern Nacht auch auf dem Sicherheitsvideo des Krankenhauses entdeckt, als er über Amelia schwebte.“
„Ja – aber, Jimmy“, fiel ihm Ron ins Wort. „Bedenke, unser EMF hat Amelia eindeutig als den Geist ausgewiesen.“
Jims Augen streiften den Älteren zornig. „Komm runter, Ron! Das Mädchen war doch kein Geist!“ Er machte eine Pause und murmelte: „Vielleicht war sie irgendwie besessen?“
Bill zupfte an seinem grauen Bart. Er sah einige Momente gedankenversunken in den Raum, bevor er sich erneut an die Jäger wandte. „Was ist im Krankenhaus passiert? Konntet ihr was sehen?“ Bill lehnte sich etwas zurück.
„Nichts – wir kamen zu spät“, antworte Ron. Er holte tief Luft. Seine Finger spielten ratlos mit einer der Papiertüten auf dem Tisch.
„Wieder einmal“, zischte Jim.
Rons missmutiger Blick traf ihn augenblicklich.
„Amelia lag am Boden – offensichtlich war sie gestolpert.“ Jim war aufgestanden und hatte sich zur Wand gedreht. Er seufzte, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig.
„Gestolpert …“, widerholte der Alte leise.
„Ja – zum Glück“, stellte Ron fest. „Wenn ich mir vorstelle, dass sie die Vorhänge des Bettes weggezogen hätte. Die Arme, sie hätte bei diesem Anblick einen Schock fürs Leben bekommen.“
Jim drehte sich schlagartig um: „Ja - aber das ist egal, denn sie lebt nicht mehr…!“, fauchte er.
Ron senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen.
Bill saß immer noch auf dem Bett. Aufmerksam beobachtete er die Brüder. „Was war mit dem Küchenjungen? Los Jungs! Muss ich euch denn alles aus der Nase ziehen?“ drängte er.
„Er war tot und er sah auch so aus, als wäre das schon seit Jahren so.“ Rons Stimme klang gereizt. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und kippelte mit dem Stuhl.
„Später waren wir in der Pathologie, um ihn uns genauer anzusehen“, sagte Jim. Er setzte sich wieder und atmete einmal tief durch.
„Wie seid ihr denn da rein gekommen“, fragte Bill erstaunt.
Die Brüder wechselten einen kurzen Blick und antworteten grinsend: „Frag lieber nicht …“
Jim gebeugt sich nach vorn. „Der Tote hatte diese Flecken auf der Schulter – sein Körper war völlig ausgezehrt und offensichtlich waren seine Rippen Matsch.“
Bill hob nachdenklich seinen Kopf.
„Als wir bei Amelia ankamen, war sie noch am Leben“, sprach Ron leise. Seine Augen waren auf Jim gerichtet. Dieser hatte den Kopf in seine Hände gelegt.
„Wir konnten zuerst nichts finden. Dann zeigte der EMF Messer etwas an … es war Amelia…!“ Ron stoppte. Er konnte die aufwallende Erregung seines kleinen Bruders daran erkennen, dass sich seine Atmung wieder beschleunigte.
„Und dann?“, fragte Bill zögernd. Er verstand Rons warnende Geste und beobachtete nun ebenfalls den impulsiven Jüngeren.
„Sie starb einfach“, antwortete Ron.
„Du meinst wohl, wir haben sie sterben lassen“, fuhr es unkontrolliert aus Jim heraus. Er schnellte in die Höhe und sein Körper baute sich zu Furcht einflößender Größe auf.
Ron war ebenfalls aufgesprungen. Er sah Jim eindringlich an. Mittlerweile raste auch sein Puls. „Wir konnten nichts tun“, versuchte er Jim zu besänftigen.
„Wir hätten sie retten müssen - Mann“, schrie der Jüngere gequält. Seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen.
„Wie denn“, fragte Ron leise. Er ging einen zaghaften Schritt auf Jim zu und breitete die Arme aus. „Sag mir wie, Jimmy – wir hatten nichts …!“ Unglücklich sah er seinen Bruder an.
„Jungs - Jungs - Jungs bleibt ruhig!“ Bill war aufgestanden und unterbrach das Gespräch. Das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte war, dass die Beiden wie Kampfhähne aufeinander losgingen. Bill hob beschwichtigend seine Arme, als er sich ihnen näherte. „Was ist danach passiert?“, fragte er.
