petrasmiles
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Ich stelle hier einen alten Text von mir ein, den ich vor 19 einhalb Jahren (01.09.2005) hier für die Leselupe schrieb, und der leider durch die Entfernung der Rubrik 'Essays, Rezensionen, Kolumnen' zwar noch unter meinen Werken aufgeführt wird, aber nicht mehr aufrufbar ist. Ich mach das deshalb, weil in den letzten Jahren mein Schlusssatz daraus mir immer wieder in den Ohren klingelte und ich erkannte, dass er bei all seiner Zeitgebundenheit allgemeingültige Aussagen enthält, die nicht nur das grundsätzliche Geschehen betrifft, sondern uns heute vielleicht sogar mehr.
Der Text steht zum einen unter dem Eindruck von Dokumentationen zu dem Völkermord in Ruanda 1994 und den Schlüssen, die ich damals aus den Faktenanalysen zog, bezieht sich zum anderen auf die damalige politische Situaton, die Transformationen nach Ende des Kalten Krieges und die unguten Vorzeichen einer globalisierten Wirtschaft und der Anonymisierung des Kapitals.
Damals hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, einer Selbstvernichtung 'des Westens' beizuwohnen und ich sah die Menschen noch in ihrer existentiellen Unsicherheit erstarrt.
Heute trumpfen diese Menschen auf, wählen Kriegstreiberparteien, wähnen sich im Kino, wo das Böse zur Strecke gebracht wird und das Gute siegen wird.
Und selbstredend wähnen sie sich auf der Seite der Guten - und mögen hoffen, dass die Söhne und Töchter der anderen sterben oder verstümmelt werden, und dass die Häuser der anderen zerstört werden, dass sie sich in ihrem warmen Haus verbarrikadieren können, während die Kolonnen der Elenden stumm an ihnen vorbeiziehen.
Irgendwohin. Nur nicht in Sichtweite.
Nach fast zwanzig Jahren möchte ich eigentlich weinen, dass es nicht besser, sondern unvorstellbar schlimmer geworden ist und wir müssen dringend herausfinden, wie es geschehen konnte, dass so viele Menschen das Blut nicht sehen, dass schon an ihren Händen klebt. Fangen wir ganz einfach an: Frieden nutzt uns allen!
Ruanda 2004 Eingestellt am 01. 09. 2005 22:17
Von Tragödien, Verantwortung und
(Ge-)Wissen (Ruanda-Nacht im WDR)
Das Wenigste, das man als Zeitzeuge den Opfern schuldet, ist zu wissen, was geschah. Ist zu fahnden, wie es passieren konnte. Ist zu überlegen, was das mit einem selbst zu tun hat.
Ruanda. Und ein alter Konflikt. Die Belgier als Kolonialmacht, die damals die Minderheit der Tutsi aufgrund ihrer Körpergröße den Hutu überlegen definiert hatten, und sie zu den Aufsehern über die auf den Plantagen schuftenden Hutu gemacht hatten. Viehzüchter überlegen den Ackerbauern. Kain und Abel. Anders herum. Wie so vieles in Afrika.
Das soziale Gefüge geriet aus der Balance. Nicht zum ersten Mal waren die Europäer verantwortlich für die Schieflagen einer bis dahin relativ friedlichen Koexistenz.
Die Tutsi kamen zu Wohlstand und Einfluss; die zu Unterlegenen gemachten Hutu wurden zur leichten Beute von Demagogen, denen Instabilität nützt. Der Konflikt entwickelte Permanenz; nicht unbedingt zwischen den Menschen, die auch untereinander heirateten.
Der Gewaltpegel war schon angestiegen, wodurch die Uno eine Friedensmission ins Land sandte – eine Friedensstifter-Mission nach UN Charta § 6. § 7 wäre mit Eingriffsmöglichkeit gewesen.
Die politischen Kräfte hatten sich verschoben; Hutus hatten das Sagen. Viele von ihnen gemäßigt und bereit zu Koexistenz. Einige wenige mit Völkermord im Sinn. Ein Bruder der Frau des Hutu-Präsidenten eine zentrale Wolfsgestalt.
Das Grauen lässt sich einfach deklinieren: Ein bisschen Pech hier durch das vorangegangene Somalia-Debakel; in der Weltöffentlichkeit, bei den Nationen, die Truppen zur Verfügung stellen müssten. Ein bisschen zuviel Vorschriftengläubigkeit, Technokratenmentalität, Politikermentalität, Diplomatenmentalität bei der Uno. Viel Dunkelheit in den Herzen derer, die als Miliz die Säuberung durchführen sollten. Eine halbe Million Macheten, an denen jemand verdient hat. Zum Schluss wurde auch der Präsident aus New York kommend, wo er eine Wiederaufnahme der Politik der Koexistenz versprochen hatte, bei seiner Landung in Kigali ermordet. Der Wolf hatte das Sagen.
Das sich entwickelnde Drama offenbart bei vielen, vielen Einzelpersonen und Entscheidungen Feigheit, Ichbezogenheit, Dummheit, ohne dass einer von ihnen ein bewusstes Todesurteil über 800.000 Menschen hätte fällen wollen. Aber so ist es doch immer.
