Wechselsachen

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Lyan Nethil

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Die Idee war scheiße!
Das wusste ich als ich sie ausgesprochen hatte, aber ich hatte keine Wahl.
Meine Freundin hatte schreckliche Zahnschmerzen und musste dringend zum Arzt. Der Babysitter war plötzlich krank geworden, die Oma im Urlaub und der Vater der Kleinen hatte sich schon kurz vor der Geburt abgesetzt. Also hatte ich voller busenfreundschaftlicher Inbrunst angeboten, meinen freien Nachmittag zu nehmen und auf ihr Tochter aufzupassen.
„Weißt du, was du dir da antust?!“, hatte sie mich erstaunt gefragt.
Ich konnte es nur erahnen, was es bedeutete ein vierjähriges Lockengeschöpf zwei Stunden lang in Schach und Laune zu halten. Bisher hatte ich es nur mit fragwürdigen Männern und Zimmerpflanzen versucht, beides war irgendwann immer gescheitert, mal mehr mal weniger dramatisch, aber zwei Stunden würde ich schon schaffen. Hoffte ich.
Musste ich hoffen, weil ich nun aus diesem Plan nicht mehr herauskam ohne das Gesicht zu verlieren. Also lächelte ich, „Klar, das schaffe ich schon!“. Meine Freundin versuchte ein schmerzverzerrtes, dankbares Lächeln hinzubekommen und rauschte von dannen gen Zahnarzt.
Zurück blieb ich mit Lisa und einem Rucksack vollgepackt mit Sandspielzeug, zahngesunden Getränken, zuckerfreien Keksen und Wechselwäsche.
Wozu eigentlich Wechselwäsche? Lisa war vier, kannte den Ablauf eines Toilettenbesuches und war, so hatte mir meine Freundin versichert, selbstständig in der Lage diesen ohne Aufsicht durchzuführen.
Ich lächelte selbstbewusst, selbstbewusster als sich diese Situation anfühlte, und schaute Lisa an, die genauso unsicher wie ich an meiner Hand hing und an ihrem Finger kaute.
Die arme süße Maus. Ich würde ein paar Sandkuchen mit ihr backen, die Enten füttern gehen und dann bei einem großen dicken Schokoladeneis mir ihr auf Mama warten. Etwas ruhiger zog ich mit ihr los Richtung Park, Lisa brav an meiner Hand hinterherzockelnd.
Am Spielplatz angekommen fühlte ich mich schon fast wie eine junge Mutter und ergatterte gekonnt einen Platz auf der Bank. Ich holte Lisas Schaufel und Förmchen aus dem Sack, gab sie ihr, legte ordentlich Kekse und Getränk neben mich und schaute bedächtig eine Weile zu, wie „meine“ kleine Lisa eifrig Kuchen buk. Dann holte ich mein Buch aus meiner Tasche und gab mich dem guten Gefühl eine gute „Leih“-Mutter zu sein hin und las.
Die Vögel zwitscherten, die Bäume rauschten und die Kinder quiekten vor Vergnügen.
Naja, das Quieken klang vielleicht nicht ganz so vergnügt wie es zu dem Vogelgezwitscher und Baumrauschen passen sollte, also wagte ich einen gutmütterlichen Blick auf Bäckerin Lisa, die gerade quiekend mit der Schaufel auf den Kopf eines weiteren quiekenden Kindes einschlug und es dabei an den Haaren in der richtigen Position hielt. Fasziniert gebannt schaute ich zu, wie eine andere Mutter, vermutlich die des Kindes, die beiden auseinander riss, ihre Tochter an sich presste und wütend auf Lisa einredete.
„So eine Unverschämtheit! Wo ist nur deine Mutter?! Wer seinem Kind so etwas beibringt...?! Auf unschuldige Kinder einzuprügeln...!“
Aus meiner Versteinerung erwacht, kramte ich schnell meine Tasche zusammen, packte Schaufel und Förmchen ein und zog die inzwischen kreischende Lisa unter bösen Blicken und mit hochrotem Kopf aus dem Park.
An einer Straßenecke blieb ich stehen, Lisa kullerten dicke Krokodilstränen die Wangen hinunter und ihr Kreischbarometer war auf dem höchsten Level. Ich atmete tief durch und versuchte so gut es ging mütterlich liebevoll zu denken und zu handeln. Ich wusste nicht so ganz, ob ich mich nun schämte, weil Lisa sich plötzlich in ein blutrünstiges Monster verwandelt hatte, oder weil ich völlig unpädagogisch der Situation entflohen war. So oder so, es war tierisch schief gelaufen.
Lisas Geschrei machte sämtliche Leute auf der Straße auf uns Aufmerksam und obwohl mir gar nicht danach war, versuchte ich so gut es ging beruhigend auf sie einzureden.
