Welt-Einfaltung, Welt-Ausfaltung; ein Sonettenpaar

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mondnein

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I. Welt-Einfaltung

Philosophemur - laß das Welt-Einfaltungs-Spiel
Uns treiben: Alles, was Du siehst, erfährst und kennst
Da draußen, was Du wirklich, stofflich, sinnlich nennst
Sei Selbstberührung eines Geistes, der, wie blind, sein Ziel​

Darin wohl sucht, all das, was ihm noch nicht bewußt
Und schwer zu lösen, als Problem, verzwickt, verrückt
Als Rätsel sich zu stellen: In sich selbst verstrickt
Stülpt Selbstverständlichkeit sich um zu Fremdheit - Selbstverlust​

Und in den Welten, die bewußt Dein Ich umfängt
Wie Knospenhüllen Blätterfalten dichtgedrängt
In sich zusammenzwängen, bin auch ich mit meiner Welt​

Enthalten. Aber mein Bewußtsein schließt auch Dich
Mit Deiner Welt in sich, so wie Dein Ich auch mich;
Und ich bin, der Dich, die mich in sich birgt, in sich enthält​



II. Welt-Ausfaltung

Ein winterliches Bild hast du dir vorgemalt
Wo Blätter fest in Lederhüllen eingepreßt
Drauf warten, daß man aus der Enge sie entläßt
Die Schicht um Schicht so dicht in Schalen eingeschalt

Hast du vergessen die Gefahr, nimmst nicht inkauf
Daß, was in süßem Schlaf noch ineinanderklebt
Sich auseinander schiebt und auseinanderstrebt?
Die Innen-Außen-Innenwelten brechen auf

In sanften Keimen erst, dann wuchern wild und frei
Die Sprossen, grün und bunt, und blühn - und schon vorbei - -
Was war da noch? Kein Wesen schaut ins andre rein

"Monaden haben keine Fenster." - Ach wie gern
Fühlt ich in Dir mich, Dich in mir - unendlich fern
Und fremd - sind "wir"? Sein All ein jeder ganz: allein.


 
Zuletzt bearbeitet:

sufnus

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Hey Hansz,
da tischst Du dem verwirrten Lesepublikum geballte Gelehrsamkeit in streng gefügter Form auf. Und beides, der denkverzwickte Inhalt und die strenge Form, steigern in harmonischer Wechselwirkung die Sperrigkeit des Textes für das nichtsahnend (nichts-ahnend? nicht-sahnend?) vorbeiflanierende Lesevölkchen. Um nur zwei kleine, formale Sperrigkeitseffekte herauszugreifen:
Beim ersten Sonett sind jeweils die Schlussverse jeder Strophe mit sieben Hebungen gesegnet, was den Bogen der Üblichkeit schon etwas überdehnt, sind doch bei endgereimten, metrisch gebundenen Gedichten normalerweise sechs Hebungen das äußerste der Gefühle (und häufig genug "zerfallen" die beim Vortrag in zwei imaginäre Halbzeilen à drei Hebungen - beim Alexandriner ist das sogar formale Geschäftsgrundlage).
Und das allererste Wort des ersten Sonetts bringt das um metrischen Vortrag bemühte Lesegehirn womöglich bereits nachhaltig in Verlegenheit: "Man" kennt durchaus das Wort Philosoph, auf der ersten und dritten Silbe betont: "Dem Phílosóph ist níchts zu dóóf" (= Jambus), und versucht dementsprechend das (mutmaßlich unbekannte) Wort philosophemur genauso zu betonen, was zu furchtbarem Schiffbruch führt (si tacuisses!) ;) .
Diese Sperrigkeit, die dann noch so nachhaltig durch den verwickelten Gedankengang befördert wird, spricht aber natürlich nicht gegen die Verse. Ein bisschen erinnert mich dieses Doppelgedicht in seiner geistesvolten schlagenden Kapriolizität an gewisse Sonette vom guten alten Will - und das ist jetzt nicht das schlechteste, was man von einem Sonett sagen kann. :)
Für eine Literaturzeitschrift wäre es wiederum formal zu "traditionell" gestaltet, aber hier sind wir ja unter uns und den Zwängen des Literaturmarktes enthoben.
Sehr gerne gelesen! :)
LG!
S.
 

mondnein

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Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft:

Seneca et hoc genus omne
Das schreibt und schreibt sein unaussteh-
lich weises Larifari,
Als gält es primum scribere,
Deinde philosophari.
"philosophemur"
ist 1.Person Plural Präsens Konjunktiv von dem Deponens "philosophari",
und weil die vorletzte Silbe lang ist - mit dem Konjunktiv-e der A-Klasse - kommt man schon zu Beginn ganz regulär in den Trijambus hinein.
"Laß uns Philosophie treiben" (ein Adhortativ, d.h. eine Selbstaufforderung)

Solls geben: Leute, die dem Kant und dem Leibniz hinterherdenken, oder auch schon mal selbst vor- und nachdenken, wie der Solipsismus der rationalistischen und nach Kant dann der transzendentalen Idealisten sich mit der Vielheit der kommunizierenden Bewußtseine vereinbaren läßt. Ist doch interessant, oder etwa nicht?

Allerdings mußte ich schon zu dem großen Kant-Jubiläum vor ein paar Wochen überall nachlesen, - nein! suchen und nicht finden:
Daß kein Schwein auch nur mit einem einzigen Wort die sogenannte "Kopernikanische Wende" der Kantschen Erkenntnistheorie auch nur erwähnt hat, geschweige denn genannt, oder gar erläutert und in ihrer explosiven Kraft durchdiskutiert hat.

Dieses Doppelsonett entstand allerdings vor dem großen Jubiläumsjahr.
Bogen der Üblichkeit
d.h. die Üblichkeit ist spannungslos, man kann keinen Pfeil mit ihr abschießen. Verflucht übel, diese Üblichkeit.

grusz, hansz

P.S.:
Danke, sufnus, ich dachte schon, das wird das vierte Gedicht von den vier letzten, das ohne Kommentar ins Blaue verschwindet. Wie üblich.
 



 
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