Wer hätte auch damit rechnen sollen, dass da jemand die Ausrottung generalstabsmäßig plante, selbst die Nazis an Effizienz überträfe und 100 Tage reichen würden, Völkermord zu begehen?
Wie müßig, die vielen kleinen Fehlentscheider zur Verantwortung ziehen zu wollen oder als Schuldige auszumachen.
Wie hätte ich als Verantwortlicher entschieden? Bin ich weniger schuldig, weil ich keine solche Verantwortung tragen möchte? Bin ich nicht direkt oder indirekt verantwortlich, wenn ich es zulasse, dass unfähige Menschen die Verantwortung an meiner Statt übernehmen? Sind es nicht immer die Selbstverweigerer, die durch ihre Abwesenheit das reinste Gewissen zur Schau stellen können, und andere beschuldigen?
Andere Bilder; andere Menschen, Opfer.
Die in Deutschland lebende Tochter eines Opfers trifft sich in ihrer Heimatregion mit dem bereits inhaftierten Hutu-Mörder ihrer Tutsi-Mutter. Der Mann ist kein Milizionär, ein Dorfbewohner wie ihre Mutter.
Ob das ihre Idee war? Ob sie ohne die Medien-Macht dazu Gelegenheit bekommen hätte?
Der Mörder ist ein überraschend sanft wirkender, stets verlegen lächelnder, dünner Mann. Sehen die Mörder nicht immer aus wie du und ich?
Er sagt, nachdem die aus dem Dorf zu einem Massengrab verschleppten Bewohner schon getötet worden seien – von den Milizen - sei die Mutter mit einer Thermoskanne für ihren mitabgeholten Sohn aufgetaucht. Sie wurde von den Milizen aufgefordert, sich zu den anderen zu legen. Er sei gezwungen worden, die Frau zu erschlagen, mit einer Axt. Wenn er es nicht täte, so würde man ihn auch töten. So sagt er. Warum war er überhaupt dort? Wer wird beurteilen können, ob er die Wahrheit sagte. Welchen Grund sollte er gehabt haben, die alte Frau zu töten, die er gut kannte, die ihm eine hilfsbereite Nachbarin gewesen war. Aber viele seiner Antworten klingen einstudiert, formelhaft.
Später wird er zu sechs Jahren verurteilt werden, wovon er vier schon in Haft verbracht hat. Wer will sich empören, dass er wieder frei kommen wird? Warum glauben so viele Menschen, sie seien gefeit davor, sich in solchen Situationen schuldig zu machen. Wo beginnt die Schuld? Bei dem, der die Axt schwingt?
Ruanda ist ein weiteres Lehrstück darüber, wie Arroganz, Ignoranz, Feigheit, Desinformation und Schweigen, aus einer Kette von Handlungen, die an sich noch nicht geeignet wären, die Tragödie in Gang zu setzen, durch eine kleine Prise von bösem Willen, dem Wunsch nach Zerstörung, das Leben vieler Unschuldiger zum Opfer fallen.
Aber versetzt die Tatsache, Opfer geworden zu sein, das Wirken des späteren Opfers in den Stand der Unschuld? Vielleicht war einer unter ihnen, der aufgrund seiner herausragenden Position die Macht gehabt hatte, eine Vielzahl von Hutu zu demütigen.
Ursache und Wirkung lassen sich nicht mehr auf Personen herunterbrechen. Das Konzert ist nicht mehr dirigierbar. Wer am einen Ende des Handlungsknäuels mitwirkte, weiß nichts von den Bemühungen an anderer Stelle, die sein Handeln im Augenblick des Geschehens zunichte machen können. Nur aus dem Rückblick erscheinen die einzelnen Stationen der Tragödie und ihre Akteure klar und offensichtlich, fest positioniert wie Perlen auf der Schnur.
Es ist unser eigenes, unbewusstes schlechtes Gewissen, das Steine werfen möchte auf die ‚Schuldigen’. Das ist die eigentliche Aufgabe der Gerichte – und der Medien. Wie im Theater oder im Kino wünschen wir uns, dass der Schuldige zur Strecke gebracht wird und seine verdiente Strafe erhält – am besten noch selbst ausgemerzt wird, damit wieder Friedhofsruhe herrscht. Bis zum nächsten Mal.
Aber was ist die Lehre aus den immer wieder die Geschichte bevölkernden traumatischen Abschlachtungen?
Diese Lehre wird nicht gezogen, nicht erarbeitet, nicht vermittelt. Mit den Gedenkritualen für die Opfer und der Bestrafung der Täter gehen wir wieder zur Tagesordnung über.
Dabei ist diese Lehre so einfach und so übergreifend wirksam – alle Menschenleben betreffend, alle Regierungen. Bestimmender Faktor ist die Stabilität eines Gemeinwesens. Heute hier, morgen da, vielleicht schon morgen wieder hier.
Die Lehre betrifft auch nicht nur die da drüben oder da unten. Sie geht uns alle an!