„Dann wurden wir selber angegriffen“, antwortete Jim als erster und stieß zischend Luft aus seinen Lungen. Manchmal wünschte er sich etwas mehr Kontrolle über seine Gefühle. Als seine Augen den Älteren betreten streiften, entspannten sich auch dessen Gesichtszüge.
Ron ging zurück zum Stuhl, um wieder Platz zu nehmen.
„Zuerst wurde ich attackiert und anschließend Ron. Wir konnten den Angreifer nicht sehen“, berichtete Jim weiter und wanderte im Zimmer auf und ab. „Er hat meinen Namen gerufen!“
„Was hat er genau gesagt“, wollte Bill wissen.
Jim hielt inne und antworte: „Er sagte: Jim, nimm mich mit.“ Seine Augen wanderten hilfesuchend zu Ron.
Dieser hob ratlos seine Schultern und sprach weiter: „Also mich hat er nur gebissen. Der Mistkerl muss verdammt groß gewesen sein. Er hat mich mühelos umgerissen und war verdammt schwer. Dieser Typ hat mir fast die Rippen gebrochen.“
Jim nickte Bill bestätigend zu. „Ging mir auch so“, sagte er als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte.
Die Augen des alten Jägers blitzten. „Was ist dann passiert?“, fragte er.
„Dann war er weg“, antwortete Jim.
„Zum Glück“, bemerkte Ron. „Der hätte uns echt fertig gemacht.“
„Wie weg?“, bohrte Bill nach.
„Was weiß ich denn – er war einfach weg. Vielleicht wars die Sonne“, murmelte Jim ratlos.
„Ja es war bereits Morgen“, stellte Ron fest. „Der Milchwagen läutete vor der Tür.“
Bills Augen weiteten sich. „Ihr meint, so ein alter Milchwagen - wo der Fahrer noch mit einer Glocke seine Kundschaft ruft?“
Ron und Jim sahen sich erstaunt an. „Ja …“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Bill stand auf und ging murmelnd im Zimmer auf und ab. Er hatte den Kopf gesenkt und kraulte seinen Bart. Nach einer Weile wandte sich der alte Jäger den Brüdern zu. „Jim?“, frage er. „Der Küchenjunge riss dich um, weil er stolperte?“
Erstaunt sah Jim zurück. „Hab ich doch schon gesagt“, seufzte er.
„Es gehört ziemlich viel Kraft dazu dich umzureißen“, fuhr Bill schmunzelnd fort.
Über Jims Gesicht huschte wieder dieser beleidigte Gesichtsausdruck. Gerade als er widersprechen wollte unterbrach ihn Bill.
„Nein, nein – ist schon gut. Ich glaube es dir.“ Bill streckte Jim seine Hände entgegen. Mit gekräuselter Stirn fasste er die Aussagen zusammen: „Die Krankenschwester … sie lag am Boden weil sie“ –
„…gestolpert war …“, fielen ihm die Brüder ins Wort und rissen die Augen auf.
„Los sag schon Bill – du weißt doch was“, drängte Jim.
Der alte Jäger nickte besorgt: „Jungs! Ich weiß, mit wem wir es hier zu tun haben …“
*** *** ***
Etwas Derartigem waren sie noch nie begegnet. Jim sah mit besorgtem Gesicht auf Bill. Ron spielte mit einer der Papiertüten auf dem Tisch. Auch er nahm den Alten ins Visier. Bill setzte sich seufzend zurück auf das Bett. Die durchgelegene Matratze gab sofort dem Gewicht des alten Jägers nach. Schnaufend kämpfte er, wild mit den Armen rudernd, um sein Gleichgewicht.
Auf Rons Stirn zeigte sich mittlerweile eine steile Falte. Bills Wortarmut beunruhigte ihn und er drängte den Alten, endlich sein Schweigen zu beenden.
„Also Jungs!“, begann Bill. „Nach euren Informationen haben wir es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Druckgeist zu tun.“ Abrupt beendete er den Satz, indem er die Lippen zusammenpresste.
„Druckgeist?“ Jim schaute ihn ungläubig an.
„Was zum Henker ist denn ein Druckgeist?“ Ron richtete sich weiter auf – sorgsam darauf bedacht, den alten Stuhl nicht übermäßig zu strapazieren.
