Ungestutztes Unkraut
Mitglied
"Hast du es schon gemerkt? Seit gestern." Meine Nachbarin flüstert in ihr Telefon, während ich mit meinem Hund spazieren gehe. „Ah“, dämmert es mir, weil es immer dasselbe ist, wenn sie mich das fragt. "Sind sie wieder in Urlaub. Sind ja auch Osterferien. Oh, wie angenehm ruhig wird die kommende Woche sein." Ein Lächeln drängt sich unkontrollierbar in mein Gesicht.
Ich wohne in einem Haus mit fünfzehn anderen Familien. Ich wohne ganz oben in meinem Turm, kann alles gut beobachten, aber nicht beobachtet werden. Ich kenne nicht alle meine Nachbarn, haben sich in den letzten Jahren ja auch laufend verändert, aber die ich kenne, sind eigentlich ganz nett. Wir haben einen höflichen, unaufdringlichen und sehr distanzierten Umgang miteinander. Alle sind sehr unterschiedlich. Von Familien mit Kleinkindern, Ehepaare, die auf ein Haus sparen, bis Singlefrauen mit hoher Besuchsfluktuation ist alles dabei. Und im obersten Stockwerk sind die menschenmeidenden, alleinerziehenden Hundebesitzer. Keine Ahnung wie das gekommen ist, aber es zeichnet sich eindeutig eine Kategorie aus.
Einige Familien in unserem Haus sind lauter als andere. Die mit kleinen Kindern. "Da könnte ich ja gleich in der Arbeit einziehen, so wie es hier abends immer zugeht mit dem Gebitzle und Geschreie." beschwere ich mich immer wieder einmal bei meiner Nachbarin. Eigentlich sind mir die Kinder völlig egal, aber was hier im Haus auf jeden Fall zum guten Ton gehört ist, dass man ein bisschen über die anderen lästert. Man will ja dazugehören. Man will ja nicht auffallen und man will auf keinen Fall benachteiligt werden. Vor allem nicht vom Hausmeister. Der Mann, der in zwei Minuten da ist, wenn man komische Flecken an der Decke hat, oder eben aber erst in zwei Wochen, wenn man sich mit den selben Flecken davor in die Gemeinschaft aber nicht ausreichend eingebracht hat.
Eine Familie sticht in dem Ganzen ein bisschen heraus. Eine Familie mit einem Haushaltsvorstand wie Tony Soprano, einem hochpotenten Hund, der im Stiegenhaus ständig kleine Tröpfchen Urin verteilt nur um den anderen Vierbeinern die Rangordnung klarzumachen und einem pubertierenden Sohn, der beim Weg zur Bushaltestelle dreißigmal am Boden spucken und jeden Stein aus dem Weg kicken muss. Die Frau gleicht dem Familienoberhaupt der Flodders und das kleine Töchterchen versucht noch krampfhaft ihre innere Prinzessin zu erhalten. Bis das Mädchen verschluckt wird von so viel Proletariat und sprachlicher Zensurbedürftigkeit. Bis dahin trägt sie rosa und kleine Schleifen im Haar und wirkt neben ihren Angehörigen wie ein Schmetterling in einer Kakerlaken Grube.
Die Eltern arbeiten beide nicht. Wie sie ihr Leben in dieser nicht einmal gemeinnützigen Wohnung finanzieren, wissen wir nicht, wir erahnen es nur. Sie haben drei Parkplätze und zu Spitzenzeiten bis zu fünf Autos. Die sind nie lange da und werden in der kurzen Zeit von vielen Menschen begutachtet.
Dann kann ich beobachten wie der Sopranozwilling im Morgengrauen mit zwei jungen Männern flüsternd Worte austauscht und Kuverts hin und hergeschoben werden. Während ich sehr unschuldig meinen Kaffee trinke und mich hinter dem Sonnenschutz am Balkon verstecke aus Angst plötzlich irgendein Zeuge zu sein, der aus dem Weg geräumt gehört.