Die allererste und oberste ist die der Notwendigkeit von Breitenbildung. Nur Bildung, insbesondere politische Bildung, wie sie Deutschland nach dem Krieg erfuhr. Die heutige Jugend muss sich auf Produktnähe trimmen; Mensch werden ist kein akzeptables Ziel mehr. Das braucht zuviel Zeit. Bevor sie selbst eine Chance haben, herauszufinden, wer sie sind, müssen sie verstanden haben wer – oder besser was - sie sein sollen, um auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben. Effizient für den Markt, aber keine Grundlage effektiver Lebensplanung. Politische Bildung verkommt zu anspielungsreichen, unglaubwürdigen weil halbherzigen politischen Festtagsreden, die sie nicht mehr betreffen, nicht mehr nachvollziehbar sind. Dabei wäre es heute genauso wichtig, ein Bewusstsein herzustellen, dass es der einzelne nur der Gunst der Stunde verdankt, nicht Opfer geworden zu sein, nicht Täter.
Politische Bildung macht weniger anfällig für Demagogie. Sie kann überzeugen, dass zwischen Unschuld und Schuld nur ein kleiner Schritt liegt, und dass viele ihre Unschuld nur einem Zufall verdanken, nicht der Vorbildlichkeit ihrer Gedanken und Handlungen.
Eine andere Lehre: Die Bankrotterklärung jeder Ideologie nach Beendigung des Kalten Krieges hat ein Vakuum geschaffen, in dem Solidarität, Gemeinwohl als Politik- und Gesellschaftsziel erstickt sind. Das Erbe des Sieges vom Kapitalismus amerikanischer Prägung hinterlässt eine Wertewüste und überschwemmt den Globus: Eigennutz, Besitzstreben, Machtstreben. Nach den Werten, die übrig geblieben sind, die diese Bezeichnung nicht verdienen, ist jederzeit die Ausrottung der Indianer in den Amerikas, die Judenverfolgung und –vernichtung in Europa, der Völkermord in Afrika denkbar. Woher soll der Widerstand kommen, wenn jeder nur mit sich selbst beschäftigt ist – und - wenn es sich lohnen würde, Karriere, Einkommen, Status brächte.
Globalisierung ist der Tarnname für den laufenden Prozess, den Sieg der nicht mehr nationalen Wirtschaft über die nationalen Gesellschaften zu verschleiern. Was ist Globalisierung anderes als Anonymisierung und Internationalisierung der Produktivkräfte eines Staates? Menschen, Gesellschaften hilflos gegenüber der einen großen Ungerechtigkeit, das sich Teile der Menschheit, immer öfter wirtschaftliche Abstraktionen, zu Lasten aller anderen sich die Welt unter den Nagel gerissen haben. Etwas wird nicht dadurch besser, dass es schon lange her ist, und endlos wiederholt wird – wenn die Klammer nicht mehr funktioniert, dass Eigentum verpflichtet.
Die Politik heute im Westen dient sich der Wirtschaft an zu Lasten der Bürger. Es ist kein Staatsziel mehr, eine breite Zufriedenheit herzustellen. Es wird billigend in Kauf genommen, dass immer mehr immer öfter immer härter hinten runter fallen.
Die Folge wird steigende Kriminalität sein. Der Boden wird bereitet für Demagogie, für Zerstörung, für Kaltherzigkeit. Nährboden für eruptive Entladungen. Trivialisierung des Menschen.
Die Lehre ist, dass wir uns über diese Zusammenhänge Klarheit verschaffen müssen. Dass wir uns wehren müssen, wenn wir als Bevölkerungsteile polarisiert werden sollen, in dem der eine Teil aufgestachelt wird, einem anderen Teil die Sozialhilfe zu missgönnen, während sich Technokraten in Wirtschaft und Politik die Taschen füllen, Karriere machen, sich für Eliten halten. Es geht um unsere Köpfe, um unsere Herzen. Wir müssen hinschauen. Hier. Uns nicht aufhetzen lassen gegen Alte und Kranke, gegen Ausländer. Gegen Arbeitslose. Gegen Sozialhilfeempfänger. Die Vertreter des Un-Werte-Systems führen uns nacheinander auf die Schlachtbank. Heute applaudieren wir noch der Entwürdigung von Asylanten, Alten, Kranken, sozial Schwachen. Wir stimmen zu, dass sich das unser Staat alles nicht mehr leisten kann. Wird uns tagtäglich erzählt. Indem auch uns Liebgewordenes gestrichen wird, glauben wir um so willfähriger.
Morgen applaudiert man unserer Verstümmelung, wenn wir keine Rente mehr beziehen, die uns unser Leben fristen lässt.
Die alltägliche Bedrohung durch Kürzungen, Streichungen, Privatisierung, gilt nicht mehr den Schwachen; sie gilt schon lange – vielleicht von Anfang an – denen, die noch etwas zu verlieren haben. Die Appellation an den Eigennutz ist noch immer die Wirksamste. Das Herunterbeten der Verschärfungen für Arbeitslose. Der Ruin, der den meisten vor Augen geführt wird – ihr Ruin als wertvolles Mitglied der Gesellschaft – herabgewürdigt zu Sozialhilfe, die ihnen dann auch noch die Existenzgrundlage nimmt. Durch die Lockerung der Schutzgesetze, die Ausbreitung von befristeten Verträgen, der Anstieg der Neugründungen aus Insolvenzen mit geschrumpften Mitarbeiterzahlen, die Betriebsübergänge nach Verkauf von Unternehmensteilen, die Ausdehnung von geringfügigen Beschäftigungen, wird es immer mehr treffen.
