Carl Dominik Spies
Mitglied
Als sie in das Wasser sah, sah sie sie - doch nicht so, wie sie es die letzten Male getan hatte: sie sah sie klar und deutlich, zwischen dem kurzen Schilf schwimmen. Ihr langes blondes Haar tanzte verspielt bei jeder ihrer Bewegungen auf und ab und ihr Gesicht, weiß wie das einer Puppe, ließ ihre blauen Augen strahlen. Da sie erst vier Jahre alt war, fragte sie sich nicht, wie oder ob das überhaupt sein konnte, schließlich war das Wasser in der Nähe der Übergänge maximal vierzig Zentimeter tief; aber das brauchte sie auch nicht, denn für sie war sie echt, genauso echt wie ihre Mutter, die sie eben noch an der Hand gehabt hatte, und ebenso echt wie die Verlockung, die sie spürte, näher heranzutreten.
Die Sonne hatte den ganzen Juni gebraten, was das Zeug hielt, und trieb die Menschen nach der Arbeit an die Seen oder in die letzten, verdunkelten Ecken ihrer heruntergekühlten Häuser. Hier, an dem kleinen Saulheimer Wasserloch, tummelten sich meistens nicht mehr als drei oder vier Familien, bestehend aus vorwiegend Müttern und dem kleinen Anhang, der wie eine Entenfamilie in Hosenscheißergröße hinterher flitzte. Eis tropfte auf den Boden und kleine Fußabdrücke verteilten sich. Die meisten Tiere hatten Reißaus genommen, nicht wegen des Kindergeschreis und – gelaches, das um die Mittagszeit einsetzte; die meisten flohen wegen der drohenden Hitze, rein instinktiv. Gegen 18 Uhr kehrten sie normalerweise zurück und verteilten sich in den von den Bäumen geschützten Teilen des Sees. Mittlerweile verstreuten sie sich wieder über die gesamte Fläche.
Nicole hatte nicht vorgehabt, so lange zu bleiben, aber heute war einfach einer dieser Tage, an denen alles etwas länger gedauert hatte. Die anderen Familien waren mittlerweile heimgekehrt und sie und Marie waren, abgesehen von den Spaziergängern, alleine hier, noch eine halbe Stunde - dann würde auch sie zusammenpacken und sich nach Hause begeben. Viel hatte sie nicht einzupacken. Sie hatte sich ein Buch mitgebracht, „Picknick am Wegesrand“. Eigentlich mochte sie keinen Sci-Fi - Kram mit Außerirdischen und übernatürlichen Dingen, aber es war so spannend geschrieben, dass sie es schaffte, einzutauchen. Das hatte sie lange nicht mehr erlebt und wollte es nun umso mehr in vollen Zügen genießen. Als sie hochschaute, sah sie Marie; ihr kleiner Doppelgänger im Zwergenformat hatte etwas entdeckt, genau das liebte sie hier so sehr. In dem kleinen See befanden sich Kois, die bis zu einem halben Meter lang waren; Frösche, Wasserschildkröten, die sich anscheinend über die letzten heißen Sommer hier eingenistet hatten, sowie Enten und Gänse. Eigentlich gab es hier für Marie alles, von dem man sich wünschte, dass es einem in der Kindheit geboten wird - und noch dazu war Nicole eine echt verdammt coole Mutter.
Marie hatte in der Zwischenzeit den kleinen Steg verlassen, sie war samt ihrer kleinen Sandalen und der lustigen, sonnenabschirmenden Mütze in das seichte Wasser gegangen und lachte. Am Anfang des Sommers hatte Nicole alle paar Sekunden ängstlich mit ihren Blicken nach ihrer Kleinen gesucht, aber über jeden einzelnen Besuch hier war sie entspannter geworden; noch ein paar weitere Wochen dieses perfekten Sommers mit Marie und sie würde ein neuer Mensch sein. Tiefenentspannt. Sie hörte die Grillen, die sich in den hohen Büschen versteckt hatten, und spürte die warme Sommerbrise, die über ihre Haut strich. Als sie abtauchte, hatte der Held des Romans gerade das erste Mal von der „Goldenen Kugel“ erfahren: einem Gegenstand, der jeden Wunsch erfüllen kann, im Gegenzug aber aus einer Zone voller Gefahren geborgen werden muss, in deren Tiefe man unmöglich alleine vordringen kann. Als der frischer werdende Wind sie traf, merkte sie es nicht, aber als sich die tiefen Schatten der alten Pappeln über sie streckten, tauchte sie auf. Sie hatte die Zeit vergessen und schreckte hoch, wie jemand der versehentlich im Zug eingeschlafen war, und Angst hatte, seine Haltestelle verpasst zu haben. Ihr erster Blick fiel auf Marie - oder besser gesagt dorthin, wo sie gewesen war. Doch dort war sie nun nicht mehr. Marie war auch nicht in dem Gebüsch hinter ihrem Liegeplatz, welches sie als erstes absuchte, und genauso wenig war sie zuhause. Als das Deutsche Rote Kreuz mithilfe der Feuerwehr den See einen Tag später abpumpte, fand man nur Maries lustige Sonnenmütze, die nun allerdings niemandem mehr ein Lächeln auf das Gesicht zauberte.
