Was geschah wirklich?

Sensiro

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Es zog ihn raus aus seiner einsamen Wohnung. Wie so oft in letzter Zeit. Niemand war da für ihn, außer seinen Fernseher und seinem Computer. Doch das waren keine wirklichen Alternativen zu menschlichem Kontakt. Und den suchte er. Und nicht irgendeinen, nein ihm fehlte die Wärme, die er früher immer verspürte, wenn seine Partnerin neben ihm saß und sie miteinander kuschelten. Und wenn sie das nicht taten, dann tat es ihm einfach gut, zu wissen, daß jemand da war, den er liebte und von dem er geliebt wurde.
Doch diese Zeit war vorbei. Zumindest die, in der er geliebt wurde. An die Stelle der erwiderten Liebe trat nun das Gefühl der Leere. Einer beklemmenden Leere. Ein Gefühl, das sich durch seinen Tag zog, wie ein roter Faden. Es begann schon morgens beim Aufwachen. Niemand war da, der in weckte, oder den er wecken konnte. Keiner, der mit ihm frühstückte, der erzählte, was er denn in der Arbeit und überhaupt machen werde und wann er wieder da sein würde. Also kein Augenblick am Abend, auf den man sich freuen könnte. Niemand, den man am Tag anrufen konnte, wenn man gestreßt war von der Arbeit und der Ablenkung bedurfte. Und niemand der einen nach einem arbeitsreichen Tag in den Arm nahm und sagte: „Na, wie war Dein Tag, Schatz?“ Und folglich auch niemand, dem man genau dies sagen konnte. Und auch in der Nacht war keine Person da, an die man sich kuscheln und mit der man einschlafen konnte.
Immerzu diese Leere, die so unendlich schmerzte vom ersten Gedanken am Morgen bis zum letzten in der Nacht. Er konnte sie nicht mehr ertragen. Sicher hatte er auch Freunde. Aber was sollten die denn tun? Sie konnten seine erste große Liebe ja nicht ersetzen. Allenfalls konnten sie sagen: „Die Zeit heilt alle Wunden“, oder etwas in der Art. Nein, er mußte raus, neue Leute kennenlernen, die ihn von dieser Leere ablenken sollten. Sein Vorsatz war es nicht, jemanden zu finden, die diese Leere ausfüllen würde. Sicher nicht, denn er mußte immerzu an sie denken, andere mit ihr vergleichen und obendrein fehlte ihm ohnehin der Mut andere Frauen anzusprechen, was eigentlich verwunderlich ist, denn schlecht sah er bei Leibe nicht aus. Er war schlank, sportlich und hatte ein Lächeln, das Frauen verzauberte. Aber Selbstbewußtsein hatte er eben nicht, auch wenn niemand dies vermutet hätte.
Als er die Wohnung verließ hoffte er, daß die Leere in seinem Leben heute ein Ende finden würde, wie auch immer. Er verschloß die Wohnungstür und lief los. Sein Ziel war seine Stammkneipe. Wie so oft in letzter Zeit. Als sein Leben für ihn noch Sinn machte, war er kaum noch dort. Aber nun wieder fast jeden Abend.
An diesem Abend war es recht voll. Kein Wunder, schließlich war es doch Freitag. Er bewegte sich auf die Bar zu und begrüßte den Besitzer fröhlich, denn niemand sollte etwas davon merken, daß er sich nun, Monate nachdem es zwischen ihm und Ingrid aus war, immer noch nach ihr sehnte und es ihn schmerzte, daß sie ihn verlassen hatte.
Sie waren über's Wochenende Urlaub machen an der Nordsee. Es war richtig schönes Wetter für die Jahreszeit und er genoß es, mit ihr am Strand zu spazieren. Offensichtlich ging es ihr nicht so, wenn er sich recht zurückerinnerte. Sie war sehr angespannt und nachdenklich. Kein Wunder, dachte sie doch darüber nach, wie sie ihm beichten sollte, daß sie einen anderen liebt. Außerdem sagte sie, es störe sie, daß er oft bis spät in Nacht arbeiten müsse oder öfter ein paar Tage weg sei auf Seminaren und so gar nicht recht Zeit habe für sie. Ja, das störe sie.