Die Zahl derer, die durch eine abhängige, unbefristete Beschäftigung ihren Lebensunterhalt verdienen und auf eine Rente hoffen können, die ihren Lebensunterhalt sichert, die in die Sozialkassen einzahlen, wird tendenziell sinken. Die Solidargemeinschaften sind dem Tode geweiht. Sozial Schwache zu Schmarotzern herabgewürdigt. Das Gerede über die Ausweitung von Zumutbarkeit von Arbeit, dient nur der Gefügigmachung der arbeitenden Bevölkerung bei gleichzeitiger Polarisierung innerhalb der Bevölkerung. Diese Regelung wäre nur dann eine wirkliche Arbeitsmarktstrategie, wenn 4,6 Mio. Arbeitslosen 4,6 Mio. offene Stellen gegenüber stünden. Jeder weiß, dass dies nicht so ist. So entlarvt es sich als Instrument der Einschüchterung derjenigen, die Arbeit haben. Zitternd aber bereitwillig sehen sie zu, wie eine Säule nach der anderen ihres Selbstverständnisses, ihres Selbstwertgefühls, dem Gefühl ihrer Lebenssicherheit, Permanenz ihrer Bemühungen, Sinnhaftigkeit, des Bewusstsein, selbst ihr Leben zu bestimmen, demontiert werden.
Wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklung. Noch glauben wir, dass uns persönlich niemand etwas Böses will. Das wollen Technokraten nie. Sie wollen nur ihren Job gut machen. Effizient sein. Es ist nicht ihre Schuld, dass es keine übergreifenden Werte jenseits des Eigennutzes mehr gibt. Das ist unsere eigene Schuld. Wir lassen uns zu jeder Zeit, immer wieder, tendenziell steigend, unseren Schneid abkaufen.
Wir stellen uns nie die Frage, wem das alles nutzt, solange wir nur auch Nutzen davon haben. Der Nutzen wird um so wertvoller, je flüchtiger er zu werden droht. Wir sind durch unsere Verlustangst korrumpierbar geworden.
Wem nutzt es, das wir durch die Verschärfung des Lebenskampfes, und sei es bisher nur in unseren bangen Herzen, nur am Rande wahrnehmen, dass der abhängig Arbeitende selbst zum Paria des Wirtschaftssystems wird. Dass die Börse Stellenabbau feiert, dass nicht mehr die Produktion, die Nationalökonomien und Gesellschaften nutzt, das gedeihliche Klima der Wirtschaft bestimmt, sondern wenn Geld Geld macht. Wem nutzt das?
Es können nur wenige sein, die so viel Geld haben, dass sie zu den großen Gewinnern zählen. Ist es nicht schon von Technokraten verwaltetes, anonymes Kapital, das diese zerstörerische Wirkung hat? Die vom Profit, von der Kenntnis der Regeln, von der Macht, sie anzuwenden, ein bisschen für sich selbst abzweigen können? In diesem Umfeld gibt es viele Helfer.
Heute sitzen die Arbeitenden und die kleinen Unternehmer und der Mittelstand in einem Boot, das Nationalökonomie heißt. Haben sie das schon bemerkt? Diejenigen, die nur ihre eine Haut zu Markte tragen können, und diejenigen, die sich bemühen, aufgrund ihrer ererbten Überlegenheit, sei es durch Kapital, eine Firma, oder eine besondere, gewinnträchtige Begabung, die ihren Selbstwert einbringen, die etwas zum Gemeinwohl beitragen wollen, die sich so vollständig einbringen wollen, wie es die Arbeitenden müssen, wissen sie, dass sie einer Fraktion angehören? Dass sie sich denen gegenüber sehen müssen, die sich nicht selbst einbringen? Die nichts riskieren. Die Entscheidungen treffen dürfen, die sie nicht ausbaden müssen? Die so weit entfremdet sind von den natürlichen Gesetzen des Überlebenskampfes, dass sie Monopoly spielen müssen, um sich lebendig zu fühlen. Die viele Nullen hinter der 1 bewegen müssen, um sich zu beweisen, das sie etwas wert sind? Die sich überlegen fühlen dürfen, weil sie auf die Ameisen, die wir aus ihrer Perspektive sind, herabsehen können?
Aber wissen sie denn, was sie tun? Erschöpft sich ihre Übersicht, die sie für umfassend halten, nicht in der Wiederholung überholter Regeln, deren Konsequenzen sie gar nicht mehr sehen können, die sie auch nicht wahrhaben wollen?
Der Banker im Wolkenkratzer sieht auf die Kriminalität in den Ghettos aus dem Blickwinkel der Elite auf den geborenen Looser, der die Regeln nicht lernte.
Wird er je reflektieren, dass es seine Entscheidungen sind, die dieses Messer dort, diesen Revolver da in die Hände eines sich selbst Entäußerten gelegt haben könnte? Wohl kaum.
Wer sind die Tutsi, wer die Hutu von morgen?
Jeder einzelne Mensch hat mehrmals täglich die Wahl, wer er sein will, wer er ist. Jeder einzelne ist permanent aufgefordert, Position zu beziehen, für was er steht.