„Nachdem, was ihr mir erzählt habt, tippe ich mal auf einen Aufhocker“, fuhr Bill fort.
„Aufhocker? – hab ich noch nie was von gehört“, fiel ihm Ron ins Wort. Gleichzeitig wandte er sich an Jim. „Steht was zum Thema in John`s Tagebuch“, fragte er.
Jim stand auf und kramte im Schubfach seines Nachtschränkchens. Nachdem er das Tagebuch ihres Vaters in den Händen hielt, blätterte er durch die eng beschriebenen Seiten. Seine Augen flogen über Texte und handgezeichnete Skizzen von seltsamen Kreaturen, in der verzweifelten Hoffnung, etwas zu entdecken. Dies, obwohl er die Zeilen, Seite für Seite, schon auswendig kannte. „Hier steht auch nichts drin“, seufzte er und schloss das Buch.
„Wie kommst du darauf?“, fragte er den Alten neugierig und warf schwungvoll das Buch auf eines der Betten.
Bill schnaubte. „Die Indizien verraten es mir. Obwohl ich noch nie von einem wirklichen Fall gehört habe.“ Seine Stimme klang nachdenklich. „Ein Aufhocker ist ein koboldähnliches Geschöpf. Seine typischen Spukorte sind Bäche, Brücken, Seen, Wälder, Wegkreuzungen, Kirchhöfe und Mord- oder Richtstätten. Begegnungen mit dem Aufhocker haben für seine zufälligen Opfer oft körperliche und seelische Krankheiten zur Folge. Er springt den Leuten auf die Schultern oder auf den Rücken. Dann ernährt er sich von der Lebensenergie des Opfers und wird mit der Zeit immer schwerer.“ Während Bill berichtete, schweifte sein Blick über die alte Blumentapete.
„Bis den Opfern nach einer gewissen Zeit durch diese Last die Knochen brechen“, stellte Ron kopfnickend fest. „Kein Wunder, dass sie so ausgelaugt aussahen“, fügte er hinzu und schaute bestätigend auf den alten Jäger.
Jim nahm seinen Laptop vom Bett und ging zum Tisch. Mit einem Wisch schob er den Papiermüll zur Seite. Er ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. Bills Tipp machte es leicht, nach weiteren Informationen zu googeln.
„Ja, eure Schilderungen stimmen mit meinen Informationen fast überein“, erklärte Bill weiter: „Wenn die Opfer angesprungen werden, geraten sie oft durch die Wucht des Ansprunges ins Stolpern.“
Seine Hände fuhren wieder durch die grauen Barthaare. „Ich habe allerdings noch nie gelesen, dass diese Kobolde töten. Sie verwirren ihre Opfer so, dass sie wie in einem Alptraum gefangen sind“, murmelte er.
„Möglicherweise ist dieser hier besonders hungrig“, versuchte Ron den merkwürdigen Umstand zu erklären und hob seine Schultern.
Bill und Ron beobachteten Jim, der fast mit dem Monitor seines Laptops verschmolz. Seine schmalen Augenbrauen hatten sich zusammen geschoben. Unter ihnen folgten aufmerksame Augen den Zeilen zahlloser Artikel.
