Corinna Thiers
Mitglied
Wie schnell die Zeit vergeht...
Mondlicht fällt fahl durch das Fenster. Es ist nur ein kleines, stickiges Zimmer in dem er schläft. Nicht viel Platz, nicht viel Raum. Er braucht auch nicht viel.
Heute liegt er wach, während die Sterne am Himmel glitzern. Heute atmet er Gewissheit.
Er steht auf und zieht sich eine alte Cordhose und ein schäbiges, ausgeleiertes Unterhemd an, ausgelatschte Hausschuhe stehen verlassen neben seinem Bett als gehörten sie nirgends hin. Er lässt sie unbeachtet stehen und geht barfuss mit kantigen Knien in den Korridor. Knipst das Licht an, um seine Stirnlampe zu suchen. Seine Frau brachte sie eines Tages als Werbegeschenk mit. Nicht ahnend, dass diese Stirnlampe je zum Einsatz kommen würde, hatte er sie gedankenlos in irgendeine Schublade gelegt. Wie gut, dass nicht mehr viele Möbel übrig sind. Trotzdem quillt jede einzelne Schublade über. Krimskrams aus Äonen von Lebensjahren versammelt, staut sich hier zu einem Wirrwarr von Gedanken- und Erinnerungsfetzen. „Weißt Du noch damals?“, schießt es ihm in den Kopf. Seine schmalen Lippen bilden einen dichten Strich in Halbmondform. Er seufzt, als er die Stirnlampe aufsetzt. Ohne Schwierigkeiten knipst er sie zielsicher an als hätte er in seinem ganzen Leben nie etwas anderes getan. Starr bewegt er sich zur Tür, öffnet sie und findet die Türklinke mit knorrigen, alten Fingern, um sie niederzudrücken. Die Nachtluft steht still, erleuchtet von dem endlos hellen Mondlicht. Vollmond. Er schaltet die Stirnlampe aus und nimmt sie mit einem Seufzen ab. Mit einem kaum hörbaren 'plumps' fällt die Lampe auf die oberste Stufe der kleinen Treppe. An die Häuserwand gelehnt steht links neben ihm die Schaufel. Er ergreift sie und tritt auf den Rasen hinaus. Graben und schaufeln. Alles braucht seine Zeit. Ist ja auch etwas besonderes, was er heute sichtbar machen wird. Etwas, was lang verborgen blieb. Kann er sich ja auch mal Zeit lassen. Er atmet schwer. Das kleine, zerfallene Häuschen steht hell erleuchtet bei dem kleinen, zerfallenden Mann und schweigt mit Gebrüll. Feuchte Erde macht das Graben zäh. Kalte Hände machen Herzen stumpf. Tiefer Schmerz macht den Glauben stark. Endlose Hoffnung macht das Irren lebendig.
Da ist es schon. Er geht auf die Knie. Gräbt den zähen, lehmigen Boden nun mit den Händen weg. Vorsichtig, aber entschieden. Das Holz ist schon morsch geworden. 40 Jahre. Wie schnell die Zeit vergeht...
Sein Blick gleitet zum Tisch direkt ihm gegenüber. Leer und schonungslos liegt er vor ihm da. Nur ein paar Krümel längst verzehrter Mahlzeiten liegen hier verstreut. Sein Blick ist müde und traurig. Eine Tasse kalten Kaffees, noch vom Abend, steht verloren im Zentrum des Tisches. Naja, immerhin. Er nimmt einen versifften Schwamm in die Hände, um ihn achtlos in den Müll zu schmeißen. Soweit er sich erinnert hat er mal eine neue Packung Schwämme gekauft. Er greift einen heraus und wischt den Dreck von vielen, vielen Morgenden weg. Endlich. Nun er. Nun ist er dran.
Das Kistchen ist nicht schwer. Das Holz noch dreckig vom Lehmboden. Nicht alles konnte er mit den blanken Händen säubern. Manches ist auch gar nicht so wichtig wie man denkt. Er wird unruhig und atmet zittrig ein und aus. Sein Blick: Starr und fixiert als er das Kästchen öffnet. Zitteriger Atem, zittrige Finger.
