Was sein würde...

Ava L. Ries

Mitglied
[Für meine ewige Wegbegleiterin]


Wie reagierst du darauf, wenn ein Junge aus der Zukunft dir sagt, dass er dich liebt? Wenn er dir viel zu früh begegnet, jetzt so plötzlich vor dir steht und dir seine ewige Liebe gesteht. Noch bevor du ihn kennenlernen solltest. Noch bevor es Zeit dafür war. Noch bevor du weißt, dass du mit diesem Jungen dein Leben verbringen willst. Dein viel zu kurzes Leben.


Eigentlich hätten wir uns erst in ein paar Jahren treffen sollen, im Sommer in den Alpen. Dort wären wir beide von unseren Eltern in ein Ferienlager gesteckt worden, um unserer Energie freien Raum zu lassen. Dort hätten wir aufgrund deiner Hartnäckigkeit und meiner Neugier zueinander gefunden. Wir wären zusammen abends heimlich aus unseren Hütten ausgebrochen und wären sogar einmal im eiskalten See baden gegangen, obwohl es verboten war. Die Verkühlung, die uns danach beide treffen würde, wäre schwer gewesen und hätte uns verraten, aber wir hätten dennoch nichts gesagt. Wir wären schon damals ein eingeschworenes Team gewesen und hätten den anderen aus kindlichem Spiel gedeckt.

Das nächste Mal würden wir uns erst in ein paar Jahren in der Schule wiedersehen, in der Abschlussklasse. Du wärst einmal durchgeflogen, weshalb dich deine Eltern in unsere Schule gesteckt hätten. Sie wäre einfacher, hier würdest du es sicher schaffen, würden deine Eltern zu dir sagen und du würdest es im ersten Moment schlecht finden. Du willst nicht der Neue sein, der Ältere, der Wiederholende. Aber in dem Moment, wo du durch unsere Tür kommen würdest, würde dein Blick meinen treffen und du würdest strahlend grinsen. Du hättest das Mädchen von damals endlich wiedergefunden. Das Mädchen, mit dem du im Ferienlager Unfug getrieben hast. Das Mädchen, das genauso verrückt und abenteuerlustig ist wie du. Das Mädchen in das du dich verliebt hättest; rückblickend wissend, dass du mich schon im Sommer damals geliebt hast. Du hättest dich wie selbstverständlich neben mich gesetzt, hättest pausenlos mit mir geredet und den Unterricht kommentiert, nur um mich zum Lachen zu bringen. Du hättest mir in der Mittagspause etwas Süßes gebracht, anfangs noch vom Buffet, später dann Selbstgebackenes. Du hättest alles dafür gegeben, dass ich mit dir zum Schulball gehe. Und dann wäre es soweit.

Ganz kitschig mit einem Strauß roter Rosen und in einem schicken Anzug wärst du vor meiner Tür gestanden und hättest meine Eltern beide zuerst um Erlaubnis gefragt. Sie wären begeistert von deinem Auftreten gewesen, äußerlich konnte man dir deine schelmischen, abenteuerlustigen Gedanken noch nie ansehen. Du hättest erst sie verzaubert und dann mich. Du wärst zu mir ins Zimmer gekommen, wo ich in einem gammligen T-Shirt und schon viel zu oft getragener Jogginghose gerade mein Lieblingsbuch las. Dort hättest du vor mir gestanden und mich gefragt, ganz einfach: „Willst du mit mir zum Schulball gehen?“ Und ich hätte gelacht, nicht, weil ich das Vorhaben lächerlich fand, nein. Ich hätte gelacht, weil du so lange damit gewartet hast. Ich hätte gelacht, weil ich schon seit Wochen damit rechnete und gerade heute nicht darauf vorbereitet war.
Dann wären wir am 18. Dezember bei schneebedeckten Straßen zum Schulball gefahren. Du hättest mich wie ein wahrer Gentleman von zuhause abgeholt und meinen Eltern versichert, du würdest mich bis Mitternacht wieder nachhause bringen. Natürlich hättest du mir den ganzen Abend lang Komplimente zu meinem Kleid und meinen Haaren, meinen nicht vorhandenen Tanzkünsten und meinem Lächeln gemacht. Auf der Tanzfläche hättest du mich herumgewirbelt, um allen zu zeigen, dass du die letzten Wochen in einem Tanzkurs warst, nur für mich. Wir hätten unendlich viel Spaß gehabt, bis du mich zum krönenden Abschluss mit nach draußen gezogen hättest. Kurz nach 23 Uhr hättest du mich in den Garten hinter dem Tanzsaal gezogen, wo ein Mistelzweig auf uns wartete, den du dort angebracht hast. Du hättest mich direkt unter ihn gezogen und mich fragend angesehen. Ich hätte ohne Worte verstanden, was du willst und wollte es auch. Und so hätten wir uns geküsst, zum ersten Mal. Du im Anzug und ich in einem langen Ballkleid. Um uns herum glänzend weißer Schnee und in uns das brennende Verlangen nach mehr. An diesem Tag hätten wir zusammen kommen sollen. So hätte es ablaufen sollen.

Gleich nach der Schule hätten wir geheiratet, ganz spontan, um unsere Liebe füreinander auf dem Papier für immer festzuhalten. Wir wären in viele ferne Länder verreist, weil uns eines für die Flitterwochen nicht genug war. Wir hätten noch so viele weitere Abenteuer zusammen erlebt, hätten neue Welten entdeckt und unseren Horizont erweitert. So wäre das Leben für uns bestimmt gewesen, so hätte es sein sollen, bis...


Wie reagiere ich darauf, dass ein Junge aus der Zukunft mir sagt, dass er mich liebt?

Ich glaube ihm.
 



 
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