Das Geld, das er dadurch verdiente, auszugeben, um ihr etwas bieten zu können, das hatte sie nicht gestört dachte er nun. Und darauf verzichten wollte sie auch nicht. Auch wenn sie das nie sagte oder jemals sagen würde, so meinte er anfangs dies genau zu wissen. Aber er sah aber nun ein, daß er nicht verstand und er den Fehler gemacht hatte, sie zu vernachlässigen. Und wofür? Geld. Das wäre doch sicher nicht so wichtig gewesen, richtig? Sie war wohl weniger materialistisch, als er es vermutet hatte. Tja, nun konnte er es nicht mehr ändern. Aber er wünschte, er könnte es. Das wünschte er sich mehr als alles andere.
Wie immer trank er ein Bier nach dem anderen, hier und da auch mal einen Jackie – Cola. Das Ergebnis war wie so oft, daß er mit der Zeit vollkommen betrunken war Es wäre ein Abend wie all die letzten gewesen, wäre da nicht dieser Mann gewesen, den er noch nie in der Kneipe gesehen hatte. Es war ein Mann, der allein an der Bar saß, so wie er auch. Er saß aber am anderen Ende. Es war ein kräftiger, sehr großer Mann und er hatte einen Vollbart. Daß dieser ihn ansah hätte auch üblicherweise seine Aufmerksamkeit nicht erweckt, aber der Mann tat die ständig und in einer Art und Weise, wie Thomas, so hieß er, noch nie gesehen hatte. Thomas wurde es unbehaglich, denn es war gerade so, als ob er seine Gedanken mit diesem Blick lesen würde. Er war froh, als ein Freund von ihm kam, mit dem er sich unterhalten konnte. Doch das beeindruckte den Mann nicht und auch Thomas wurde von seinem Freund nicht so recht von dem Mann abgelenkt. Er beschloß, heute früher zu gehen als sonst, bezahlte und wollte gehen.
Als er die Kneipe verließ stand der große Mann plötzlich vor ihm. Er wunderte sich und war verängstigt, war der Mann doch eben noch am anderen Ende der Bar gesessen, oder nicht?
„Du brauchst keine Angst haben“, sagte der Mann beruhigend, „ich werde Dir nichts tun. Komm mit und ich werde Dir ein paar Dinge zeigen. Ich kenne Dein Leid.“
„Was für ein Leid?“, überspielte Thomas gekonnt und sah ihm verständnislos in die Augen, da er ihn täuschen wollte.
„Den tiefen Schmerz, der auf Deiner Seele lastet, der Dich quält und nachts nicht schlafen läßt. Der dir Tränen in die Augen treibt, sobald die Erinnerung zurückkommt. Und noch eins: Versuch nicht, mich anzulügen! Du kannst mich nicht täuschen, Thomas.“
Woher kannte der Mann seinen Namen? Bestimmt hatte er ihn in der Kneipe aufgeschnappt. Und, daß seine Frau ihn verlassen hatte, war dort auch bekannt. „Sie müssen sich irren“, versuchte Thomas noch einmal, sich zu verteidigen, „Guten Abend!“ Er ging an dem Fremden vorbei und war froh, ihn los zu sein.
Doch dem war nicht so, denn dieser packte ihn an der Schulter, drehte ihn herum, legte seine Hand auf Thomas‘ Stirn. Plötzlich durchflossen tausende Gedanken, sein Gehirn. Er sah, wie er Ingrid das erste Mal getroffen hatte, wie sie heirateten, die Feier danach, die Streits wegen der Arbeitszeiten und Seminare, den Strand, ihr Gesicht, als sie sagte, was los war. Er spürte den Schmerz, der ihn damals durchflutete, als würde er sterben. Sah wie er auf die Knie fiel, seine Hände vor die Augen nahm und bitterlich weinte. Auch jetzt liefen ihm Tränen über die Wangen herab. Er sah aber noch mehr: Er sah all die Nächte, in denen er alleine in seinem Bett lag. Die er aufstand und mit seinem Wagen durch die Nacht raste, um Ablenkung zu erfahren oder den Tod. Er sah sich hinter dem Steuer weinen, während ihrer beider Lied aus dem Boxen tönte. Er sah, wie sie ihre Sachen abholte. Und wieder sah er sich weinen, als sie die gemeinsame Wohnung zum letzten Mal verließ.
„Ist all dies etwa ein Irrtum gewesen?“ sah der Mann ihn an.