„Lisa, Süße, hör mir zu! Ich weiß dass das jetzt eine schwierige Situation für uns beide ist... Die Frau hätte nicht so mit dir schimpfen dürfen,... aber du hast dem Mädchen sehr, sehr weh getan... Deine Mama hat auch ganz viel Aua am Zahn und deshalb muss ich jetzt noch ein bisschen auf dich aufpassen...“, egal was ich sagt und wie ruhig, tröstend, oder liebevoll meine Stimme gerade klingen sollte, Lisas Geschrei wurde nicht leiser. Die Tränen waren versiegt, stattdessen war ein heulender Wutton dazu gekommen, der meinen „Ich-bin-noch-keine-Mutter-und-weiß-auch-warum“-Nerv ziemlich zusetzte. Jedem pädagogisch wertvollen Ratschlag zu trotz, den ich jemals unwissend an Eltern preis gegeben hatte, beschloss ich, es mit der guten alten, in der freien Wirtschaft wunderbar funktionierenden, Bestechung zu versuchen.
„Weißt du was Lisa, ich hab eine Idee! Wir gehen jetzt in einen Spielwarenladen (das Kreischen wurde mit einem Mal zu einem lauteren Wimmern,... ich lächelte innerlich), dort werden wir uns ein wenig umschauen (das Wimmern wurde leiser) und wenn dir etwas besonders gut gefällt, dann schauen wir mal, ob wir das nicht haben können (Ruhe!!!).“
Puh!
Brav wie ein Lämmchen trottete Lisa nun neben mir her, den Kopf zwar immer noch hochrot, aber idyllisch leise. Es war bestimmt nicht die beste Idee ein Kind für sein Heulen mit einem Geschenk zu belohnen, aber die richtige Taktik würde ich lieber später an meinen eigenen Kindern austesten, jetzt ging es mir nur um den Zahnarztbesuch meiner Freundin und das ICH ihn heil überstehen würde.
Am Spielwarenladen angekommen löste Lisa sich aus meiner Hand, rannte los und tauchte in der Masse der Gänge in Zwergenmanier unter. Eine Hitzewelle durchflutete mich, auch diese Idee war nicht perfekt ausgearbeitet von mir. Hektisch lief ich durch die Gänge über die Regale schielend. Aus den Augenwinkeln sah ich wie der Lockenkopf eine Etage höher flitzte in die rosa Abteilung, wohin auch sonst – Barbie. Hinterher.
Ich stolperte über ein grünes Bobby-Car und wurde vom netten Bob Baumeister in Pappe aufgefangen. Drei Regale weiter fand ich Lisa andächtig ein Barbie-Pferd aus seiner Verpackung ziehend.
„Nein, Süße, nein!“, rief ich und lief mit den Händen wedelnd auf sie zu, „Das muss man erst bezahlen, bevor man damit spielen darf!“
„Aber du hast gesagt du kaufst mir was!“, protestierte Lisa und riss unnachgiebig auch noch die passende lila Haarbürste aus der Plastikummantelung. Man sollte Spielzeug kindersicher einpacken! Sanft aber bestimmt versuchte ich Lisa die Dinge wieder aus der Hand zu nehmen, überrascht wie einfach das war, aber Lisa war schon wieder aufgestanden, zu einem großen Paket mir Barbie-Küchenutensilien gelaufen und fingert daran herum.
„Nein Lisa! Ich sagte wir schauen erst und sehen dann, ob wir etwas für dich finden!“, rief ich, ließ das arme Pferd liegen und versuchte Barbies einzige Nahrungsquelle in Form eines Tütenkuchens zu retten.
„Du hast gelogt!“, schrie Lisa empört und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, „Du hast gesagt du schenkst mir was!“, und wieder ging das Jaulen los einschließlich Krokodilstränen, rotem Kopf und Publikum.
„Ich sagte, wir sehen ob wir etwas haben können, was dir besonders gut gefällt“, gab ich nicht mehr ganz so gehalten von mir, „ das bedeutet aber auch, dass du dich erst einmal entscheiden musst, was du überhaupt möchtest und nicht alles aufreißt was du in die Finger bekommst!“
Auch meine Gesichtsfarbe änderte nun langsam ihre Tönung und meine Stimme wurde immer lauter, als eine andere Stimme sagte, „Na, aber. Sie können doch von einem kleinen Mädchen keine so große Entscheidung verlangen!“
Ich kochte vor Wut als ich mich nach der jungen Frau umschaute, die mir diesen weisen Rat so eben gegeben hatte. Die hatte bestimmt noch keine Kinder.