Leise grummelt er etwas vor sich hin und lächelt flüchtig, verstohlen. Der Gegenstand fühlt sich für ihn wie Freude an: leicht und wie Balsam, erfrischend. Er fühlt sich jung und einen Moment glaubt er, dass seine Knie nun jüngelhaft federn würden als machte er Sprünge. Sprüüüüünge. Welch' ausgelassen - fröhliche Bewegung. Jüngelhaft, frei und voller Elan. Er streichelt den Gegenstand liebevoll und legt ihn dann beiseite. Seine Hände greifen erneut in das Kästchen. Sein Blick wird weich und ganz ruhig. Seine Bauchdecke hebt und senkt sich, als er den Gegenstand aufklappt. Er muss leise lachen. Es war schön. Sein Bauch fühlt sich an wie ein Schwarm Schmetterlinge und Wärme breitet sich überall in seinem Inneren aus. Dankbarkeit zwingt ihn zu einem stillen Gebet. Danke. Vielen Dank. Herzlichen Dank. Dankeschön. Ergebenheit. Demut.
Er seufzt und sein Blick wird wieder ernster. Er legt den kleinen Gegenstand beiseite. Er erinnert sich sehr wohl, dass er den nächsten Gegenstand nicht in das Kästchen legen konnte. Es tat ihm zu weh ihn noch einmal zu sehen. Und so verharrt er kurz in stiller Trauer um sein kleines Mädchen, dass ihm so schnell, so unglaublich schnell, genommen worden ist. Es hatte gerade gereicht, um sie zum Mittelpunkt ihres Glückes zu erheben. Zu erleben wie sie läuft, spricht, trotzt und all' dies weit höher anzusiedeln als das, was man zwangsläufig opfert, wenn man für die Entwicklung eines kleinen Menschen verantwortlich ist. - Man hat den Mann nie gefunden. Aber er weiß, dass die Strafe immer kommen wird. Er muss sie nicht selbst ausführen. Sie kommt auch so.
Wie lange das alles schon her ist. Wie schnell die Zeit verging...
Der nächste Gegenstand lässt ihn alles fassen und markiert den Moment seines Alleinseins. Er nimmt ihn in die Hand und geniesst seine Beschaffenheit: Weich, zart und mit einem leichten Duft nach ihrem Parfum liegt er in seinen Händen. Nach so langer Zeit kann er ihn noch riechen, diesen blumigen Duft nach treuer Liebe und jungen Wünschen bis hin in mögliche hohe Altersspannen. Nichts bestätigt den Schein außer die Erkenntnis der Beschaffenheit des Scheinens. Schönes weicht Erkenntnis. Schönes weicht. Was ist real und was real erdacht? Nichts verbleibt weiß und tadellos im Angesicht der Lehren des Lebens. So auch nicht dieser Duft: Hier, in seinen Händen ist er wie er wurde, dem Voranschreiten des Lebens anheimfallend wurde der Duft traurig und modrig, verliert Wunsch und Hoffnung, Plan und Vertrauen. Alles weicht der lebendigen Erkenntnis und dem, was am Ende steht. Ob wahr. Ob war. Ob falsch. Es ist. Es war – was es nun ist. Er hebt das Taschentuch an seine Nase und atmet den Duft noch einmal intensiv ein. Er ist so wohlig, so voller Liebe, dass er die Augen dabei schließt und seine sonst so schmalen Mundwinkel in einem genussreichen Anheben gipfeln. „Hmmm.“ Er nimmt es von der Nase und strahlt. Seine Augen leuchten erst. Dann erstirbt sein Lächeln - wie damals sie. Er wusste ja nicht, was sie vor hat. Er merkte nur, dass sie sie nicht verwinden konnte: Die Leere am Tisch und die Leere im Herzen. 'Mein rechter, rechter Platz ist leer...' Ihre Kleine kam eines Tages nicht mehr, um sich dort hinzusetzen. Das Mutterherz brach. Das Herz brach für immer.
