Weihnachten im Hinterhaus

„Kauf einen Mistelzweig, das bringt Glück. Wen du unterm Mistelzweig küsst, der verliebt sich“, hatte mir ein bärtiger Mann hinterhergerufen, der auf dem Alex mit seinem Hund auf einer Isomatte neben der Treppe zur S-Bahn sitzt. Mistelzweige waren bei uns im Osten kein Thema, und ich hatte sie noch nie mit Weihnachten in Verbindung gebracht. Kannte sie aber aus meinem Dorf, wo sie überall wuchsen. Das war wieder so eine Wessimode, auf die wir im Osten aufsprangen.

Es ist das Jahr Neunzehnhundertundneunzig und das erste Weihnachten nach der Wiedervereinigung stand uns bevor. Ich komme gerade von einer Schicht in einem Betrieb im Westteil der Stadt. Damals arbeitete ich bei einer Verleihfirma. Fragt mich nicht, was wir eigentlich produziert haben.
Ich legte bloß immer lange Blechstreifen in eine Maschine und stapelte sie auf der anderen Seite wieder auf. Kurz war ich auch am Band, wo nur türkische Frauen arbeiteten. Bei mir häuften sich die Teile, obwohl ich mir Mühe gab.
Sie fürchteten um ihren Akkord, und so wurde ich wieder an meine Maschine zurückgeschickt. „Nicht mal als Bandarbeiterin tauge ich viel“, musste ich mir eingestehen.
Das ging wohl nicht nur mir so. Der Sänger einer bekannten Undergroundband aus dem Osten, die aber seit langem nur noch sehr sporadisch auftritt, schreibt jetzt auch. Ich las bei ihm den Satz: „In keinem Job, den ich hatte, war ich richtig gut.“ Das kam mir bekannt vor. Ein Bruder im Geiste.

„Zwei fünfzig“, sagt der Bärtige mit dem Hund zu mir, als ich einen Strauß Mistelzweige kaufe. Er war wohl mit seiner Kumpelblase in das Berliner Umland gefahren, hatte auf freiem Feld Mistelzweige gepflückt und war damit ins Weihnachtsgeschäft eingestiegen. „Na ja, wenigstens für ´ne Dose Hundefutter wird es reichen“, denke ich. Und sage in zornigem Tonfall zu ihm: "Lasst mich bloß in Ruhe mit Liebe an Weihnachten". Er kuckt mir verblüfft hinterher.


2025
Gestern - Zwölfter Zwölfter - Fernsehprogramm bei google eingegeben. Runtergescrollt. Was sehe ich? Tatsächlich zeigt ein Sender „Glück im Hinterhaus“. Passt zum Datum. Haben sie bestimmt aus der Mottenkiste rausgekramt, weil die Handlung um Weihnachten spielt. Nach diesem Film suche ich schon ewig. Den gibt es bei amazon auch unter prime video, aber man muss deshalb xtra irgendwo Mitglied werden und jeden Monat blechen. Normal, als Leih- oder Kaufvideo, kommt man nicht ran. Ohne mich. Ich bin froh, wenn ich meine laufenden Rechnungen bezahlt kriege.

Also endlich Glücktreffer. Läuft im Fernseher.

Warum bin ich eigentlich so hinter diesem Film her? Nostalgie? Vielleicht. Werde dadurch an den „Filmspiegel“ erinnert, die Zeitung, die ich mir immer Freitag in Stralsund am Bahnhofskiosk kaufte, wenn ich am Wochenende als Lehrling auf Heimatreise dort Aufenthalt hatte.

Dort las ich, dass die DEFA Günther De Bruyns „Buridans Esel“ verfilmt hatte. Ich kannte das Buch durch den Buchclub 69. Dazu, dort Mitglied zu werden, hatte so´ne Art Vertreter meine Mutter überredet. Später verfluchte sie ihre Entscheidung, traute sich aber nicht das Abbonnement zu kündigen.

Warum, weiß ich eigentlich auch nicht. Es kann sein, dass ihre beste Freundin, die auch Lehrerin und Mitglied im Buchclub 69 war, sich darüber gewundert hätte. Ich glaub aber, meine Mutter wollte einfach den Eindruck erwecken, dass sie Bücher las.

Es lief tatsächlich noch bis zur Wende. Dann schickten sie ihr einen Brief, dass der Buchclub aufgelöst war und wünschten ihr alles Gute.
Jeden Monat traf so bei uns ein Buch ein. Meine Mutter, die nie was las, packte es noch nicht mal aus den reißfesten, brauen Packpapier, unter dem sich noch eine Lage geriffelte Pappe befand, aus. Einmal im Jahr gab es einen Geschenkband und alle paar Monate lag ein Literaturzeitschrift bei.

