Wie war das in den Siebzigern

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GerRey

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Gestern Morgen, in der Schlussetappe meiner Walkingrunde, ging ich die Hauptstraße hinunter, wie schon vor fünfzig Jahren, vorbei an den Fenstern der Wohnung, in der ich als Schulkind wohnte (nach den Tagen der Freiheit im Schloss, in dem meine Großeltern eine Wohnung hatten). Damals sprang ich erst kurz vor der Abfahrt des Busses aus dem Bett, zog mich hastig an und lief mit dem “Schulpack’l” an der Schulter aus dem Haus. Auch gestern standen Kinder mit einigen Elternteilen am Hauptplatz und warten auf den Schulbus. Ich lief aber nicht auf den Platz, sondern schnitt ihn weiter die Hauptstraße entlang.
Früher gab es da keine Parkplätze auf der Straße. Jetzt parkten am Straßenrand drei, vier Autos. Am zweiten Wagen stand eine junge Frau, Mitte 30. Eine Mutter, die ihr Kind zur Bushaltestelle brachte, dachte ich, neugierig auf diese Erscheinung geworden, die da vor mir auf dem Weg auftaucht war. Aber warum stand sie nicht bei ihrem Kind, sondern neben ihrem Auto auf dem Gehsteig?
Eine Zigarette rauchend und einen Kaffeebecher auf dem Autodach, von dem sie hin und wieder einen Schluck nahm, trug sie eine dunkle Jeans und eine dunkelgraue Fleecejacke, deren Zipp vorne bis oben geschlossen war. Ihre Hüften waren erotisch so ausladend, dass mir die Venus von Willendorf aus dem Kunsthistorischen Museum einfiel - aber ohne Wampe -, sondern mit griffigen Speckröllchen, die ihrer Figur - und meinen Augen, die sie wie eine kochende Speise abschmeckten - guttaten. Als ich an sie herankam, fuhr der Schulbus auf den Platz und hielt vor den Kindern. Sie aber blickte weiterhin in ihr Handy, schmunzelte, als würde sie daraus Anzüglichkeiten gustieren. Auch blickte sie nicht auf, als ich keine 50 cm an ihr vorbeilief - registrierte mich überhaupt nicht.
Wenn die wüsste, was ich gerade in Gedanken mit ihr angestellt habe, dachte ich, nachdem ich von ihrer imaginären, Wollust versprühenden Aura abgeperlt war wie von einer Wetterhaut bei Starkregen. Nie wieder hätte sie in meinem Beisein ein Handy in der Hand gehabt!
Einige Schritte von ihr entfernt - sie schon in meinem Rücken -, gab ich “den Blinker raus” und machte eine elegante Kehre.

Mississippi Queen
If you know what I mean
Mississippi Queen
She taught me everything

This lady she asked me
If I would be her man
You know that I told her
I'd do what I can

To keep her lookin' pretty
Buy her dresses that shine

(Mountain “Mississippi Queen”)

Bei meinem Freund Charly hing der lebensgroße Starschnitt von Alice Cooper an der Schranktür. An den Wänden Posters von Led Zeppelin, Deep Purple und Black Sabbath. Wir waren eine Clique von ungefähr 10 Leuten, wovon sich mehr als die Hälfte jeden Tag bei ihm traf. Charly war auf Led Zeppelin - ich eher auf Deep Purple (Gillan, Blackmore, Glover, Paice, Lord). Als ich das Album "Made in Japan" über einen Buchclub bekam (1972 wurde das Album veröffentlicht - ich bekam es ungefähr ein Jahr später), schwang ich mich, nachdem ich "Strange Kind Of Woman" auf dem Live-Doppelalbum gehört hatte, sofort aufs Rad, fuhr zu Charly und sagte: "Das musst du hören!" Für mich war jede Art von anderer Musik bedeutungslos geworden.
Bei Charly spielten wir Karten und Würfel-Poker um Geld - wobei das verlorene Geld in eine Kasse eingezahlt wurde, um damit die Bar in Charlys alten Schrank aufzufüllen. In dem ungefähr 12 Quadratmeter großen Raum hing ständig blauer Zigarettendunst; aus Lautsprecherboxen dröhnte unsere Musik. Wenn Rock-Idole nach Wien fanden, waren wir natürlich live dabei; langhaarig, rockig und gefährlich, mit nietenbesetzten Jeans und hochhackigen Schuhabsätzen.
Eines Tages herrschte Ebbe in der Kasse und natürlich ebenso in der Bar; wir wurden kreativ: Ein Glas Fruchtsaft-Sirup mit Wasser aufgegossen, “half and half” mit 80 %igem Rum, der einzig in der Bar verblieben war, gemischt. Nach ein paar Gläsern lief der Tisch vor mir bergab, als stünde ich - "Man on the Silver Mountain" - on the Silver Mountain ... Stunden später erwachte ich dann, auf der Wiese vor dem Haus liegend ... Gekotzt hatte ich nicht; aber das bamstige Gefühl auf der Zunge verlangte dringend nach einem kühlenden Bier. Obwohl wir noch Schüler waren - zum Ärgernis unserer Lehrer, denen unser Outfit und unsere Aufsässigkeit gegen Autoritäten nicht behagten (hat sich leider noch nicht gebessert) -, bekamen wir im Gasthof beim Schnellbahnhof jederzeit alkoholische Getränke. Aber erst nachdem sie uns dort erwischten, als wir heimlich mitgebrachten Rum in’s bestellte Cola gekippt hatten und Schluck für Schluck auffälliger geworden waren. Von da an waren wir von den Altsäufern unter den Stammgästen zu Jungsäufern erkoren ... “so war das in den Siebzigern, Süße”!

“Und jetzt …?”
“Rock ‘n’ Roll!”
 

aliceg

Mitglied
Lieber GerRey,

deine Geschichte(n) ist (sind) sehr anschaulich geschildert, nimmst uns mit auf eine Zeitreise!

lg aliceg
 

GerRey

Mitglied
Hallo aliceg!

Ich glaube, dass die Anschaulichkeit ein Weg zum Hintergrund des Lesers ist. Jeder weiß, wie etwas ist, und hat seine eigenen Vorstellung davon. Es ist, wie wenn man ein altes Foto anschaut. War man daran beteiligt, erinnert man sich; sieht man es zum ersten Mal, beginnt die Phantasie zu spielen. Und wenn es nichts auslöst, ist es auch gut.

Das hast Du gut erkannt.

Danke.

Schöne Grüße

GerRey
 



 
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