Er beobachtete ihr Befinden mit zunehmender Nervosität, aber er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Dann war sie tot und er bereute all die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte. Alles, was er nicht getan hatte. Alles, was er nicht versucht hatte. Alles, was er gefühlt und nicht mit ihr geteilt hatte. Auch was er hätte mit ihr teilen können, um sein Leid mit ihrem zu teilen. Leid und Leid gesinnt sich gern. Er seufzt. Freud und Freud ebenfalls. Er erinnert sich an beides: hier, in dieser Nacht. Im strahlenden Mondlicht. Mit einem Himmel an dem die Sterne glitzern. Und sein Herz ist so voller Dankbarkeit, dass es fröhlich schlägt und sich in seinen Augen Tränen sammeln. Demut. Nur durch Dich.
Der letzte Gegenstand lässt ihn erneut lächeln. Er zieht ihn auf und lauscht. Sein Gesicht wird so hell – alles in ihm leuchtet. Er seufzt mit einem Lächeln im Gesicht. Dann steht er auf und verlässt den Tisch.
Barfuß, mit dreckigen Füssen, läuft er ins Schlafzimmer. Stickig und karg das Zimmer, das Bett liegt zerwühlt da und lädt ein, darin zu schlafen oder es frisch zu beziehen. Auf seinem Nachttisch liegt ein Zettel: Me-di-ka-men-ten-plan. Er gähnt und setzt sich auf sein Bett. Mit knackenden Knien und seligen Augen streckt er sich und legt sich schlafen. Wie schnell die Zeit vergeht... Die Zeit verging so schnell.
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Der Tisch liegt verlassen da: Im Zentrum ein Pott Kaffee. Kalt. Wie lange der dort steht, lässt sich nur erahnen, denkt der Nachbar. Die Tür stand offen. Auch wenn dieser Geselle hier – zurückgezogen – nicht unbedingt ein landläufig bekannt hoch frequentiertes Leben geführt hatte: Seine Haustür hatte er nie offen stehen lassen. Irgendwie seltsam das alles. Der Nachbar ruft den Namen des Hausbewohners: verstummt. Irgendwie nicht passend, ihn zu rufen. Der Nachbar schweigt wieder. Geht langsam durch das kleine Häuschen. Im Schlafzimmer liegt der Mann: Ein entspanntes Gesicht. Trotzdem weiß der Nachbar, dass der Mann tot ist. Stimmte es also doch, was er da gehört hatte. Krebs und so. Stimmte also doch. Unheilbar und so. Stimmte also doch. Noch mit dem Blick auf dem Toten verharrend, seufzt er: „Tja. Ja ja.“ Er zuckt die Schultern. „Die Zeit vergeht halt. Und irgendwann ist jeder mal dran. Tja. Stimmte also doch mit dem Krebs.“
Unachtsam verlässt er das Haus und geht an dem Esstisch in der Küche vorüber. Bemerkt nichts weiter. Zückt das Telefon schon im Gehen. Wählt. „Ja, hallo! Ich wollte hier einen Todesfall melden.“ Steht draußen vor dem Haus und telefoniert.
Der Esstisch liegt verlassen da: Im Zentrum ein Pott kalten Kaffees. Ein altes, morsches Holzkistchen.
Daneben: Eine kleine Bleistiftzeichnung. Ein Junge fängt einen Ball, daneben ein hüpfender Hund und ein schleichendes Kätzchen. Kindheit.
Daneben: Eine kleine Karte. Scheinbar selbstgebastelt. Eine Foto von einer Frau mit einem Babybauch.
Daneben: Ein kleines bisschen Leere... Sollte hier nicht etwas liegen?
Daneben: Das kleine Taschentuch... Ihres. Welch' wunderbarer Geruch davon ausgeht.
Daneben: Die kleine Spieluhr, die sie in gemeinsamer Vorfreude für die Kleine gekauft haben. Doch das ist schon so lange her. Wie schnell die Zeit vergeht... alles verweilt nur... ein kleines bisschen.