Man braucht keine Bildung, um diese Zusammenhänge zu verstehen. Man muss nur Mensch unter Menschen sein wollen – etwas, was wir alle doch am besten können. Wenn wir uns nicht ablenken lassen. Wenn wir uns nicht von anderen unseren Wert beimessen lassen. Wenn wir uns nicht auf unseren Überlebenskampf reduzieren lassen.
Wenn wir uns nicht einreden lassen, dass unser Nachbar unser Feind ist.
Der Text steht zum einen unter dem Eindruck von Dokumentationen zu dem Völkermord in Ruanda 1994 und den Schlüssen, die ich damals aus den Faktenanalysen zog, bezieht sich zum anderen auf die damalige politische Situaton, die Transformationen nach Ende des Kalten Krieges und die unguten Vorzeichen einer globalisierten Wirtschaft und der Anonymisierung des Kapitals.
Damals hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, einer Selbstvernichtung 'des Westens' beizuwohnen und ich sah die Menschen noch in ihrer existentiellen Unsicherheit erstarrt.
Heute trumpfen diese Menschen auf, wählen Kriegstreiberparteien, wähnen sich im Kino, wo das Böse zur Strecke gebracht wird und das Gute siegen wird.
Und selbstredend wähnen sie sich auf der Seite der Guten - und mögen hoffen, dass die Söhne und Töchter der anderen sterben oder verstümmelt werden, und dass die Häuser der anderen zerstört werden, dass sie sich in ihrem warmen Haus verbarrikadieren können, während die Kolonnen der Elenden stumm an ihnen vorbeiziehen.
Irgendwohin. Nur nicht in Sichtweite.
Nach fast zwanzig Jahren möchte ich eigentlich weinen, dass es nicht besser, sondern unvorstellbar schlimmer geworden ist und wir müssen dringend herausfinden, wie es geschehen konnte, dass so viele Menschen das Blut nicht sehen, dass schon an ihren Händen klebt. Fangen wir ganz einfach an: Frieden nutzt uns allen!
Ruanda 2004 Eingestellt am 01. 09. 2005 22:17
Von Tragödien, Verantwortung und
(Ge-)Wissen (Ruanda-Nacht im WDR)
Das Wenigste, das man als Zeitzeuge den Opfern schuldet, ist zu wissen, was geschah. Ist zu fahnden, wie es passieren konnte. Ist zu überlegen, was das mit einem selbst zu tun hat.
Ruanda. Und ein alter Konflikt. Die Belgier als Kolonialmacht, die damals die Minderheit der Tutsi aufgrund ihrer Körpergröße den Hutu überlegen definiert hatten, und sie zu den Aufsehern über die auf den Plantagen schuftenden Hutu gemacht hatten. Viehzüchter überlegen den Ackerbauern. Kain und Abel. Anders herum. Wie so vieles in Afrika.
Das soziale Gefüge geriet aus der Balance. Nicht zum ersten Mal waren die Europäer verantwortlich für die Schieflagen einer bis dahin relativ friedlichen Koexistenz.
Die Tutsi kamen zu Wohlstand und Einfluss; die zu Unterlegenen gemachten Hutu wurden zur leichten Beute von Demagogen, denen Instabilität nützt. Der Konflikt entwickelte Permanenz; nicht unbedingt zwischen den Menschen, die auch untereinander heirateten.
Der Gewaltpegel war schon angestiegen, wodurch die Uno eine Friedensmission ins Land sandte – eine Friedensstifter-Mission nach UN Charta § 6. § 7 wäre mit Eingriffsmöglichkeit gewesen.
Die politischen Kräfte hatten sich verschoben; Hutus hatten das Sagen. Viele von ihnen gemäßigt und bereit zu Koexistenz. Einige wenige mit Völkermord im Sinn. Ein Bruder der Frau des Hutu-Präsidenten eine zentrale Wolfsgestalt.
Das Grauen lässt sich einfach deklinieren: Ein bisschen Pech hier durch das vorangegangene Somalia-Debakel; in der Weltöffentlichkeit, bei den Nationen, die Truppen zur Verfügung stellen müssten. Ein bisschen zuviel Vorschriftengläubigkeit, Technokratenmentalität, Politikermentalität, Diplomatenmentalität bei der Uno. Viel Dunkelheit in den Herzen derer, die als Miliz die Säuberung durchführen sollten. Eine halbe Million Macheten, an denen jemand verdient hat. Zum Schluss wurde auch der Präsident aus New York kommend, wo er eine Wiederaufnahme der Politik der Koexistenz versprochen hatte, bei seiner Landung in Kigali ermordet. Der Wolf hatte das Sagen.
Das sich entwickelnde Drama offenbart bei vielen, vielen Einzelpersonen und Entscheidungen Feigheit, Ichbezogenheit, Dummheit, ohne dass einer von ihnen ein bewusstes Todesurteil über 800.000 Menschen hätte fällen wollen. Aber so ist es doch immer.
Wer hätte auch damit rechnen sollen, dass da jemand die Ausrottung generalstabsmäßig plante, selbst die Nazis an Effizienz überträfe und 100 Tage reichen würden, Völkermord zu begehen?
Wie müßig, die vielen kleinen Fehlentscheider zur Verantwortung ziehen zu wollen oder als Schuldige auszumachen.