Ich grinste gequält und wand mich wieder zu Lisa, aber die war wieder verschwunden.
Ich wollte nicht mehr, es reichte mir nun wirklich. Schicksalsergeben stopfte ich die Barbie-Küchenutensilien und das Pferd in ihre Kartons und machte mich wieder auf die Suche nach Monster-Lisa.
Barbie, Puppen-Regale, Puzzle und Spiele und sogar in der Autoabteilung suchte ich. Vergebens. Quälende Minutenlang rannte ich durch die Gänge, aber von Lisa keine Spur. Was sollte ich nur machen? Was sollte ich meiner Freundin erzählen ’tschuldigung, aber ich habe deine Tochter in der Spielwarenabteilung verloren’!? Nach fünfzehn Minuten war ich den Tränen nahe, schweißgebadet und völlig hilflos. ‚XY-ungelöst’, ‚Deutschlands ungelöste Fälle’ und ‚Autopsie’ rannten durch meine Gehirnwindungen, mit mir der bösen Tante in der Hauptrolle, die es nicht geschafft hatte zwei Stunden auf eine Vierjährige aufzupassen. Mir war schlecht und ich brauchte eine Zigarette als ich zwei blonde Locken aus einem Spielhäuschen hüpfen sah. Lisa.
Schnell lief ich zu dem grünen Plastikhaus, das auf einer erhöhten Ebene stand und schaute durch das Fenster. Monster-Lisa hatte ein Barbie Essservice gefunden, es in allen Einzelteilen aus der Verpackung genommen und trank nun einen gepflegten Tee in Gesellschaft von Shelly mit ‚Ich-gebär-gleich’-Barbie und Ken. Nein, ich war nicht böse, ich war erleichtert ‚XY’ und ‚Autopsie’ aus meinem Lebenslauf streichen zu können.
„Willst du auch ein Stück Kuchen?“, fragte Lisa und hielt mir ein Mini-rosa-Kuchenteller mit perfekter Mini-Schwarzwälderkirschtorte hin.
„Nein, danke! Aber wie wäre es, wen wir jetzt ein Eis essen gehen und auf deine Mama warten würden?!“
„Aber du hast gesagt, du schenkst mir was...!“, Lisas Gesichtsfarbe näherte sich Barbies Lieblingsfarbe,... nein bitte, nicht wieder das...
„Ok, ok!“, stöhnte ich entnervt, “aber nur ein Teil!“
Wieder überraschte mich Lisa und räumte bereitwillig Ken, Shelly und ‚ich-gebär-heute-doch-nicht’-Barbie weg und entschied sich diesmal eindeutig und sicher für das rosa Schwarzwälderkirschtorten-Essservice, dem teuersten wie ich erschrocken an der Kasse feststellen musste. Welch Wucher!
Aber wenn ich mir so eine restliche katastrophenfreie Zeit erkaufen konnte, war mir das auch recht. Pädagogisch sinnvoll war das alles nicht – aber verdammt nervenberuhigend. Argwöhnisch beobachtete ich wie Lisa nun entspannt an meiner Hand hüpfte und fröhlich vor sich hin summte. Wie konnte aus so einem kleinen süßen laufenden Meter innerhalb weniger Sekunden solch ein Monster ausbrechen und wieder verschwinden? Es war mir ein Rätsel. Kinder waren so unberechenbar und ich versuchte den Gedanken an mögliche noch kommende Desaster zu verdrängen. Wir würden jetzt ein großes Eis bestellen und friedlich und beschwingt auf Lisas Mama warten, ja, genau so!
In der Eisdiele bestellte ich mir erst einmal einen Kaffee und ließ Lisa ganz erwachsen ihr ‚Biene-Maya’-Eis selber bestellen. Ich versuchte mich zu entspannen und lächelte Lisa aufmunternd an. Das Eis und der Kaffee kamen rasch und ich rechnete mir mindestens zehn Minuten schweigendes Schmatzen aus.
Ok, das müsste klappen...
Ich nahm meine Milch zum Kaffee und bemerkte plötzlich, dass Lisa weinte. Nein, nicht hochrot und kreischend, aber mit großen langsam fließenden Tränen die auf die Tischplatte tropften.
„Was ist los?“, fragte ich erstaunt. Mit schwimmenden blauen Augen schaute sie mich an, ein Blick zum Herzerweichen, die Nasenflügel bebten voll Schmerz.
„Da sind gar keine bunten Streusel drauf!“, schniefte sie leise trauernd. Verwirrt schaute ich auf Biene Maya bestehend aus zwei Kugeln Vanille-Eis, zwei Smarties als Augen, kleinen Schokostangen als Fühler und Schokostreifensoße. Keine bunten Streusel.