Mondlicht fällt fahl durch das Fenster. Es ist nur ein kleines, stickiges Zimmer in dem er schläft. Nicht viel Platz, nicht viel Raum. Er braucht auch nicht viel.
Heute liegt er wach, während die Sterne am Himmel glitzern. Heute atmet er Gewissheit.
Er steht auf und zieht sich eine alte Cordhose und ein schäbiges, ausgeleiertes Unterhemd an, ausgelatschte Hausschuhe stehen verlassen neben seinem Bett als gehörten sie nirgends hin. Er lässt sie unbeachtet stehen und geht barfuss mit kantigen Knien in den Korridor. Knipst das Licht an, um seine Stirnlampe zu suchen. Seine Frau brachte sie eines Tages als Werbegeschenk mit. Nicht ahnend, dass diese Stirnlampe je zum Einsatz kommen würde, hatte er sie gedankenlos in irgendeine Schublade gelegt. Wie gut, dass nicht mehr viele Möbel übrig sind. Trotzdem quillt jede einzelne Schublade über. Krimskrams aus Äonen von Lebensjahren versammelt, staut sich hier zu einem Wirrwarr von Gedanken- und Erinnerungsfetzen. „Weißt Du noch damals?“, schießt es ihm in den Kopf. Seine schmalen Lippen bilden einen dichten Strich in Halbmondform. Er seufzt, als er die Stirnlampe aufsetzt. Ohne Schwierigkeiten knipst er sie zielsicher an als hätte er in seinem ganzen Leben nie etwas anderes getan. Starr bewegt er sich zur Tür, öffnet sie und findet die Türklinke mit knorrigen, alten Fingern, um sie niederzudrücken. Die Nachtluft steht still, erleuchtet von dem endlos hellen Mondlicht. Vollmond. Er schaltet die Stirnlampe aus und nimmt sie mit einem Seufzen ab. Mit einem kaum hörbaren 'plumps' fällt die Lampe auf die oberste Stufe der kleinen Treppe. An die Häuserwand gelehnt steht links neben ihm die Schaufel. Er ergreift sie und tritt auf den Rasen hinaus. Graben und schaufeln. Alles braucht seine Zeit. Ist ja auch etwas besonderes, was er heute sichtbar machen wird. Etwas, was lang verborgen blieb. Kann er sich ja auch mal Zeit lassen. Er atmet schwer. Das kleine, zerfallene Häuschen steht hell erleuchtet bei dem kleinen, zerfallenden Mann und schweigt mit Gebrüll. Feuchte Erde macht das Graben zäh. Kalte Hände machen Herzen stumpf. Tiefer Schmerz macht den Glauben stark. Endlose Hoffnung macht das Irren lebendig.
Da ist es schon. Er geht auf die Knie. Gräbt den zähen, lehmigen Boden nun mit den Händen weg. Vorsichtig, aber entschieden. Das Holz ist schon morsch geworden. 40 Jahre. Wie schnell die Zeit vergeht...
Sein Blick gleitet zum Tisch direkt ihm gegenüber. Leer und schonungslos liegt er vor ihm da. Nur ein paar Krümel längst verzehrter Mahlzeiten liegen hier verstreut. Sein Blick ist müde und traurig. Eine Tasse kalten Kaffees, noch vom Abend, steht verloren im Zentrum des Tisches. Naja, immerhin. Er nimmt einen versifften Schwamm in die Hände, um ihn achtlos in den Müll zu schmeißen. Soweit er sich erinnert hat er mal eine neue Packung Schwämme gekauft. Er greift einen heraus und wischt den Dreck von vielen, vielen Morgenden weg. Endlich. Nun er. Nun ist er dran.
Das Kistchen ist nicht schwer. Das Holz noch dreckig vom Lehmboden. Nicht alles konnte er mit den blanken Händen säubern. Manches ist auch gar nicht so wichtig wie man denkt. Er wird unruhig und atmet zittrig ein und aus. Sein Blick: Starr und fixiert als er das Kästchen öffnet. Zitteriger Atem, zittrige Finger.