Außerdem hatten alle Bücher ein dickes Nachwort, von dem mir der Kopf rauschte, da es mehr so von Geisteswissenschaftlern für Geisteswissenschaftler war.

Eines Tages also nun „Buridans Esel“. Löste mittelmäßige Begeisterung bei mir aus. Da war ich vielleicht vierzehn. Die Handlung ist schnell erzählt. Älterer Arbeitskollege – verheiratet - mit Praktikantin. Natürlich geht er zur Familie zurück. Alles über Weihnachten, kurz zuvor und danach. Bis zum Frühjahr kommen sie schon gar nicht mehr.

In der BZ – eigentlich übelstes Revolverblatt, lese ich aber trotzdem – haben sie mal ´ne Umfrage unter Passanten gemacht. „Wo habt ihr euren Partner kennengelernt?“, wollten sie von den Leuten wissen. Fazit: Achtzig Prozent auf Arbeit. In meinen Augen ist die Zahl zu geschönt. In Wirklichkeit sind es neunundneunzig.

Na ja, sagen wir fünfundneunzig. Meine Mutter und mein mir unbekannter Erzeuger übrigens auch Kollegen. Mein Freund und ich haben uns auch während meiner Tätigkeit in einem Kiezcafé getroffen.

Also zurück zu unserm Pärchen in dem verfilmten Buch von Günther de Bruyn. Das Buch spielt in Berlin, von dem ich damals, als ich das Buch von dem braunen Packpapier befreite, noch nicht wusste, dass ich da mal lande. In genau so einem Hinterhaus mit Klo eine Treppe wie die Bibliothekspraktikantin. Rohrbruch im Frühjahr inbegriffen. Alles Sachen, an denen die Liebe scheitert. Er ist Eigenheim gewöhnt.

Er kriegt sie genau an Weihnachten rum. Am Vierundzwanzigsten. Sie, zwar allein aber nicht unglücklich, läuft in der Gegend am Monbijou Park herum. Alte Berliner Judengegend.

Er, auf der Suche nach ihr. Da gibt es irgendwie einen Spürsinn, den Verliebte haben. Sie wissen, wo sie sich zu suchen haben. Von allein. Ohne Verabredung. Elektromagnetische Schwingungen, ausgelöst durch Gedanken?

Habe ich mal meinem Nachbarn erzählt,als ich verliebt war: „Ich lauf ihm andauernd über den Weg“. Er darauf: “Kein Wunder. Du denkst ja auch ständig an ihn.“

Jedenfalls finden sich Bibliothekspraktikantin und verheirateter Chef mitten im verschneiten – damals noch – Berlin. Sie macht Nägel mit Köpfen und nimmt ihn mit in ihre Hinterhauswohnung. Fehler? Wen macht der Heilige Abend nicht weich?

Ein paar Jahre, nachdem ich „Buridans Esel“ gelesen hatte, landete auch ich in Spreeathen. Die Stadt faszinierte mich Dorfpommeranze. Meine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, mich durch die Stadt treiben zu lassen. Ohne Plan. Jetzt schon lange nicht mehr. Alles hat seine Zeit.

Ein besonderes Faible entwickelte ich für die Gegend um den Hackeschen Markt. Entdeckte einen winzigen, abgerockten Park mit drei Bänken. Zog mich immer wieder magisch dorthin. Warum, weiß ich nicht. Ich drehte dort glücklich Runde um Runde. So´ne Art innere Einkehr für mich.
In der Mitte des „Parks“ befand sich einsam ein kleiner Gedenkstein. War der von Moses Mendelsohn. Sofort kam mir „Buridans Esel“ in den Sinn. Vom Fester des Hinterhauses konnte man nämlich auf den Mendelsohnstein kucken. Das beschreibt de Bruyn.

Also spielte die Handlung in einem der an den „Park“ angrenzenden Häuser. Ich vermute, dass der Autor früher mal in einem von ihnen gewohnt hat. Es ist ja eine übliche Verfahrensweise, dass Schriftsteller Orte in ihren Werken verwenden, die sehr vertraut sind für sie. Wirkt einfach authentischer.

Und das Merkwürdigste kommt ja erst. Nach der Wende erst erfuhr ich aus einer Zeitung, dass dieser von einer Mauer eingefasste „Park“, keiner war, sondern die älteste Begräbnisstätte der jüdischen Gemeinde.
War aber schon vor langer Zeit aufgegeben worden, da zu klein geworden. Später von den Nazis geschliffen. „Habe ich die geheimnisvolle Aura dieses Ortes gespürt?“, geht mir durch den Kopf. „Kann es so was wirklich geben?“ Auf alle Fälle keine schlechten Schwingungen, denn ich kann mich erinnern, dass ich dort immer wunschlos mit allem eins war.