"Wenn du Auto brauchst, sagst du nur. Besorg ich dir. Gute Qualität, aber billig. Sagst du Bescheid." Sein Flüstern im Lift, nachdem er bemerkt hatte, dass mein Citroen mit Totalschaden auf einen polnischen Transporter wartet, um zum Schlachthof gebracht zu werden. "Danke dir, aber ich glaube ich komme zurecht." Sage ich ebenso flüsternd, auch wenn ich nicht weiß, warum ich flüstere. Ich verlasse den Aufzug und denke nur: "Ich habe zu viele Filme gesehen, um nicht zu wissen, wenn man sich einmal mit der Mafia einlässt, ist man verkauft." Als nächstes sitze ich in irgendeinem Bordell und verkaufe meinen Körper an russischen und italienischen Geschäftsleute mit Müllabfuhren und Transportfirmen, mit einer freien Interpretation was Müll ist und was als Sachware transportiert werden darf. Ich schüttle den Kopf. Viel wahrscheinlicher ist es, als Auftragskiller, Geldeintreiber oder Türsteher in einer geheimen Glücksspielhöhle angeworben zu werden, ausgehend von meinem Alter und meinen zu großen Rundungen.
"Gestern hat ihn die Rettung wieder abgeholt. Angeblich Herzinfarkt." erzählt mir ein anderer Nachbar. Dann verstehe ich, wie unsere spezielle Familie wohl die ewige Arbeitslosigkeit rechtfertigen und erhalten kann. "Habe ich am Herzen, ganz schlecht. Muss ich viel liegen. Darf ich mich nicht aufregen. Hund auch. Hund hat es auch am Herzen. Hund darf sich auch nicht aufregen." Ich treffe ihn nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus, aber seine Aufklärung klingt auch wie eine Drohung. Darf er sich nicht aufregen. Schaue ich, dass ich nicht für den nächsten Herzinfarkt verantwortlich bin. Ich nicke nur mitfühlend, lege meinen Kopf zur Seite, um harmloser auszusehen. "Na, dann alles Gute. Musst dich sicher nicht aufregen, wird alles gut sein." antworte ich, als würde ich ihn beschwichtigen wollen und ihm versichern all den Ärger von ihm fernzuhalten.
"Weißt, also Ärger möchte ich mit dem nicht haben. Ich glaube, der hat Freunde, die könnten einem weh tun und niemand würde es merken." Ich überlege, ob solche Freunde nicht manchmal auch selbst sehr hilfreich wären, denke an ein paar Männer und Chefinnen, während meine Nachbarin und ich ihn auf dem Parkplatz beobachten, wie er wieder verhandelt. "Letztens hatte er Streit mit dem Nachbar im Erdgeschoss. Der ist ihm draufgekommen, dass er eine Kamera im Auto hat, die die Garage überwacht." erzählt sie mir. Ich denke nach, wann ich diesen Nachbar das letzte Mal gesehen habe. Und mir fällt ein, wie unser Mafianachbar vor ein paar Tagen ein großes Paket in sein Auto gehievt hat. Ziemlich schwer nach seiner Anstrengung zu urteilen. Keine Ruhe für seinen Herzinfarkt. "Und hat er die Kamera dann entfernt?" frage ich nach, bedenkend, dass mein Auto fast neben seinem steht. Filmt er dann immer, wenn mir beim Aussteigen, die Hose über den halben Po rutscht oder ich mir ständig den Kopf anschlage, weil ich so schnell durch die Garagentüre laufen muss, wenn mal wieder eine Spinne über der Tür hängt?
Sie glaubt nicht, dass er die Kamera entfernt hat. Vielleicht nur besser versteckt, weil ihm der aus dem Erdgeschoss mit der Polizei gedroht hat. Ich beschließe eleganter zu laufen und meine Hose vor dem Aussteigen über die Hüfte zu ziehen. Man möchte ja bei Filmaufnahmen ein wenig Einfluss ausüben auf die Qualität des Bildmaterials. Bevor die Polizei es einsieht. "Irgendwann erwischen sie ihn. Irgendwann war es das falsche Auto. Da bin ich sicher." Er hat ja auch seinen ganzen Keller komplett mit Planen verdichtet, damit niemand durch die schmalen Spalte der Bretter sehen kann. "Es sind nicht nur Autos. Aber ich zeige ihn sicher nicht an." sagt meine Nachbarin. Und ich nicke verständlich. Wir sehen uns beide schon an einem Baum im Kürnbergwald baumeln oder vor der Lokalbahn auf die Schienen gebunden.