Wie hätte ich als Verantwortlicher entschieden? Bin ich weniger schuldig, weil ich keine solche Verantwortung tragen möchte? Bin ich nicht direkt oder indirekt verantwortlich, wenn ich es zulasse, dass unfähige Menschen die Verantwortung an meiner Statt übernehmen? Sind es nicht immer die Selbstverweigerer, die durch ihre Abwesenheit das reinste Gewissen zur Schau stellen können, und andere beschuldigen?
Andere Bilder; andere Menschen, Opfer.
Die in Deutschland lebende Tochter eines Opfers trifft sich in ihrer Heimatregion mit dem bereits inhaftierten Hutu-Mörder ihrer Tutsi-Mutter. Der Mann ist kein Milizionär, ein Dorfbewohner wie ihre Mutter.
Ob das ihre Idee war? Ob sie ohne die Medien-Macht dazu Gelegenheit bekommen hätte?
Der Mörder ist ein überraschend sanft wirkender, stets verlegen lächelnder, dünner Mann. Sehen die Mörder nicht immer aus wie du und ich?
Er sagt, nachdem die aus dem Dorf zu einem Massengrab verschleppten Bewohner schon getötet worden seien – von den Milizen - sei die Mutter mit einer Thermoskanne für ihren mitabgeholten Sohn aufgetaucht. Sie wurde von den Milizen aufgefordert, sich zu den anderen zu legen. Er sei gezwungen worden, die Frau zu erschlagen, mit einer Axt. Wenn er es nicht täte, so würde man ihn auch töten. So sagt er. Warum war er überhaupt dort? Wer wird beurteilen können, ob er die Wahrheit sagte. Welchen Grund sollte er gehabt haben, die alte Frau zu töten, die er gut kannte, die ihm eine hilfsbereite Nachbarin gewesen war. Aber viele seiner Antworten klingen einstudiert, formelhaft.
Später wird er zu sechs Jahren verurteilt werden, wovon er vier schon in Haft verbracht hat. Wer will sich empören, dass er wieder frei kommen wird? Warum glauben so viele Menschen, sie seien gefeit davor, sich in solchen Situationen schuldig zu machen. Wo beginnt die Schuld? Bei dem, der die Axt schwingt?
Ruanda ist ein weiteres Lehrstück darüber, wie Arroganz, Ignoranz, Feigheit, Desinformation und Schweigen, aus einer Kette von Handlungen, die an sich noch nicht geeignet wären, die Tragödie in Gang zu setzen, durch eine kleine Prise von bösem Willen, dem Wunsch nach Zerstörung, das Leben vieler Unschuldiger zum Opfer fallen.
Aber versetzt die Tatsache, Opfer geworden zu sein, das Wirken des späteren Opfers in den Stand der Unschuld? Vielleicht war einer unter ihnen, der aufgrund seiner herausragenden Position die Macht gehabt hatte, eine Vielzahl von Hutu zu demütigen.
Ursache und Wirkung lassen sich nicht mehr auf Personen herunterbrechen. Das Konzert ist nicht mehr dirigierbar. Wer am einen Ende des Handlungsknäuels mitwirkte, weiß nichts von den Bemühungen an anderer Stelle, die sein Handeln im Augenblick des Geschehens zunichte machen können. Nur aus dem Rückblick erscheinen die einzelnen Stationen der Tragödie und ihre Akteure klar und offensichtlich, fest positioniert wie Perlen auf der Schnur.
Es ist unser eigenes, unbewusstes schlechtes Gewissen, das Steine werfen möchte auf die ‚Schuldigen’. Das ist die eigentliche Aufgabe der Gerichte – und der Medien. Wie im Theater oder im Kino wünschen wir uns, dass der Schuldige zur Strecke gebracht wird und seine verdiente Strafe erhält – am besten noch selbst ausgemerzt wird, damit wieder Friedhofsruhe herrscht. Bis zum nächsten Mal.
Aber was ist die Lehre aus den immer wieder die Geschichte bevölkernden traumatischen Abschlachtungen?
Diese Lehre wird nicht gezogen, nicht erarbeitet, nicht vermittelt. Mit den Gedenkritualen für die Opfer und der Bestrafung der Täter gehen wir wieder zur Tagesordnung über.
Dabei ist diese Lehre so einfach und so übergreifend wirksam – alle Menschenleben betreffend, alle Regierungen. Bestimmender Faktor ist die Stabilität eines Gemeinwesens. Heute hier, morgen da, vielleicht schon morgen wieder hier.
Die Lehre betrifft auch nicht nur die da drüben oder da unten. Sie geht uns alle an!
Die allererste und oberste ist die der Notwendigkeit von Breitenbildung. Nur Bildung, insbesondere politische Bildung, wie sie Deutschland nach dem Krieg erfuhr. Die heutige Jugend muss sich auf Produktnähe trimmen; Mensch werden ist kein akzeptables Ziel mehr. Das braucht zuviel Zeit. Bevor sie selbst eine Chance haben, herauszufinden, wer sie sind, müssen sie verstanden haben wer – oder besser was - sie sein sollen, um auf dem Arbeitsmarkt eine Chance zu haben. Effizient für den Markt, aber keine Grundlage effektiver Lebensplanung. Politische Bildung verkommt zu anspielungsreichen, unglaubwürdigen weil halbherzigen politischen Festtagsreden, die sie nicht mehr betreffen, nicht mehr nachvollziehbar sind. Dabei wäre es heute genauso wichtig, ein Bewusstsein herzustellen, dass es der einzelne nur der Gunst der Stunde verdankt, nicht Opfer geworden zu sein, nicht Täter.