Vor einiger Zeit wollte ich dort mal wieder hin. Was musste ich erleben? Abgesperrt. Kein Reinkommen. Ein dicker Zaun ringsrum. Jetzt wo sie so ein Heck-Meck mit dem Judentum machen, im Osten war das kein Thema, haben sie wohl ein bisschen überreagiert. Das war ja im Prinzip bloß ´ne Grünfläche mit Parkbänken, die von den Leuten zur Entspannung vom Großstadtlärm genutzt worden ist. Heute alles vergittert.

Schon wieder vom rechten Weg abgekommen. Es sollte doch um dem Film gehen. Glück im Hinterhaus. Die Hauptdarstellerin im typischen DDR-Intellektuellentussisoutfit der Siebziger. Lange Haare, langer Pullover. Die Wohnung im Hinterhaus, das Treppenhaus kommt mir sehr bekannt vor. Die Liebesszenen sind gut. Der Hauptdarsteller gefühlt in jedem zweiten DDR-Film zu sehen.

Seine Geliebte sehr hübsch. Die Schauspieler schaffen es, ein echtes Gefühl rüberzubringen. Was gar nicht mal so einfach ist. Vielleicht hatten sie wirklich was miteinander. Wenn man mal von den Darstellern und der gefilmten Umgebung im Stadtbezirk Mitte, lange vor der Wende, absieht, ist das trotzdem kein guter Film. Nur etwas für Enthusiasten oder solche, die das Buch kennen.

Der Grund? Antwort: Die ewigen Parteisekretäre. Fehlen in keinem Film aus dem Osten. Auch hier wieder. Ohne die Jungs auf die Leinwand oder auf Buchseiten zu bannen, hat man in der DDR wohl keinen Film oder kein Buch durch die Zensur gebracht.

Auch in „Glück im Hinterhaus“ wieder zwei von dieser Spezies am Start. Einer klein und spillerig, der andere rothaarig, breitschultrig und gutmütig. Diese beiden Schauspieler wurden übrigens immer für solch eine Rolle besetzt.

Fleißig wird sich von der Parteileitung in das Sexleben ihrer Mitglieder eingemischt. Vielleicht ist die Mauer auch deshalb gefallen. Weil die Leute das satthatten, dass in ihren Betten geschnüffelt wird. Sie wollten bumsen, wen sie wollten.

Da fallen mir Parallelen zu meiner Mutter auf. Als sie mit meinem Vater, einem Lehrerkollegen, der Frau und Kinder hatte, ein Verhältnis begann, mussten sich beide vor der Schulleitung verantworten. Er wurde strafversetzt in einen Jugendwerkhof, wo er sich um schwererziehbare Jugendliche kümmern musste.
Meine Mutter dagegen wurde in ein anderes Dorf versetzt, weit weg von ihm. Es hieß: „Ein Pädagoge muss Vorbild sein und darf nicht fremdgehen“.
Warum der Film? Heimlich Sehnsucht nach der DDR? Trotz Parteisekretären. Vielleicht. Mein Land plötzlich untergegangen. Hat man wohl manches verdrängt.

Anderer Grund. Wenn ich den Film sehe, werde ich wieder siebzehn. Alles liegt vor mir. Angeblich.

Neuer Anlauf, einen sinnvollen Schlussteil zu verfassen: Auch mir Ähnliches widerfahren an Weihnachten wie im Film der Praktikantin. Am Vierundzwanzigsten stand unverhofft Besuch vor der Tür. Ich hatte ihn, der in einer anderen Stadt wohnte, vier Monate zuvor auf einem Konzert in der Nähe von Berlin kennengelernt.

Ein Openair in einem Städtchen im Speckgürtel von Berlin.
Es waren die Achtziger, in denen wir noch ein Arbeiter-und Bauernstaat waren.

Donnerstag Metal, Freitag Punk, wo übrigens auch die Independetband, deren Sänger ich erwähnte, auftrat. Ich staunte, dass am Freitag früh alle Metaller das Gelände verließen, und am Sonnabend vormittags alle Punks abfuhren. „Selber Außenseiter, aber völlig intolerant anderen Musikrichtungen gegenüber“, dachte ich. Die einzigen, die blieben, waren wir, denn am Sonnabend war unsere Musik, der Blues, dran.