Er sieht nach oben und ich hebe meine Hand und winke ihm ganz freundlich zu, mit einem strahlenden Lächeln. Auftragskiller ist auch nur ein Job. Ebenso wie Krankenschwester. Musste ich auch zuerst den Ekel vor Fäkalien und Erbrochenem ablegen. Reine Gewöhnungssache. Und ich winke seinem Sohn auch noch zu. Zur Sicherheit, falls er das Geschäft erbt, bevor ich ausgezogen bin.
Ich wohne in einem Haus mit fünfzehn anderen Familien. Ich wohne ganz oben in meinem Turm, kann alles gut beobachten, aber nicht beobachtet werden. Ich kenne nicht alle meine Nachbarn, haben sich in den letzten Jahren ja auch laufend verändert, aber die ich kenne, sind eigentlich ganz nett. Wir haben einen höflichen, unaufdringlichen und sehr distanzierten Umgang miteinander. Alle sind sehr unterschiedlich. Von Familien mit Kleinkindern, Ehepaare, die auf ein Haus sparen, bis Singlefrauen mit hoher Besuchsfluktuation ist alles dabei. Und im obersten Stockwerk sind die menschenmeidenden, alleinerziehenden Hundebesitzer. Keine Ahnung wie das gekommen ist, aber es zeichnet sich eindeutig eine Kategorie aus.
Einige Familien in unserem Haus sind lauter als andere. Die mit kleinen Kindern. "Da könnte ich ja gleich in der Arbeit einziehen, so wie es hier abends immer zugeht mit dem Gebitzle und Geschreie." beschwere ich mich immer wieder einmal bei meiner Nachbarin. Eigentlich sind mir die Kinder völlig egal, aber was hier im Haus auf jeden Fall zum guten Ton gehört ist, dass man ein bisschen über die anderen lästert. Man will ja dazugehören. Man will ja nicht auffallen und man will auf keinen Fall benachteiligt werden. Vor allem nicht vom Hausmeister. Der Mann, der in zwei Minuten da ist, wenn man komische Flecken an der Decke hat, oder eben aber erst in zwei Wochen, wenn man sich mit den selben Flecken davor in die Gemeinschaft aber nicht ausreichend eingebracht hat.
Eine Familie sticht in dem Ganzen ein bisschen heraus. Eine Familie mit einem Haushaltsvorstand wie Tony Soprano, einem hochpotenten Hund, der im Stiegenhaus ständig kleine Tröpfchen Urin verteilt nur um den anderen Vierbeinern die Rangordnung klarzumachen und einem pubertierenden Sohn, der beim Weg zur Bushaltestelle dreißigmal am Boden spucken und jeden Stein aus dem Weg kicken muss. Die Frau gleicht dem Familienoberhaupt der Flodders und das kleine Töchterchen versucht noch krampfhaft ihre innere Prinzessin zu erhalten. Bis das Mädchen verschluckt wird von so viel Proletariat und sprachlicher Zensurbedürftigkeit. Bis dahin trägt sie rosa und kleine Schleifen im Haar und wirkt neben ihren Angehörigen wie ein Schmetterling in einer Kakerlaken Grube.
Die Eltern arbeiten beide nicht. Wie sie ihr Leben in dieser nicht einmal gemeinnützigen Wohnung finanzieren, wissen wir nicht, wir erahnen es nur. Sie haben drei Parkplätze und zu Spitzenzeiten bis zu fünf Autos. Die sind nie lange da und werden in der kurzen Zeit von vielen Menschen begutachtet.
Dann kann ich beobachten wie der Sopranozwilling im Morgengrauen mit zwei jungen Männern flüsternd Worte austauscht und Kuverts hin und hergeschoben werden. Während ich sehr unschuldig meinen Kaffee trinke und mich hinter dem Sonnenschutz am Balkon verstecke aus Angst plötzlich irgendein Zeuge zu sein, der aus dem Weg geräumt gehört.
"Wenn du Auto brauchst, sagst du nur. Besorg ich dir. Gute Qualität, aber billig. Sagst du Bescheid." Sein Flüstern im Lift, nachdem er bemerkt hatte, dass mein Citroen mit Totalschaden auf einen polnischen Transporter wartet, um zum Schlachthof gebracht zu werden. "Danke dir, aber ich glaube ich komme zurecht." Sage ich ebenso flüsternd, auch wenn ich nicht weiß, warum ich flüstere. Ich verlasse den Aufzug und denke nur: "Ich habe zu viele Filme gesehen, um nicht zu wissen, wenn man sich einmal mit der Mafia einlässt, ist man verkauft." Als nächstes sitze ich in irgendeinem Bordell und verkaufe meinen Körper an russischen und italienischen Geschäftsleute mit Müllabfuhren und Transportfirmen, mit einer freien Interpretation was Müll ist und was als Sachware transportiert werden darf. Ich schüttle den Kopf. Viel wahrscheinlicher ist es, als Auftragskiller, Geldeintreiber oder Türsteher in einer geheimen Glücksspielhöhle angeworben zu werden, ausgehend von meinem Alter und meinen zu großen Rundungen.
