Wer bist du?

Heinrich VII

Mitglied
- diese Frage habe ich mir schon oft gestellt, während ich am Küchenfenster saß und rüber in meine neue Nachbarschaft blickte. Nein, keine Häuser und deren Bewohner. Gegenüber von meinem Wohnhaus war ein Busbahnhof errichtet worden. Von früh morgens um 4 Uhr bis weit nach Mitternacht waren dort nun Busse im Einsatz. Sie kamen an, verweilten für ein paar Minuten und fuhren dann wieder ab. Immer wieder kamen neue Busse, manchmal sogar mehrere gleichzeitig, standen für eine Zeit und setzten ihre Fahrt dann fort. Das ist nunmal der Zweck eines Busbahnhofes, klar. Busse bringen Menschen von einem Ort zum anderen.
Diese Dieselgiganten werden natürlich von Busfahrern gelenkt, das weiß jeder. Oft beobachtete ich sie von meinem Küchenfenster aus. Sie saßen in ihren großen Fahrzeugen, ließen den Motor laufen, auch während sie standen und warteten. Manche stiegen aus, um eine Zigarette zu rauchen, während der Motor weiterlief. Oder sie standen draußen, unterhielten sich mit anderen Busfahrern, die ebenfalls ihre Motoren laufen ließen.

Eines Tages beschloss ich, zu einem von ihnen zu gehen. Ich war neugierig, wer diese Menschen waren und wollte natürlich auch herausfinden, warum sie tun, was sie tun. Tag für Tag standen sie im Dienst der Gesellschaft und sorgten dafür, dass andere Menschen zur Arbeit kommen und abends wieder nach Hause. Doch ich hatte noch eine andere Frage an sie. Ich ging also zu einem der Busse, klopfte an die Fahrertür und bedeutete dem Mann, das Fenster zu öffnen. Misstrauisch musterte er mich von drinnen. Nach einigem Zögern öffnete er schließlich das Fenster und sah mich herausfordernd an. Ich betrachtete ihn eine Weile und versuchte, mir ein Bild von ihm zu machen. Wer ist dieser Mensch? Wie fühlt er sich? Was denkt er?

"Was gibt’s denn?", fragte er.
"Eine Frage beschäftigt mich."
"Was Sie nicht sagen."
"Warum lassen Sie den Motor laufen, wenn Sie stehen? Gibt es dafür einen speziellen Grund?"
Er sah mich etwas herablassend an und entgegnete: "Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!"
"Ich wohne gegenüber und muss das ständige Brummen und Dröhnen täglich ertragen.
Nach eingehender akustischer Überprüfung, muss ich sagen, dass es mir nicht gefällt."
"Nach eingehender Überprüfung?", wiederholte er und lachte.
Dann schloss er das Fenster, was für mich das Ende des Gespräch bedeutete. Ich bat ihn, es erneut zu öffnen.
Er wollte nicht, also klopfte ich, bis er es schließlich wieder aufmachte.
"Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass das nicht nur Lärmbelästigung, sondern auch Umweltverschmutzung und unnötiger Dieselverbrauch ist."
Er sah mich an wie der Metzger das Schwein, das er gleich schlachten wird.
"Treten Sie zurück!", rief er, setzte den Blinker, löste die Handbremse und fuhr davon. Ich trat sofort zurück und beobachtete, wie er bis zur Querstraße fuhr,
kurz schaute (es war frei), den Bus ohne Verzögerung nach links lenkte, den Diesel aufheulen ließ und aus meinem Blickfeld verschwand.

Nachdenklich kehrte ich in meine Wohnung zurück. Ich hatte einen dieser feinen Menschen kennen gelernt, die täglich zuverlässig Personen von A nach B und zurück bringen. Was für eine Erfahrung, mit solch einem Menschen gesprochen zu haben. Offensichtlich hatte er noch nichts von Lärmbelästigung und Umweltverschmutzung gehört. Aber was soll´s, beruhigte ich mich. Welcher Menschenbruder oder welche Menschenschwester ist schon perfekt.
 



 
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