Außerdem waren unter uns die tolerantesten Musikfans ever. Eigentlich hörten die meisten von meinen Kumpels alles. Was vielleicht auch ein bisschen übertrieben ist.
Vielleicht gehe ich da zu sehr von mir aus. Mit meiner Vorliebe für Black-und Deathmetal stand ich doch unter meinen Kumpels ziemlich allein da.
Ich für mein Teil wunderte mich immer, was die einzelnen Gruppierungen angeblich voneinander unterscheiden sollte und warum sie sich vielleicht nicht gerade spinnefeind waren, aber sich gerade mal so tolerierten. Meist bestanden sie aus intelligenten jungen Leuten, die es nicht einfach hatten und nicht so völlig ins System reinpassten und waren sich ziemlich ähnlich.

Seitdem nicht mehr gesehen. „Ich musste immer an dich denken“, sagte er. Hört man natürlich gern, und außerdem war Weihnachten. Er war einer, für den die Bezeichnung Intellektueller zutrifft, auch wenn er erst Anfang Zwanzig war. Auch sein Elternhaus war so.

Das Problem: Wir kannten uns gar nicht. Für mich war er ein fremder Mann.
Ein Unbekannter, der einem in der U-Bahn gegenübersitzt. Scheinbar waren wir jetzt plötzlich ein Paar. Ich hatte Bedenken, ob das gut gehen kann, denn dass sowas sich erst entwickeln muss, war mir schon klar. Ist ein komplizierter Prozess.
Ich hatte da immer zwei aus meiner Lehre vor Augen. Anderthalb Jahre hatte er um sie, die zuerst nichts von ihm wollte, gekämpft. Dann, während einer Klassenfahrt, standen die beiden die ganze Nacht Hand in Hand, ganz in sich versunken auf dem Gang vor dem Zugabteil und starrten, ohne zu reden, in die Nacht, die vor dem Fenster an ihnen vorbeirauschte. „Die Sprache der Liebe scheint Schweigen zu sein“, ging mir durch den Kopf.

Unsere Lovestory spielt Ende der Achtziger im Prenzlauer Berg, Seitenflügel, vier Treppen. Nähe Greifswalder. Die Mauer gibt es noch. Parallele zum Film: Ungeheizter Ofen, da bietet sich doch das warme Bett geradezu an. Waschen musste man sich auch in der Spüle, was für ihn ungewohnt war. Bloß bei uns kein Schnee wie in dem Film. Klimawandel. Hat aber bei uns beiden auch nicht bis zum Frühling gedauert, sondern ging im feuchtkalten Berliner Winter perdú. So wie bei „Glück im Hinterhaus“. Jetzt die Erinnerung daran auf immer mit dieser Wetterlage verknüpft. Das letzte Mal sah ich ihn im Februar. Plötzlich ließ er sich nicht mehr blicken.

Er machte es wieder so, wie damals nach dem Konzert. Er ging einfach. Aber da war es nur ein One-Night-Stand im Zelt. Jetzt was ganz anderes. War wohl ein Verhaltensmuster bei ihm, dass sich wiederholte. "War mir nicht so wichtig", sagte er, als ich ihn doch mal wiedersah nach Monaten und zur Rede stellte.
Nahm ich jetzt weniger locker, als es sich anhört.

Guter Rat: Weihnachten Finger weg von neuen Liebesgeschichten. Warum? Einfach weil Weihnachten jedes Jahr ist.
Und jedes geschlagene Jahr Ende Dezember immer Hass und Wut, die einem die Laune verderben, wer will das. Weihnachten ist ´ne ganz andere Hausnummer als Ostern. Hat was eigenes. Dann ist auf ewig die Erinnerung an eine unverarbeitete Niederlage mit der Stimmung zu Weihnachten verknüpft. Jahrzehnte können ins Land gehen, ohne dass sich daran was ändert.

Epilog
Die Waffe schmiegt sich angenehm an meine Wange, angenehm deshalb, weil ihre Kühle mir suggeriert, dass der Tag der Rache endlich angebrochen ist. Ich habe mich vorbereitet, indem ich wochenlang in der Wuhlheide Schießübungen gemacht habe.
Ich sehe durch das Fadenkreuz des Zielfernrohrs. Wie ich dieses Gesicht hasse.
Die Präzisionswaffe hatte ich aus dem Rucksack herausgenommen und mit geübten Handgriffen zusammengesetzt.
Genauso wie der Auftragskiller in dem Film* mit Jacques Brel, dem er in die Quere gerät, und der den Präsidenten erschießen soll. „Mir kommt keiner in die Quere“, denke ich. Ich führe meine Mission aus. „Was in aller Welt hat dein potentielles Opfer getan?“, wird viele interessieren.
„Nicht mehr und nicht weniger, als dass er mir Weihnachten versaut hat. Auf ewig“, ist meine Antwort.
*Die Filzlaus
 
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