„Die modernen Sagen bestätigen deine Aussage, Bill“, murmelte der Jüngste und hob den Kopf. Seine Augen funkelten hinter seinen Strähnen. „Aber … !“ Jim holte Luft und seine Stimme bekam einen verheißungsvollen Singsang-Ton. „Die ältesten Berichte über Aufhocker sprechen eindeutig von aufhockenden Leichen und nicht von Kobolden. Im Gegensatz zum Nachzehrer, der sein Grab nicht verlassen musste, wenn er den Lebenden Schaden zufügen wollte, stiegen andere Untote ähnlich den Vampiren hinaus und raubten den Menschen die Lebenskraft.“
Jim sah wieder auf den Laptop. Er klickte mit der Maus, um sich durch den Text zu scrollen. „Jetzt kommt’s!“ Jim erhob erneut den Kopf. „Im Westen Deutschlands verschmilzt der Aufhocker mit dem Werwolf zum Stüpp, einem gefährlichen Unhold, der die Menschen anspringt und sich so lange herumtragen lässt, bis das Opfer an Entkräftung stirbt.“ Erfreut über diese Spur schlug er mit den Händen auf seine Oberschenkel und bemerkte: „Also kann die Heimsuchung doch tödlich enden.“
Ron senkte verächtlich den Kopf. Er fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Stoppeln und erwiderte verärgert: „Was ist denn das für ein beschissener Geist! Eine Mischung aus Zombi, Vampir und Werwolf mit einer Prise Succubus? Wie kann man ihn töten?“ Entschlossen hatte er die wichtigste Frage gestellt. „Es ist einfach unglaublich“, murrte er. „Jetzt müssen wir uns auch noch mit deutschen Legenden rumplagen!“
Über Jims Gesicht huschte ein Grinsen. „Ja Bruderherz – Geister kennen wohl keine Grenzen! Vermutlich wurde er von Einwanderern importiert.“ Seufzend wandte er sich wieder den Informationen aus dem Internet zu und las weiter: „Der Aufhocker bleibt auf dem Wanderer sitzen, bis dieser durch Sonnenlicht, ein Gebet oder Glockengeläute von ihm erlöst wird.“
„Die Glocke des Milchwagens“, flüsterte Ron und sah Bill an. Dieser nickte bestätigend.
„Heißt das nun, dass er weg ist?“
Bill wollte etwas sagen, doch Jim fiel ihm ins Wort: „Das glaube ich nicht – Ron“, seine Stimme war leise. „Die Glocke hat ihn sicher nur verscheucht. Er wird wieder zuschlagen.“
Ron stand auf. Er sah seinen jüngeren Bruder an: „Dann ist er noch in Amelias Wohnung?“-
„Und er wartet auf das nächste Opfer“, vollendete Jim den Satz.
„Steht da nun, wie man dieses Ding erledigt, oder nicht?“, fragte Ron ungeduldig. Nach einer Besinnungspause wandte er sich an Jim und flüsterte: „Hey, Kleiner – ich habe dir wohl Unrecht getan!“ Er lächelte versöhnlich. „Offensichtlich war der Küchenjunge doch schwerer, als er aussah.“
Jim hob seine Hand und begann wieder mit der Recherche. „Ist schon okay, Alter“, murmelte er.
Nach einer Weile hektischer Suche trafen seine Augen fragend auf den alten Jäger. „Hier steht nicht wie man ihn erledigt. Hast du eine Ahnung, Bill?“
Dieser sah an die Zimmerdecke und schnaubte wie ein alter Gaul. „Das genau ist unser Problem! Man kann ihn nur vertreiben, aber nicht töten! Jungs, ihr habt wahnsinniges Glück gehabt. Wenn der Mistkerl erst mal auf einem hockt … lässt er sich nicht mehr so einfach durch Glockenläuten vertreiben – dann ist er praktisch unverwundbar und kann sich sogar von Angriffen erholen. Sehr zum Schaden der armen Opfer.“
Bills Gesicht sprach Bände. „Solange wir nicht wissen, wie wir ihn erledigen können, müsst ihr verhindern, dass jemand diese Wohnung betritt.“
„Wie sollen wir das anstellen? Das ist ein Tatort – also wird die Polizei längst da gewesen sein“, meinte Jim.
„Dann wird es inzwischen wieder jemanden erwischt haben“, sinnierte Ron.
*** *** ***
Detektiv Mike Miller kniff die Augen zusammen und kräuselte die Stirn, als das entgegenkommende Licht ihm die Sicht nahm. Nach wenigen Sekunden war der gleißende Strahl vorbeigesaust. Mit hypnotisierender Wirkung zogen die gelben Begrenzungsstreifen der Fahrbahn wieder gleichmäßig am Auto vorbei.
Dieser Fall war unheimlich. In seiner gesamten Dienstzeit war ihm etwas derartiges noch nicht untergekommen. Drei grausame Todesfälle in drei Tagen und noch immer kein Anhaltspunkt. Wer war der Täter und wie konnte er seine Opfer derart schrecklich zurichten? Es schien fast, als würde sich das Sterben wie eine Virusinfektion ausbreiten. Ein Seufzen kam über Millers Lippen, als er einen Gang runter schaltete. Langsam nahm die Steigung der Straße zu, was ihm sagte, dass er bald am Ziel ankommen würde. <Noch eine Stunde>, dachte er und wischte sich übers Gesicht. Aufkommende Dunkelheit und Nebel zerrten an seinen Nerven.