Leise grummelt er etwas vor sich hin und lächelt flüchtig, verstohlen. Der Gegenstand fühlt sich für ihn wie Freude an: leicht und wie Balsam, erfrischend. Er fühlt sich jung und einen Moment glaubt er, dass seine Knie nun jüngelhaft federn würden als machte er Sprünge. Sprüüüüünge. Welch' ausgelassen - fröhliche Bewegung. Jüngelhaft, frei und voller Elan. Er streichelt den Gegenstand liebevoll und legt ihn dann beiseite. Seine Hände greifen erneut in das Kästchen. Sein Blick wird weich und ganz ruhig. Seine Bauchdecke hebt und senkt sich, als er den Gegenstand aufklappt. Er muss leise lachen. Es war schön. Sein Bauch fühlt sich an wie ein Schwarm Schmetterlinge und Wärme breitet sich überall in seinem Inneren aus. Dankbarkeit zwingt ihn zu einem stillen Gebet. Danke. Vielen Dank. Herzlichen Dank. Dankeschön. Ergebenheit. Demut.
Er seufzt und sein Blick wird wieder ernster. Er legt den kleinen Gegenstand beiseite. Er erinnert sich sehr wohl, dass er den nächsten Gegenstand nicht in das Kästchen legen konnte. Es tat ihm zu weh ihn noch einmal zu sehen. Und so verharrt er kurz in stiller Trauer um sein kleines Mädchen, dass ihm so schnell, so unglaublich schnell, genommen worden ist. Es hatte gerade gereicht, um sie zum Mittelpunkt ihres Glückes zu erheben. Zu erleben wie sie läuft, spricht, trotzt und all' dies weit höher anzusiedeln als das, was man zwangsläufig opfert, wenn man für die Entwicklung eines kleinen Menschen verantwortlich ist. - Man hat den Mann nie gefunden. Aber er weiß, dass die Strafe immer kommen wird. Er muss sie nicht selbst ausführen. Sie kommt auch so.
Wie lange das alles schon her ist. Wie schnell die Zeit verging...
Der nächste Gegenstand lässt ihn alles fassen und markiert den Moment seines Alleinseins. Er nimmt ihn in die Hand und geniesst seine Beschaffenheit: Weich, zart und mit einem leichten Duft nach ihrem Parfum liegt er in seinen Händen. Nach so langer Zeit kann er ihn noch riechen, diesen blumigen Duft nach treuer Liebe und jungen Wünschen bis hin in mögliche hohe Altersspannen. Nichts bestätigt den Schein außer die Erkenntnis der Beschaffenheit des Scheinens. Schönes weicht Erkenntnis. Schönes weicht. Was ist real und was real erdacht? Nichts verbleibt weiß und tadellos im Angesicht der Lehren des Lebens. So auch nicht dieser Duft: Hier, in seinen Händen ist er wie er wurde, dem Voranschreiten des Lebens anheimfallend wurde der Duft traurig und modrig, verliert Wunsch und Hoffnung, Plan und Vertrauen. Alles weicht der lebendigen Erkenntnis und dem, was am Ende steht. Ob wahr. Ob war. Ob falsch. Es ist. Es war – was es nun ist. Er hebt das Taschentuch an seine Nase und atmet den Duft noch einmal intensiv ein. Er ist so wohlig, so voller Liebe, dass er die Augen dabei schließt und seine sonst so schmalen Mundwinkel in einem genussreichen Anheben gipfeln. „Hmmm.“ Er nimmt es von der Nase und strahlt. Seine Augen leuchten erst. Dann erstirbt sein Lächeln - wie damals sie. Er wusste ja nicht, was sie vor hat. Er merkte nur, dass sie sie nicht verwinden konnte: Die Leere am Tisch und die Leere im Herzen. 'Mein rechter, rechter Platz ist leer...' Ihre Kleine kam eines Tages nicht mehr, um sich dort hinzusetzen. Das Mutterherz brach. Das Herz brach für immer.