Thomas trat ein paar Schritte zurück, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fragte: „Was sind sie?“ Er wollte weglaufen, denn er hatte auch Angst vor dem, was da vor ihm stand. Der Mann spürte, daß er Angst hatte und trat erneut an ihn heran und legte seine Hand nochmals auf seine Stirn. Diesmal sah Thomas ein helles Licht, doch es blendete nicht. Inmitten dieses Lichts sah er eine Person. Sie war nur schwer zu erkennen, denn sie war ebenfalls weiß, trug ein langes weißes Gewand und schwebte über dem Boden, sofern da überhaupt einer war. Und Flügel hatte die Person. Ein Gefühl von Wärme, Behaglichkeit, Vertrauen und unendlicher Liebe durchflutete Thomas‘ Körper. Der Mann nahm seine Hand wieder von Thomas‘ Stirn.
„Bist Du ...“ Mehr brachte Thomas nicht heraus. „ ...ein Engel?“, ergänzte der Mann, „Ja.“
Thomas glaubte einfach nicht, was er hörte, aber er hatte auch keine andere rationale Erklärung für das, was gerade passiert war. „Und jetzt? Bist Du gekommen, mich mir dir zu nehmen?“, fragte Thomas frei von Angst. „Nein, nicht heute. Ich bin heute wie schon so oft in letzter Zeit, als Du so halsbrecherisch Auto gefahren bist, zu Deinem Schutz hier.“
„Meinem Schutz? Schutz wovor?“
„Dem Schutz vor Dir selbst. Du zerstörst Dich, marterst Deine Seele, schlimmer als es jedes Fegefeuer je könnte, machst Dir Vorwürfe und gibst Dir die Schuld, daß sie Dich verlassen hat. Malst Dir aus, wie es wäre, wenn Du sie nicht vernachlässigt hättest. Meinst, sie wäre dann noch bei Dir und ihr wärt glücklich wie zuvor.“
„Wäre es denn nicht so?“, sah Thomas den Engel fragend an.
„Komm mit!“, forderte der Engel ihm auf und Thomas folgte ihm wortlos. Sie liefen zu einer Brücke über den Fluß der Stadt. Kein Auto fuhr um diese Zeit mehr über diese Brücke. Sie waren alleine. Der Engel nahm ihn mit vor zur Brüstung und zeigte an den Horizont, wo schon die ersten Sterne der Nacht zu sehen waren. Es war wolkenlos, aber nicht kalt. Am Horizont tat sich auf den Fingerzeig des Engels ein Bild auf, das ihn und Ingrid zeigte. Es zeigte eine Szene aus seiner Vergangenheit. Damals kannten sie sich noch nicht lange. Sie erzählten über ihre Erwartungen, die sie vom Leben hatten und welche Ansprüche und Wünsche beide haben. Sie sah ihn verträumt an und sagte, was sie sich alles wünschte: einen treuen Mann, eine Arbeit, in der sie sich verwirklichen könne und erst später dann Kinder. Außerdem sagte sie, daß sie gerne sorglos leben wolle, d.h. daß Sicherheiten vorhanden sein sollen für schlechte Zeiten und man sich Dinge leisten können müsse, ohne diese Sicherheiten angreifen zu müssen.
Er erinnerte sich nur zu gut an dieses Gespräch, denn er sah es oft vor Augen, besonders dann, wenn er Überstunden schob, um diese Sicherheiten aufbauen zu können.
Als nächstes zeigte der Engel ihm mehrere Szenen, an die er sich nicht erinnern konnte. Er und Ingrid waren viel unterwegs am Abend, gingen ins Theater, schick essen oder er überraschte sie damit, daß er früher von der Arbeit kam. „Was ist das?“, fragte Thomas. „Sieh weiter zu!“, befahl ihm der Engel.
Nun sah er Szenen, in denen sich Ingrid und er stritten. „Hör auf! Das kenne ich, warum quälst Du mich denn so?“, flehte Thomas ihn an. „Sieh richtig hin!“, gebot ihm der Engel. Er sah wieder hin und hörte nun auch worum es ging. Es ging nicht um die Überstunden und Seminare, nein, es ging um Geld. Thomas verstand nicht, doch er erinnerte sich, was er zuvor gesehen hatte, dachte kurz nach und fragte den Engel: „Keine Überstunden? Keine Seminare?“ „Ja“, antwortete ihm der Engel.