Am liebsten hätte Miller den Fall jetzt nicht aus der Hand gegeben. Aber er hatte schon vor Wochen den längst überfälligen Urlaub eingereicht und sein Chef bestand nun darauf, dass dieser auch eingehalten wurde. Wenn Miller ehrlich zu sich selbst war, hatte er einige Tage Auszeit auch dringend nötig. Er war nicht unentbehrlich und konnte sich auf sein Ermittlerteam verlassen. Mit Sicherheit würde die frische Luft am See seinen Kopf befreien. Das war für seine Arbeit unerlässlich.
Mike Miller fuhr in die Berge, um seine freien Tage in einer Blockhütte zu verbringen. Der Kofferraum seines Wagens war mit Lebensmitteln, Kleidern, sowie einer beeindruckenden Anglerausrüstung bestückt.
Lauter werdendes Knirschen unter den Rädern seines Autos verriet, dass sich die asphaltierte Landstraße zu einem schmalen Pfad verengt hatte, der sich durch das Dickicht eines alten Waldes schlängelte. Fest umklammerte der Detektiv das Lenkrad. Sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet, deren Ränder von Büschen überwuchert wurden. Ausladende Zweige klatschten immer öfter gegen die Windschutzscheibe des Wagens und glitten geräuschvoll an den Seiten entlang. Der unbefestigte, unebene Weg ließ das Auto schlingern. Miller musste seine Fahrt durch die bizarren Schatten der alten Eichen immer weiter verlangsamen.
Endlich lichteten sich die Büsche rechts und links des Weges. Zwischen den Stämmen der Baumriesen schimmerte die Oberfläche des Sees im Mondlicht. Nicht weit vom Ufer entfernt, konnte Mike die Umrisse seiner Blockhütte erkennen. Fast lautlos rollte der Wagen aus dem Schatten und kam auf einer Wiese vor der Hütte zu Stillstand.
Als Mike die Autotür öffnete, schlug ihm frischer Duft von Wasser, Moos und Erde entgegen. Er atmete tief ein und genoss den reinen Atem des Waldes.
Entschlossen ging Miller zum Kofferraum und trug sein spärliches Gepäck ins Haus. Der moosige Untergrund dämpfte die Geräusche seiner Schritte.
Eine Stunde später saß er zufrieden in seinem Lieblingssessel und blickte gedankenversunken in die knisternden Flammen des Kamins. Miller liebte den würzig harzigen Geruch, den die Wände der Blockhütte auch nach Jahrzehnten noch ausdünsteten.
Sein zufriedenes Gesicht verdunkelte sich nur hin und wieder. Es war immer dann, wenn er an die Mordserie dachte. Wieder hatte er dieses schreckliche Bild vor Augen. Eine junge Krankenschwester lag tot am Boden. Ihr Körper war mumifiziert, als läge sie schon Jahre unbemerkt in ihrer Wohnung - und doch war erwiesen, dass diese Frau noch am Vortag in der Klinik gearbeitet hatte. In der gleichen Klinik, wie Opfer Nummer zwei – ein Küchenjunge. Im Wohnzimmer der Frau gab es deutliche Hinweise auf einen Kampf. Leider konnte die Spurensicherung keinen einzigen verwertbaren Finger- oder Fußabdruck finden. Wer auch immer in dieser Wohnung gewesen war, er hatte seine Spuren gründlich beseitigt. Miller seufzte. Er selbst war einer der Ersten, die den Tatort auf Grund eines anonymen Hinweises in Augenschein genommen hatten. Miller streckte sich und fluchte leise, als er ein plötzliches Stechen in seiner Schulter verspürte. Wahrscheinlich hatte er sich doch verletzt, als er gestern ungeschickt über die Schwelle der Wohnzimmertür des letzten Opfers gestolpert war.
*** *** ***
Mürrisch warf Ron die Waffentasche in den Kofferraum des Ford Mustang. „Und du meinst wirklich, wir müssen jetzt rauf in die Berge zu dieser Blockhütte?“
„Ich habe alle Personen überprüft, die bei den Ermittlungen dabei waren“, antworte Jim. „Alle sind heute Morgen wohlbehalten zur Arbeit erschienen. Niemand klagte über Müdigkeit, Ohrensausen oder Rückenschmerzen, Ron! Detektiv Miller ist der einzige, den ich noch nicht überprüfen konnte, da er laut Angaben seines Chefs für einige Tage zum Fischen gefahren ist.“
„Vielleicht ist dieser Aufhocker ja auch verschwunden?“ Ron sah über seine Schulter zu Bill. „In Amelias Wohnung war er jedenfalls nicht mehr!“
Bill zog den Kopf in den Nacken und fixierte einen Punkt am Himmel.
