Was verdammt hast du in der letzten Zeit getan?

Cheunh

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Ich weiß nicht, was den Leuten an mir aufstößt. Ob ich sabbere, oder das ich im Bus stehe, nackt. Oder ist es die halbvergammelte Stange Lauch in meiner Hand? Ich beginne grinsend zu schielen. Ungebremst lasse ich mich zu Boden fallen. Meine Nase beginnt stark zu bluten. Drei Männer braucht es, um mich aus dem Bus zu werfen.
Wie ich der Polizei so manches Mal entwische, ist meine Überlebenskunst. Meine Luft zum Atmen. Nicht, dass mein Leben sonderlich interessant wäre, es ist nur ungewöhnlicher als ein normales Leben. Wer hat denn sonst schon selbsttätowierte Beleidigungen auf der Brust? Gerne erzähle ich den Menschen Geschichten, die Geschichten meines Lebens. Wie ich meinen Bruder auf eine sexuelle Art liebte und ihn versehentlich im Drogenrausch mit einem gestohlenem Twingo überfuhr. Der Twingo hatte ein schönes Türkis. Das stach in einem förmlich in die Augen. Oder wie mich meine Mutter im Kindesalter verprügelt hatte, weswegen ich heute noch den einen oder anderen Tick habe. Oder den Intimpiercing den ich mir selbst stach und mir schmerzhaft misslang.
Ich kann mich aber auch benehmen. Ich habe viel Geld. Jedes Mal, wenn ich gefragt werde, woher ich das habe, finde ich eine neue Ausrede. Daher esse ich gerne in den feinsten und teuersten Läden der Stadt. Dafür reise ich auch gerne im Land herum. Ich liebe Kinder, noch mehr wenn ihre Körper regungslos und kalt sind und ich sie von Innen wärme. Niemand kennt mich. Ich streune im Viertel herum. Das Blut ist verkrustet. Ich lege mir eine Einkaufsliste für den Abend zurecht. Dabei laufe ich an einem Bettler vorbei, der gerade auf einem Stück Brot kaut. Sekunden später liegt dieser verprügelt auf dem Boden und ich verschlinge mein Abendessen. Ich fühle mich wie ein Raubtier. Ich bin ein Raubtier. Drei Ecken weiter erbreche ich mich auf dem Gehsteig, damit mein Magen wieder leer wird. Heute gehe ich fein essen. Ich fühle mich frei. Manche halten mich für in der Seele bösartig, weil ich meinen Bruder zwang, seinen schwarzen Kater zu verspeisen. Nachdem er ihn bei lebendigem Leib anzünden musste. Ich muss sagen, im Rückblick hatte ich eine schöne Kindheit; mir wurde nie langweilig. Ich war schon immer kreativ und träumerisch. Dann aber wurde ich erwachsen und rational und hörte mit dem träumen auf und tat, wonach mir der Sinn stand. Das wurde zu jedem Moment meines Lebens meine einzige Maxime. Ich kehre zu der Wohnung meiner Freundin zurück. Hierbei passe ich auf, wohin ich gehe. Es erfordert ein bisschen geschickte Organisation, beiden Freundinnen genug Aufmerksamkeit zu schenken, ohne das sie voneinander verdächtig werden könnten. Aber was wäre das Leben ohne Abenteuer?

Ich sehe gut aus in feinen Kleidern. Man wirkt so seriös und wichtig. Der Charakter wird unterschätzt. Widerwärtiger ist nur der rote Teppich. Doch wer weiß das schon? Ich passe mich gerne an Gesellschaftsschichten an. Das konnte ich schon immer gut. Ich habe ein Talent.