Die Sonne hatte den ganzen Juni gebraten, was das Zeug hielt, und trieb die Menschen nach der Arbeit an die Seen oder in die letzten, verdunkelten Ecken ihrer heruntergekühlten Häuser. Hier, an dem kleinen Saulheimer Wasserloch, tummelten sich meistens nicht mehr als drei oder vier Familien, bestehend aus vorwiegend Müttern und dem kleinen Anhang, der wie eine Entenfamilie in Hosenscheißergröße hinterher flitzte. Eis tropfte auf den Boden und kleine Fußabdrücke verteilten sich. Die meisten Tiere hatten Reißaus genommen, nicht wegen des Kindergeschreis und – gelaches, das um die Mittagszeit einsetzte; die meisten flohen wegen der drohenden Hitze, rein instinktiv. Gegen 18 Uhr kehrten sie normalerweise zurück und verteilten sich in den von den Bäumen geschützten Teilen des Sees. Mittlerweile verstreuten sie sich wieder über die gesamte Fläche.
Nicole hatte nicht vorgehabt, so lange zu bleiben, aber heute war einfach einer dieser Tage, an denen alles etwas länger gedauert hatte. Die anderen Familien waren mittlerweile heimgekehrt und sie und Marie waren, abgesehen von den Spaziergängern, alleine hier, noch eine halbe Stunde - dann würde auch sie zusammenpacken und sich nach Hause begeben. Viel hatte sie nicht einzupacken. Sie hatte sich ein Buch mitgebracht, „Picknick am Wegesrand“. Eigentlich mochte sie keinen Sci-Fi - Kram mit Außerirdischen und übernatürlichen Dingen, aber es war so spannend geschrieben, dass sie es schaffte, einzutauchen. Das hatte sie lange nicht mehr erlebt und wollte es nun umso mehr in vollen Zügen genießen. Als sie hochschaute, sah sie Marie; ihr kleiner Doppelgänger im Zwergenformat hatte etwas entdeckt, genau das liebte sie hier so sehr. In dem kleinen See befanden sich Kois, die bis zu einem halben Meter lang waren; Frösche, Wasserschildkröten, die sich anscheinend über die letzten heißen Sommer hier eingenistet hatten, sowie Enten und Gänse. Eigentlich gab es hier für Marie alles, von dem man sich wünschte, dass es einem in der Kindheit geboten wird - und noch dazu war Nicole eine echt verdammt coole Mutter.
Marie hatte in der Zwischenzeit den kleinen Steg verlassen, sie war samt ihrer kleinen Sandalen und der lustigen, sonnenabschirmenden Mütze in das seichte Wasser gegangen und lachte. Am Anfang des Sommers hatte Nicole alle paar Sekunden ängstlich mit ihren Blicken nach ihrer Kleinen gesucht, aber über jeden einzelnen Besuch hier war sie entspannter geworden; noch ein paar weitere Wochen dieses perfekten Sommers mit Marie und sie würde ein neuer Mensch sein. Tiefenentspannt. Sie hörte die Grillen, die sich in den hohen Büschen versteckt hatten, und spürte die warme Sommerbrise, die über ihre Haut strich. Als sie abtauchte, hatte der Held des Romans gerade das erste Mal von der „Goldenen Kugel“ erfahren: einem Gegenstand, der jeden Wunsch erfüllen kann, im Gegenzug aber aus einer Zone voller Gefahren geborgen werden muss, in deren Tiefe man unmöglich alleine vordringen kann. Als der frischer werdende Wind sie traf, merkte sie es nicht, aber als sich die tiefen Schatten der alten Pappeln über sie streckten, tauchte sie auf. Sie hatte die Zeit vergessen und schreckte hoch, wie jemand der versehentlich im Zug eingeschlafen war, und Angst hatte, seine Haltestelle verpasst zu haben. Ihr erster Blick fiel auf Marie - oder besser gesagt dorthin, wo sie gewesen war. Doch dort war sie nun nicht mehr. Marie war auch nicht in dem Gebüsch hinter ihrem Liegeplatz, welches sie als erstes absuchte, und genauso wenig war sie zuhause. Als das Deutsche Rote Kreuz mithilfe der Feuerwehr den See einen Tag später abpumpte, fand man nur Maries lustige Sonnenmütze, die nun allerdings niemandem mehr ein Lächeln auf das Gesicht zauberte.