Bevor er etwas sagen konnte, hatte Jim das Wort ergriffen. „Ron! – Wir müssen der Sache nachgehen!“ Seine Augen schauten ihn drängend an.
„Ich weiß, Jim“, seufzte Ron und beugte sich in den Kofferraum. Nach einer Weile erschien sein Kopf über dem Wagendach. In der Hand hielt er einen matt glänzenden Gegenstand aus Messing mit einem Holzgriff. Als er den Arm in die Höhe hob erfüllte ein helles Läuten die Luft.
Ron nahm seinen Bruder ungläubig ins Visier. „Jim! Sag mir bitte nicht, dass du mit so Etwas einen Geist jagen willst!“ Seine Brauen hoben sich: „Wenn Dad das sehen könnte, würde er uns zum Teufel jagen!“ knurrend warf er die Glocke zurück
Jim sah zu Boden. Seine Hände verschwanden in den Taschen seiner Jeans. „Ron, wir haben nichts anderes, um ihn abzuschrecken!“
Bill lauschte belustigt dem Gespräch der Brüder.
„Sag doch auch mal was“, fauchte Ron, nachdem sich sein Blick abermals auf den Bärtigen gerichtet hatte.
Aber der alte Jäger neigte nur den Kopf und drängte: „Können wir jetzt endlich losfahren?“
„Sag mal Jimmy – hast du eigentlich irgendeinen Plan, wie wir dieses Ding fangen sollen“, wollte Ron wissen.
„Keine Ahnung! – Wir müssen versuchen, ihn einzusperren.“ Ratlos blinzelte Jim gegen die Sonne.
„Toller Plan! … Jimmy … echt toller Plan! Dummerweise habe ich mein Protonenpäckchen nicht dabei“, bellte Ron und schlug den Kofferraum zu.
Einige Minuten später bog der nachtschwarze Ford Mustang röhrend auf die Straße ein.
*** *** ***
„Detektiv Miller?“, flüsterte Ron, als er sich durch die geöffnete Tür ins Innere der Hütte schob. Die abgesägte Schrotflinte in seiner Hand hatte er mit Steinsalzpatronen geladen. Er erhielt keine Antwort, deshalb drehte er sich kurz um. Mit einem überlegenden Zucken auf den Lippen forderte er seine Begleiter auf, ihm zu folgen. Blitzschnell huschten drei Schatten in das Haus.
Die Blicke der Jäger schweiften durch den Raum. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Eine halb geöffnete Tragtasche stand auf den Holzdielen. Das Feuer im Kamin war erloschen. Außer ihrem eigenen Atem hörten sie nichts.
Jim bemerkte als erster die Haarbüschel hinter der hohen Lehne des Polstersessels vor dem Kamin. Seine Augen trafen mahnend auf Ron. Dieser nickte kurz und bewegte sich entschlossen darauf zu. Als er um den Sessel herum war, presste sich ein Atemstoß über seine Lippen. Rons Gesichtsausdruck verriet, was er sah: Mike Miller war tot.
Bill hatte augenblicklich damit begonnen, alle Fenster und die Eingangstür des Zweizimmerhäuschens mit Steinsalz zu versiegeln. Ron ließ den EMF-Messer über die Leiche gleiten. „Er hockt jedenfalls nicht mehr auf seinen Schultern“, interpretierte er das Schweigen des Gerätes. Anschließend überprüfte er den Raum und die Küche. „Hier ist er nicht“, flüsterte Ron und näherte sich vorsichtig seinen Partnern.
Jim richtete einen warnenden Blick nach oben. Eine schmale Leiter führte auf den Schlafboden, der etwa einen Drittel des Raumes einnahm. Wortlos gab der Jüngste zu verstehen, dass er hochsteigen wollte. Ron überließ ihm das EMF.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Jim, Sprosse für Sprosse, dem Boden. Sein Blick schweifte über die groben Holzdielen. Langsam hob er den EMF-Messer und scannte den Raum, der sich in Augenhöhe vor ihm ausbreitete.