Sonnenlicht fällt auf mein Gesicht. Ich brauche das Licht, um Erkrankungen vorzubeugen. Es stürmt draußen. Bald kann ich die Sonne sehen. Bald, bald! Ich huste. Bald kann ich die Sonne sehen, bald bin ich frei!
Es ist wieder stockdunkel. Ich bin alleine. Hellwach. Es fröstelt mich. Der karge Raum ist karg. Grau. Unzerstörbar. Selbst meine Schlafmatte ist mit dem Boden verschmolzen. Aber ich kann den tristen Raum nicht sehen. Würde ich aufstehen und mich im Raum bewegen, würde mir auffallen, dass der Raum sehr eng wäre. Plötzlich bricht es aus mir hinaus. Ohne Vorahnung. Ich fliege an die Stahltür – ich weiß ganz genau, wo sie sich befindet – und brülle es hinaus. Ich donnere mit meinem Körper an die Wand. Schlage mir die Fäuste blutig. Die Tür muss durch den gesamten Trakt hallen, selbst durch die Polsterung. Als ich erwache liege ich so, wie ich zuvor gelegen hatte. Ich liege im eigenen getrockneten Blut.
Nun ist es aber hell. Sehr grell, ich kann kaum etwas sehen, die Wände reflektieren zu stark, ich bin quasi blind. Schon oft habe ich versucht, die Lampe kaputtzuschlagen, jedoch immer vergeblich. Doch auch das vergeht; das Warten lohnt sich.
Das einzige im Zimmer: ein Fenster, ein Bildschirm in der Wand. Daran orientiere ich mich. Meine innigste Beziehung in meinem ganzen Leben. Der Fernseher ist meine Uhr, mein Kalender, Tröster, meine Freunde, mein Gesellschaftsleben, mein Lachen, mein Weinen. Es gibt nichts neben dem Fernseher. Ich will sterben. Doch der Freitod ist nicht akzeptabel. Jeder, der sich den Freitod wünscht, ist verrückt. Also will ich nicht sterben. Ich will ewig leben.
Ich komme raus. Unspektakulär. Eines Tages erwache ich auf einer grünen Wiese. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich kenne den Ort nicht. Die Dusche, der neue Haarschnitt und die Rasur tun mir gut. Ich habe so lange gewartet. Ich bin tiefenentspannt. Dieses kleine ruhige Hotel ist wie geschaffen für mich. Ich werde verfolgt. Werde ich? Ich werfe einen vorsichtigen Blick in den Flur. Alles ist ausgestorben, keinen Mucks höre ich.

Ich habe nicht verlernt, mich unter Leute zu begeben. Sie lachen über meine Witze herrlich und lauschen meinen abenteuerlichen Geschichten. Ich alleine stehe im Zentrum des Salons. Ich liebe die gehobenen Runden. Die überjunge Gattin des älteren Herren lächelt mir verführerisch zu. Sie ahnt noch gar nicht den Verlauf unseres Abends. Ich mag das Hotel hier, wirklich. Ich grinse in mich hinein. Doch ich muss raus aus der Provinz, meinem Drang folgen.

Mir wird meine Umgebung bewusst. Ich stehe prächtig da, richtig selbstbewusst. In meiner Hand eine Waffe. Keine Ahnung, woher ich die nun habe. Um mich herum kauern Leute, die ich nicht kenne. Ich bin in einer Bank. Geld liegt auf dem Boden verstreut. Viel Geld. Die Leute wimmern. Meine Hand hält die Pistole fest umschlossen, die auf den Kopf eines Mannes gerichtet ist. Schwerbewaffnete Polizei versucht aus der Deckung deeskalierend auf mich einzureden. Die Kontrolle der Handlung obliegt ganz bei mir.
Und mit einem Schlag werden mir all meine Fehler bewusst. Alles, was ich hätte besser machen können. Reue überkommt mich. Wie dumm ich war. Auch ich war ein fehlbarer, dummer Mensch, sehr sogar. Doch das hat jetzt ein Ende. Ich schwöre mir, mich von Grund auf zu ändern. Ich werde mit so vielem brechen: dem Wahn, den Lügen, den Selbsterhöhungen, dem Fremdgehen, den Vergewaltigungen. Der Prozess meiner vollständigen Verwandlung beginnt kompromisslos und sofort. Ich will von nun an ein besserer Mensch werd– ach fuck it! Ich erschieße die Geißel.
 



 
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