Politische Bildung macht weniger anfällig für Demagogie. Sie kann überzeugen, dass zwischen Unschuld und Schuld nur ein kleiner Schritt liegt, und dass viele ihre Unschuld nur einem Zufall verdanken, nicht der Vorbildlichkeit ihrer Gedanken und Handlungen.
Eine andere Lehre: Die Bankrotterklärung jeder Ideologie nach Beendigung des Kalten Krieges hat ein Vakuum geschaffen, in dem Solidarität, Gemeinwohl als Politik- und Gesellschaftsziel erstickt sind. Das Erbe des Sieges vom Kapitalismus amerikanischer Prägung hinterlässt eine Wertewüste und überschwemmt den Globus: Eigennutz, Besitzstreben, Machtstreben. Nach den Werten, die übrig geblieben sind, die diese Bezeichnung nicht verdienen, ist jederzeit die Ausrottung der Indianer in den Amerikas, die Judenverfolgung und –vernichtung in Europa, der Völkermord in Afrika denkbar. Woher soll der Widerstand kommen, wenn jeder nur mit sich selbst beschäftigt ist – und - wenn es sich lohnen würde, Karriere, Einkommen, Status brächte.
Globalisierung ist der Tarnname für den laufenden Prozess, den Sieg der nicht mehr nationalen Wirtschaft über die nationalen Gesellschaften zu verschleiern. Was ist Globalisierung anderes als Anonymisierung und Internationalisierung der Produktivkräfte eines Staates? Menschen, Gesellschaften hilflos gegenüber der einen großen Ungerechtigkeit, das sich Teile der Menschheit, immer öfter wirtschaftliche Abstraktionen, zu Lasten aller anderen sich die Welt unter den Nagel gerissen haben. Etwas wird nicht dadurch besser, dass es schon lange her ist, und endlos wiederholt wird – wenn die Klammer nicht mehr funktioniert, dass Eigentum verpflichtet.
Die Politik heute im Westen dient sich der Wirtschaft an zu Lasten der Bürger. Es ist kein Staatsziel mehr, eine breite Zufriedenheit herzustellen. Es wird billigend in Kauf genommen, dass immer mehr immer öfter immer härter hinten runter fallen.
Die Folge wird steigende Kriminalität sein. Der Boden wird bereitet für Demagogie, für Zerstörung, für Kaltherzigkeit. Nährboden für eruptive Entladungen. Trivialisierung des Menschen.
Die Lehre ist, dass wir uns über diese Zusammenhänge Klarheit verschaffen müssen. Dass wir uns wehren müssen, wenn wir als Bevölkerungsteile polarisiert werden sollen, in dem der eine Teil aufgestachelt wird, einem anderen Teil die Sozialhilfe zu missgönnen, während sich Technokraten in Wirtschaft und Politik die Taschen füllen, Karriere machen, sich für Eliten halten. Es geht um unsere Köpfe, um unsere Herzen. Wir müssen hinschauen. Hier. Uns nicht aufhetzen lassen gegen Alte und Kranke, gegen Ausländer. Gegen Arbeitslose. Gegen Sozialhilfeempfänger. Die Vertreter des Un-Werte-Systems führen uns nacheinander auf die Schlachtbank. Heute applaudieren wir noch der Entwürdigung von Asylanten, Alten, Kranken, sozial Schwachen. Wir stimmen zu, dass sich das unser Staat alles nicht mehr leisten kann. Wird uns tagtäglich erzählt. Indem auch uns Liebgewordenes gestrichen wird, glauben wir um so willfähriger.
Morgen applaudiert man unserer Verstümmelung, wenn wir keine Rente mehr beziehen, die uns unser Leben fristen lässt.
Die alltägliche Bedrohung durch Kürzungen, Streichungen, Privatisierung, gilt nicht mehr den Schwachen; sie gilt schon lange – vielleicht von Anfang an – denen, die noch etwas zu verlieren haben. Die Appellation an den Eigennutz ist noch immer die Wirksamste. Das Herunterbeten der Verschärfungen für Arbeitslose. Der Ruin, der den meisten vor Augen geführt wird – ihr Ruin als wertvolles Mitglied der Gesellschaft – herabgewürdigt zu Sozialhilfe, die ihnen dann auch noch die Existenzgrundlage nimmt. Durch die Lockerung der Schutzgesetze, die Ausbreitung von befristeten Verträgen, der Anstieg der Neugründungen aus Insolvenzen mit geschrumpften Mitarbeiterzahlen, die Betriebsübergänge nach Verkauf von Unternehmensteilen, die Ausdehnung von geringfügigen Beschäftigungen, wird es immer mehr treffen.