Als der schrille Pfeifton seine Ohren betäubte, fegte bereits ein Körper über ihn hinweg. Jim schrie unter dem reißenden Schmerz, der seine Brust traf. Er verlor den Halt und stürzte von der Leiter.
Heftig schüttelte der Alte die Glocke. Bill und Ron spürten einen Luftwirbel, als der Unsichtbare, offenbar durch das Gebimmel aufgeschreckt, den Raum durchraste. Innerhalb weniger Sekunden schien es, als hätte ein Orkan gewütet. Noch einmal hörten sie ein Fauchen. Dann fiel die Küchentür krachend ins Schloss.
„Er ist da drin“, flüsterte Bill.
Ron reagierte nicht. Er war bereits auf dem Weg zu seinem Bruder und warf sich neben ihm auf die Knie.
Jim lag stöhnend am Boden. Seine Finger verkrampften sich auf seinem rechten Brustmuskel, Blut durchtränkte die Fasern seines Hemdes.
„Versiegele die Tür mit Steinsalz!“, schrie Ron. Dann versuchte er, Jims Hand zu lösen. „Verdammt Jim, lass los!“, entwich es ihm heiser. Er zerrte am Arm des Jüngsten. Der Anblick des Blutes ließ Ron panisch werden. „Jimmy, komm schon“, bettelte er.
Aber Jims Hand wollte einfach nicht nachgeben. Benommen vom Sturz irrten seine Augen durch den Raum.
Nachdem Bill das Steinsalz entlang der Küchentür gestreut hatte, eilte er zu Ron und murmelte. „Es ist eingesperrt!“
„Scheiß drauf, Bill!“ stieß Ron hervor: „Verdammt hilf mir!“ Ihm war im Augenblick egal, wo sich dieser Geist herumtrieb und ob er eingesperrt war. Jims Anblick war das Einzige, was ihn in Angst und Schrecken versetzte.
Jim zog die Beine an. Er stöhnte gequält auf und presste seine Hand auf die Wunde.
„Er ist völlig benommen“, keuchte Ron und sah kurz zu Bill. Dann zog er mit aller Gewalt am Handgelenk seines Bruders. Bill ging in die Hocke, um dem Älteren zu helfen. „Jimmy! … JIM! Verdammt lass doch endlich los“, schrie Ron verzweifelt. Die beiden Männer hatten Mühe, den harten Griff des Jüngsten zu lösen.
Als Bill endlich einen Blick auf die Verletzung werfen konnte, entwich ihm nur ein Fluchen. Er sah Ron mit aufgerissen Augen an. „Das ist verdammt übel. Ron, dein Bruder braucht einen Arzt!“ Der Bärtige schwang sich auf die Beine. „Warte hier, ich hole Verbandzeug!“ Hastig verschwand Bill aus der Tür.
Jim wurde ruhiger. Er versuchte seinen Kopf zu heben, um sich die schmerzende Stelle selbst anzusehen.
„Bleib liegen, Jimmy“, flüsterte Ron und legte seine Hand mit sanftem Druck auf die Stirn des Bruders. Stöhnend gab der Jüngere nach und bewegte sich nicht mehr. Seine Atmung war schnell und sein Körper zitterte, als er Ron fragte: „Ist es schlimm?“ Nur mühselig quetschten sich die Worte durch seine Zähne.
Ron sah auf die Verletzung und schluckte. Sie erinnerte an den Prankenhieb eines Bären. Vier Krallen hatten sich zentimetertief durch die Haut und das darunterliegende Fleisch gepflügt. Sie hinterließen klaffende, zerrissene Gräben, welche stark bluteten.
„Wir kriegen das wieder hin, Kleiner“, murmelte Ron und streichelte Jims Wange. Schweißtropfen glitzerten an seinen Schläfen. Aber Ron wusste nicht, ob es an der Hitze lag oder ob es Angstschweiß war. Mit aller Macht versuchte er, sein Zittern vor Jim zu verbergen.
„Bill wird dich wieder zusammenflicken – es wird alles gut“, flüsterte er und beobachtete mit erstarrtem Gesicht die Blutlache, die sich auf den Dielen immer weiter ausbreitete.
*** Fortsetzung folgt ***