Der Film lief aber noch weiter. Nun sah sich Thomas öfter arbeiten und es gab Streit zwischen Ingrid und ihm wegen der Arbeitszeiten. So wie er es schon aus der Erinnerung kannte. Also sah er sich nun morgens früher arbeiten gehen, damit er viel arbeiten konnte und für seine Frau da sein konnte. Nun sah er keine Streits mehr zwischen ihm und Ingrid. „Ich wußte doch, daß ich einen Fehler gemacht habe“, brach er wieder in Tränen aus. „Der Film ist nicht zu Ende“, weiß ihn der Engel zurecht.
Er sah nun seine Frau mit dem anderen, mit dem sie heute zusammen war. Es war ein Arbeitskollege von ihr. Und sie waren bei der Arbeit. Der Chef der Werbeagentur kam zu seinen beiden Mitarbeitern ins Büro und teilte ihnen mit, daß er zu Tisch gehe. Und kurz darauf sahen sich Ingrid und dieser Mann an. Der Mann stand auf und ging zu Ingrid. Und um das zu tun, was anschließend passierte, brauchte dieser Kerl offenbar keine großen Verführungskünste. Sie warf sich ihm geradezu an den Hals. „Mach das weg!“, befahl Thomas ärgerlich. Die „Leinwand“ wurde dunkel. Dann fing ein neuer Film an zu laufen: Er zeigte Thomas, weiterhin arbeitend und nichtsahnend. Und immer wieder seine Frau und dieser Typ im Bett. „Ich sagte doch hör auf damit!“, brüllte Thomas, „Was soll das werden?“ „Du fragst Dich doch immer wieder und wieder, ob Du einen Fehler gemacht hast. Sieh hin!“ Er sah nicht mehr an den Horizont, doch der Engel projizierte die Bilder nun in seinen Kopf. Sie zeigten ihn wie er sich abmühte, seiner Frau gerecht zu werden: oft für sie da zu sein, und viel Geld zu verdienen, indem er viel arbeitete. Viele Tage sah er so an sich vorüberziehen. Viele Tage, in denen Ingrid sich immer wieder mit ihrem Arbeitskollegen traf, aber Thomas nichts davon erzählte. Dann sah er sich plötzlich im Krankenhaus. Er sah, wie Ärzte versuchten ihn wiederzubeleben. Doch es gelang ihnen nicht.
Thomas war so geschockt, daß er ganz vergaß zu weinen, sah den Engel an und fragte: „Was ist passiert?“ „Zuviel Streß“, sagte der Engel kühl. „Aber ich bin doch jung und gesund“, erwiderte ihm Thomas. „Ja, noch“, mahnte ihn der Engel.
„Thomas, was machst Du denn da?“, rief eine Stimme aus dem Hintergrund, „Mach keinen Blödsinn!“ Thomas drehte sich um und erkannte seinen Freund Georg, der auf ihn zurannte. „Wieso Blödsinn? Ich rede doch nur mit ...“, sagte er, während er sich wieder herumdrehte und auf den Engel deuten wollte. Doch der war weg. „... dem Engel hier“, setzte er leise und verständnislos fort. „Oh Mann, Du hast ja mal wieder so richtig den Kanal voll. So schlimm war’s ja noch nie, daß du Halluzinationen hast. Komm ich bringe Dich nach Hause.“ sprach Georg zu ihm. Er legte seinen Arm um Thomas und machte sich mit ihm auf den Weg nach Hause. Thomas blickte sich noch einmal kurz um und sah den Engel noch einmal in seiner wahren Gestalt umringt von einer glanzvollen Aura. Thomas lächelt als er sah, daß der Engel noch einmal kurz mit seinem Auge zwinkerte, bevor er dann verschwand.

Am nächsten Morgen wachte Thomas, von seinem Wecker aus seinem unruhigen Schlaf gerissen, auf und hatte einen mächtigen Kater. Er erinnerte sich noch, was letzte Nacht war, fragte sich aber, ob er, wie ihm Georg das oft genug sagte, während Thomas ihm von dem Engel erzählte, sich das alles nur eingebildet hatte. Er wußte es wirklich nicht, doch der Kopfschmerz war der einzige Schmerz, der ihn heute überfiel, als er aufwachte. Er war glücklich darüber und legte sich wieder in sein Bett, denn er würde heute nicht arbeiten gehen, sondern sein neues Leben genießen.


(c) by Sensiro, Ludwigshafen 8/2000
 



 
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