"Gestern hat ihn die Rettung wieder abgeholt. Angeblich Herzinfarkt." erzählt mir ein anderer Nachbar. Dann verstehe ich, wie unsere spezielle Familie wohl die ewige Arbeitslosigkeit rechtfertigen und erhalten kann. "Habe ich am Herzen, ganz schlecht. Muss ich viel liegen. Darf ich mich nicht aufregen. Hund auch. Hund hat es auch am Herzen. Hund darf sich auch nicht aufregen." Ich treffe ihn nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus, aber seine Aufklärung klingt auch wie eine Drohung. Darf er sich nicht aufregen. Schaue ich, dass ich nicht für den nächsten Herzinfarkt verantwortlich bin. Ich nicke nur mitfühlend, lege meinen Kopf zur Seite, um harmloser auszusehen. "Na, dann alles Gute. Musst dich sicher nicht aufregen, wird alles gut sein." antworte ich, als würde ich ihn beschwichtigen wollen und ihm versichern all den Ärger von ihm fernzuhalten.
"Weißt, also Ärger möchte ich mit dem nicht haben. Ich glaube, der hat Freunde, die könnten einem weh tun und niemand würde es merken." Ich überlege, ob solche Freunde nicht manchmal auch selbst sehr hilfreich wären, denke an ein paar Männer und Chefinnen, während meine Nachbarin und ich ihn auf dem Parkplatz beobachten, wie er wieder verhandelt. "Letztens hatte er Streit mit dem Nachbar im Erdgeschoss. Der ist ihm draufgekommen, dass er eine Kamera im Auto hat, die die Garage überwacht." erzählt sie mir. Ich denke nach, wann ich diesen Nachbar das letzte Mal gesehen habe. Und mir fällt ein, wie unser Mafianachbar vor ein paar Tagen ein großes Paket in sein Auto gehievt hat. Ziemlich schwer nach seiner Anstrengung zu urteilen. Keine Ruhe für seinen Herzinfarkt. "Und hat er die Kamera dann entfernt?" frage ich nach, bedenkend, dass mein Auto fast neben seinem steht. Filmt er dann immer, wenn mir beim Aussteigen, die Hose über den halben Po rutscht oder ich mir ständig den Kopf anschlage, weil ich so schnell durch die Garagentüre laufen muss, wenn mal wieder eine Spinne über der Tür hängt?
Sie glaubt nicht, dass er die Kamera entfernt hat. Vielleicht nur besser versteckt, weil ihm der aus dem Erdgeschoss mit der Polizei gedroht hat. Ich beschließe eleganter zu laufen und meine Hose vor dem Aussteigen über die Hüfte zu ziehen. Man möchte ja bei Filmaufnahmen ein wenig Einfluss ausüben auf die Qualität des Bildmaterials. Bevor die Polizei es einsieht. "Irgendwann erwischen sie ihn. Irgendwann war es das falsche Auto. Da bin ich sicher." Er hat ja auch seinen ganzen Keller komplett mit Planen verdichtet, damit niemand durch die schmalen Spalte der Bretter sehen kann. "Es sind nicht nur Autos. Aber ich zeige ihn sicher nicht an." sagt meine Nachbarin. Und ich nicke verständlich. Wir sehen uns beide schon an einem Baum im Kürnbergwald baumeln oder vor der Lokalbahn auf die Schienen gebunden.
Er sieht nach oben und ich hebe meine Hand und winke ihm ganz freundlich zu, mit einem strahlenden Lächeln. Auftragskiller ist auch nur ein Job. Ebenso wie Krankenschwester. Musste ich auch zuerst den Ekel vor Fäkalien und Erbrochenem ablegen. Reine Gewöhnungssache. Und ich winke seinem Sohn auch noch zu. Zur Sicherheit, falls er das Geschäft erbt, bevor ich ausgezogen bin.