„Sind bunte Streusel so wichtig?“
„Jahaaaaaaaaaaaaaa!“, heulte Lisa laut auf, „Ich will buuuuuuhuuuuuuuuuunte Streusel!.... ich mag kein Eis ohne buuuhuuuunte Streusel!“
Bunte Streusel. Der Kellner lächelte und mit einem kurzen Nicken bestellte ich ein Eis mit bunten Streuseln.
„Süße, der nette Mann mit dem Tablett bringt dir gleich ein Eis mit bunten Streuseln und ich es dein ‚Biene-Maya’-Eis ohne Streusel, ja?!“, versuchte ich sie zu beruhigen und zog das ohne-bunte-Streusel-Eis zu mir. Lange konnte meine Freundin doch nicht mehr brauchen um uns hier zu treffen. Sie hätte mir wenigstens sagen könne, dass Lisa kein Eis ohne Streusel mochte, in Geschäften alle Kartons aufreißt und andere Kinder verprügelt.
„Siehst du, da ist schon dein neues Eis mit bunten Streuseln. Oh sieh mal und so viele!“
Lisa legte noch eine Lautstärke an Gejammer dazu, „Aaaaaaaaaaber das ist jahaaaaa gar kein ‚Biene-Mayhaaaaaaa’-Eis!!!“
Ich starrte den Kellner an, starrte das neue bunt bestreuselte Eis an und stellte fest, dass dies wahrlich kein ‚Biene-Maya’-Eis war, sondern vermutlich ein ‚Schneemann’-Eis und die bunten Streusel sollten Schnee sein. Lisa jaulte, der Kellner zuckte entschuldigend mit den Schultern und verschwand.
Ich wollte in die Tischkante beißen, mein Kopf dröhnte, also nahm ich meinen Löffel schabte vorsichtig die bunten Streusel vom Schneemann und brachte sie zur Biene Maya. Mit jedem Löffel wurde Lisa etwas ruhiger und als ich auch das letzte bunte Streuselkörnchen dem armen Schneemann geraubt hatte und es umwegslos bei Maya gelandet war, war auch Lisa ruhig und aß lächelnd ihre Streusel-Maya.
Oh, man! Mein Kaffee war kalt, meine Nerven am Ende, mein Geldbeutel auch. Ich entschuldigte mich gedanklich beim Schneemann für den Diebstahl und beschloss wenigstens seinem Leiden ein Ende zu bereiten und ihn zu essen, als Lisas kleiner Körper ein Schütteln durchdrang. Erschrocken schaute ich sie an. Sie setze bereits wieder zu einem lauten Gebrüll an als ich kreischend auffuhr „WAS?! WAS UM HIMMELSWILLEN IST JETZT SCHON WIEDER?“
„Ich haaaahaaab gar kein Schihiiiiiirmchen bekommen!!!!“
Ein Schirmchen? Ein dusseliges kleines Papierschirmchen sollte mir kurz vor Ende meiner Heldentat tatsächlich noch meinen letzten Nerv rauben? Mein Magen überschlug sich vor Wut. Ich fixierte dieses kreischende kleine Geschöpf wie es das Eiscafe samt Gäste zusammenschrie als würde die Welt untergehen wegen eines Papierschirmchens.
Meinen gutmütterlichen Instinkten zum Trotz, nein, meinen respektvollen Manieren anderen gegenüber zum Trotz, nahm ich den armen schmelzenden Schneemann für eine letzte Schlacht in seinem frostigen Leben und klatschte es Lisa mitten ins Gesicht. Stille.
Entsetzt starrten mich alle an.
Ich war selber fassungslos von dem was ich getan hatte. Lisa nun still mit Vanille-Eis und Schokosoße im Gesicht und auf dem T-Shirt, die Smarties langsam an ihrer Wange runtergleitend. Aus dem Augenwinkel sah ich meine Freundin in der Tür stehen. Sie hatte alles angesehen und stürzte nun auf uns zu. Beschämt, entsetzt und traurig schaute ich sie an. Das war’s dann wohl mit unserer Freundschaft. Wie konnte ich nur so aus der Haut fahren und ihre Tochter Eiscreme ins Gesicht klatschen?! Sie musste mich hassen.
Sie kniff den Mund zusammen, griff nach der Tasche die sie mir gegeben hatte und zog Lisa von ihrem Stuhl.
„Danke!“, flüsterte sie leise, ungläubig schaute ich sie an. Sie konnte sich gerade noch ein Lachen verkneifen, „Ich hab mich immer gefragt, was passieren würde wenn ich das machen würde!“, raunte sie mir zu und verschwand mit Lisa Richtung Toilette.
Jetzt wusste ich wozu Lisa noch Wechselsachen brauchte.
 



 
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