Er beobachtete ihr Befinden mit zunehmender Nervosität, aber er wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Dann war sie tot und er bereute all die Dinge, die er ihr nicht gesagt hatte. Alles, was er nicht getan hatte. Alles, was er nicht versucht hatte. Alles, was er gefühlt und nicht mit ihr geteilt hatte. Auch was er hätte mit ihr teilen können, um sein Leid mit ihrem zu teilen. Leid und Leid gesinnt sich gern. Er seufzt. Freud und Freud ebenfalls. Er erinnert sich an beides: hier, in dieser Nacht. Im strahlenden Mondlicht. Mit einem Himmel an dem die Sterne glitzern. Und sein Herz ist so voller Dankbarkeit, dass es fröhlich schlägt und sich in seinen Augen Tränen sammeln. Demut. Nur durch Dich.
Der letzte Gegenstand lässt ihn erneut lächeln. Er zieht ihn auf und lauscht. Sein Gesicht wird so hell – alles in ihm leuchtet. Er seufzt mit einem Lächeln im Gesicht. Dann steht er auf und verlässt den Tisch.
Barfuß, mit dreckigen Füssen, läuft er ins Schlafzimmer. Stickig und karg das Zimmer, das Bett liegt zerwühlt da und lädt ein, darin zu schlafen oder es frisch zu beziehen. Auf seinem Nachttisch liegt ein Zettel: Me-di-ka-men-ten-plan. Er gähnt und setzt sich auf sein Bett. Mit knackenden Knien und seligen Augen streckt er sich und legt sich schlafen. Wie schnell die Zeit vergeht... Die Zeit verging so schnell.
---
Der Tisch liegt verlassen da: Im Zentrum ein Pott Kaffee. Kalt. Wie lange der dort steht, lässt sich nur erahnen, denkt der Nachbar. Die Tür stand offen. Auch wenn dieser Geselle hier – zurückgezogen – nicht unbedingt ein landläufig bekannt hoch frequentiertes Leben geführt hatte: Seine Haustür hatte er nie offen stehen lassen. Irgendwie seltsam das alles. Der Nachbar ruft den Namen des Hausbewohners: verstummt. Irgendwie nicht passend, ihn zu rufen. Der Nachbar schweigt wieder. Geht langsam durch das kleine Häuschen. Im Schlafzimmer liegt der Mann: Ein entspanntes Gesicht. Trotzdem weiß der Nachbar, dass der Mann tot ist. Stimmte es also doch, was er da gehört hatte. Krebs und so. Stimmte also doch. Unheilbar und so. Stimmte also doch. Noch mit dem Blick auf dem Toten verharrend, seufzt er: „Tja. Ja ja.“ Er zuckt die Schultern. „Die Zeit vergeht halt. Und irgendwann ist jeder mal dran. Tja. Stimmte also doch mit dem Krebs.“
Unachtsam verlässt er das Haus und geht an dem Esstisch in der Küche vorüber. Bemerkt nichts weiter. Zückt das Telefon schon im Gehen. Wählt. „Ja, hallo! Ich wollte hier einen Todesfall melden.“ Steht draußen vor dem Haus und telefoniert.
Der Esstisch liegt verlassen da: Im Zentrum ein Pott kalten Kaffees. Ein altes, morsches Holzkistchen.
Daneben: Eine kleine Bleistiftzeichnung. Ein Junge fängt einen Ball, daneben ein hüpfender Hund und ein schleichendes Kätzchen. Kindheit.
Daneben: Eine kleine Karte. Scheinbar selbstgebastelt. Eine Foto von einer Frau mit einem Babybauch.
Daneben: Ein kleines bisschen Leere... Sollte hier nicht etwas liegen?
Daneben: Das kleine Taschentuch... Ihres. Welch' wunderbarer Geruch davon ausgeht.
Daneben: Die kleine Spieluhr, die sie in gemeinsamer Vorfreude für die Kleine gekauft haben. Doch das ist schon so lange her. Wie schnell die Zeit vergeht... alles verweilt nur... ein kleines bisschen.