Die Zahl derer, die durch eine abhängige, unbefristete Beschäftigung ihren Lebensunterhalt verdienen und auf eine Rente hoffen können, die ihren Lebensunterhalt sichert, die in die Sozialkassen einzahlen, wird tendenziell sinken. Die Solidargemeinschaften sind dem Tode geweiht. Sozial Schwache zu Schmarotzern herabgewürdigt. Das Gerede über die Ausweitung von Zumutbarkeit von Arbeit, dient nur der Gefügigmachung der arbeitenden Bevölkerung bei gleichzeitiger Polarisierung innerhalb der Bevölkerung. Diese Regelung wäre nur dann eine wirkliche Arbeitsmarktstrategie, wenn 4,6 Mio. Arbeitslosen 4,6 Mio. offene Stellen gegenüber stünden. Jeder weiß, dass dies nicht so ist. So entlarvt es sich als Instrument der Einschüchterung derjenigen, die Arbeit haben. Zitternd aber bereitwillig sehen sie zu, wie eine Säule nach der anderen ihres Selbstverständnisses, ihres Selbstwertgefühls, dem Gefühl ihrer Lebenssicherheit, Permanenz ihrer Bemühungen, Sinnhaftigkeit, des Bewusstsein, selbst ihr Leben zu bestimmen, demontiert werden.
Wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklung. Noch glauben wir, dass uns persönlich niemand etwas Böses will. Das wollen Technokraten nie. Sie wollen nur ihren Job gut machen. Effizient sein. Es ist nicht ihre Schuld, dass es keine übergreifenden Werte jenseits des Eigennutzes mehr gibt. Das ist unsere eigene Schuld. Wir lassen uns zu jeder Zeit, immer wieder, tendenziell steigend, unseren Schneid abkaufen.
Wir stellen uns nie die Frage, wem das alles nutzt, solange wir nur auch Nutzen davon haben. Der Nutzen wird um so wertvoller, je flüchtiger er zu werden droht. Wir sind durch unsere Verlustangst korrumpierbar geworden.
Wem nutzt es, das wir durch die Verschärfung des Lebenskampfes, und sei es bisher nur in unseren bangen Herzen, nur am Rande wahrnehmen, dass der abhängig Arbeitende selbst zum Paria des Wirtschaftssystems wird. Dass die Börse Stellenabbau feiert, dass nicht mehr die Produktion, die Nationalökonomien und Gesellschaften nutzt, das gedeihliche Klima der Wirtschaft bestimmt, sondern wenn Geld Geld macht. Wem nutzt das?
Es können nur wenige sein, die so viel Geld haben, dass sie zu den großen Gewinnern zählen. Ist es nicht schon von Technokraten verwaltetes, anonymes Kapital, das diese zerstörerische Wirkung hat? Die vom Profit, von der Kenntnis der Regeln, von der Macht, sie anzuwenden, ein bisschen für sich selbst abzweigen können? In diesem Umfeld gibt es viele Helfer.
Heute sitzen die Arbeitenden und die kleinen Unternehmer und der Mittelstand in einem Boot, das Nationalökonomie heißt. Haben sie das schon bemerkt? Diejenigen, die nur ihre eine Haut zu Markte tragen können, und diejenigen, die sich bemühen, aufgrund ihrer ererbten Überlegenheit, sei es durch Kapital, eine Firma, oder eine besondere, gewinnträchtige Begabung, die ihren Selbstwert einbringen, die etwas zum Gemeinwohl beitragen wollen, die sich so vollständig einbringen wollen, wie es die Arbeitenden müssen, wissen sie, dass sie einer Fraktion angehören? Dass sie sich denen gegenüber sehen müssen, die sich nicht selbst einbringen? Die nichts riskieren. Die Entscheidungen treffen dürfen, die sie nicht ausbaden müssen? Die so weit entfremdet sind von den natürlichen Gesetzen des Überlebenskampfes, dass sie Monopoly spielen müssen, um sich lebendig zu fühlen. Die viele Nullen hinter der 1 bewegen müssen, um sich zu beweisen, das sie etwas wert sind? Die sich überlegen fühlen dürfen, weil sie auf die Ameisen, die wir aus ihrer Perspektive sind, herabsehen können?
Aber wissen sie denn, was sie tun? Erschöpft sich ihre Übersicht, die sie für umfassend halten, nicht in der Wiederholung überholter Regeln, deren Konsequenzen sie gar nicht mehr sehen können, die sie auch nicht wahrhaben wollen?
Der Banker im Wolkenkratzer sieht auf die Kriminalität in den Ghettos aus dem Blickwinkel der Elite auf den geborenen Looser, der die Regeln nicht lernte.
Wird er je reflektieren, dass es seine Entscheidungen sind, die dieses Messer dort, diesen Revolver da in die Hände eines sich selbst Entäußerten gelegt haben könnte? Wohl kaum.
Wer sind die Tutsi, wer die Hutu von morgen?
Jeder einzelne Mensch hat mehrmals täglich die Wahl, wer er sein will, wer er ist. Jeder einzelne ist permanent aufgefordert, Position zu beziehen, für was er steht.
Man braucht keine Bildung, um diese Zusammenhänge zu verstehen. Man muss nur Mensch unter Menschen sein wollen – etwas, was wir alle doch am besten können. Wenn wir uns nicht ablenken lassen. Wenn wir uns nicht von anderen unseren Wert beimessen lassen. Wenn wir uns nicht auf unseren Überlebenskampf reduzieren lassen.
Wenn wir uns nicht einreden lassen, dass unser Nachbar unser Feind ist.