Wiederkehr

5,00 Stern(e) 6 Bewertungen

Mistralgitter

Mitglied
„Ich stecke mir frisches Gelb ins Haar“, riefst du fröhlich vor unserem Aufbruch. Als wir dann durch die alten staubigen Straßenschluchten wanderten von düsteren Dohlen geleitet, trug ich mein Leben auf der Hand. Und dein Haar glänzte goldgelb.
„Früher gab es hier doch Nachtigallen“, sagtest du verwundert.
Jetzt eilte uns das Gekrächze der Dohlen voraus und folgte uns unerbittlich bis ans Ende des Weges, bis nahe an den Rand, bis es nur noch Tiefe gab und keinen Himmel.

Dort zogen die Vögel ihr fahles Federkleid aus, flatterten ungelenk mit ihren faltigen Schwingen und nickten mit ihren kahlen unverständigen Köpfen. Vergilbt war ihre Haut über die Jahre, feiner Wüstenstaub hatte sich in ihre Furchen gelegt. Vergeblich trippelten sie auf papiernen Füßen suchend umher. Sie konnten keinen Mutterboden und kein Vaterland mehr finden. Ihr Land war bis zur Unkenntlichkeit vertrocknet.

„Sie hatten keine andere Wahl“, sagtest du voller Mitleid, und ich war erschüttert. Wir legten ab, was wir mitgebracht hatten, dein frisches Gelb und mein Leben, und bedeckten die Tiefe damit. Du schautest nach den Wolken.
„Endlich ist der Himmel dunkel“, stelltest du zufrieden fest.
„Es wird bald regnen“, rief ich den federlosen Dohlen zu.
Wir überließen sie dem kommenden Regen und kehrten um. Erst später schauten wir zurück.
 

Catty

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

Die Geschichte ist sehr interessant und regt zum Nachdenken an.
Ein kleiner Hinweis, was mit dem lyrischen Ich passiert, wenn es sein Leben ablegt, fände ich gut.

Liebe Grüße,
Catty
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Catty,

vielen Dank, dass du hier gelesen und den Text kommentiert hast. Ach ja, eine gute Bewertung kam ja auch noch von dir!!
Ich weiß, dass ich damit von dem Leser viel verlange, weil alles so offen ist und verklausuliert. Umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn jemand sich daran wagt.
"Das Leben niederlegen" ... das ist natürlich nur ein Bild. Im Text heißt es ja, dass damit "die Tiefe" bedeckt wir, was natürlich auch Bildsprache ist. Mehr will ich nicht sagen, denn sonst müsste ich einen neuen Text schreiben. Aber ich kann verstehen, wenn die Leser zu dem Urteil kommen, dass das hier zu schwierig ist.

Viele Grüße
Mistralgitter
 

molly

Mitglied
Hallo Mistralgitter ,

ich habe Deine Geschichte mit Interesse gelesen. Diese beide Menschen werden auf ihrem Weg von Dohlen begleitet und ich habe den Eindruck, dass die Vögel sich bei jedm Schritt verändern, bis sie zuletzt keine Federn mehr haben. Der Regen könnte Hoffnung und Rettung sein, für die Vögel. Auch für die beiden? Darüber kann sich jeder selbst Gedanken machen. Ein ernster, tiefer Text.

Viele Grüße und einen schönen Sonntag

molly
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mistralgitter,

wieder ein sehr lyrischer und tiefgehender Test von dir. Er hallt sehr lange nach.

Vergilbt war ihre Haut über die Jahre, feiner Wüstenstaub hatte sich in ihre Furchen gelegt. Vergeblich trippelten sie auf papiernen Füßen suchend umher. Sie konnten keinen Mutterboden und kein Vaterland mehr finden. Ihr Land war bis zur Unkenntlichkeit vertrocknet.

„Sie hatten keine andere Wahl“, sagtest du voller Mitleid, und ich war erschüttert.
Bei dieser Stelle musste ich unweigerlich an Flüchtlinge denken.

Liebe Grüße
Manfred
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Manfred,

stimmt, man kann den Text tatsächlich so auslegen, auch wenn ich beim Verfassen derZeilen ganz andere Verhältnisse vor Augen hatte. Aber mir ist das völlig Recht, wenn man eigene Gedanken dazu entwickelt. Am Donnerstag werde ich Gäste haben, da will ich ein paar Texte von mir vorlesen, vielleicht nehme ich die "Wiederkehr" dazu. Bin gespannt, wie sie reagieren.

LG und Danke, auch für die gute Bewertung!
Mistralgitter
 

Bellador

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

ich habe einen Lesezeichen gesetzt, lese immer wieder gerne deinen Text und versuche zu verstehen und interpretieren. Für mich ist das kommende Regen am Ende eine Hoffnung, Regen bringt Leben mit sich.
Wiederkehr. Wiederholende Vorgänge in der Natur?
Mir gefällt diese lyrische Prosa, leider ist meinen Wortschatz noch begrenzt um so schön wie du zu schreiben.

LG Bella
 

Bellador

Mitglied
Ich habe noch darüber nachgedacht. Es gab nur Tiefe, keinen Himmel mehr. Deswegen alles so vergilbt und trocken. Ihr habt die Tiefe mit Leben und frisches Gelb zugedeckt, zusammen. Dann gab es wieder Himmel und Regen...
Habt ihr die Liebe erfrischt, wiederbelebt?
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Bellador,

wie schön, so etwas von dir zu lesen. Danke.
Der Text ist ja sehr offen gehalten, sodass der Leser genug Möglichkeiten bekommt, sich seine Gedanken zu machen.
Und ich glaube, dass du sehr zufrieden sein kannst mit deinem Wortschatz. Auch mit wenigen Worten kann man viel aussagen. Nur Mut!
LG Mistralgitter
 

Ji Rina

Mitglied
Dort zogen die Vögel ihr fahles Federkleid aus, flatterten ungelenk mit ihren faltigen Schwingen und nickten mit ihren kahlen unverständigen Köpfen. Vergilbt war ihre Haut über die Jahre, feiner Wüstenstaub hatte sich in ihre Furchen gelegt. Vergeblich trippelten sie auf papiernen Füßen suchend umher. Sie konnten keinen Mutterboden und kein Vaterland mehr finden. Ihr Land war bis zur Unkenntlichkeit vertrocknet.
An deinen Texten beeindruckt mich immer dieses poetische, diese Leichtigkeit und auf welch spielerische Art du die Geschichten erzählst.
Ja, ich erinnere mich noch an deine früheren Texte.
mh...Wortschatz ist wohl noch lange nicht alles... ;)

Lieben Gruss, Ji
 

Mistralgitter

Mitglied
Liebe Ji Rina,

es freut mich, dass du vorbeischaust und auch noch so nette Worte und Beurteilungen da lässt! Danke!
Meine früheren Texte sind auch alle noch da; deine ja auch, denke ich, besonders an den einen erinnere ich mich, den"eckta Rubino" oder so ... hmm *grübel*.
Wortschatz ist wirklich nicht alles, Sprachgefühl gehört jedenfalls auch dazu, Phantasie / Vorstellungsvermögen, sowas jedenfalls auch.
Was nicht dazu gehört, ist ein Studium in Germanistik oder verwandte Fächer; das kann helfen, muss aber nicht.
Noch nicht einmal eine gute Deutschnote in der Schule :cool:.
Jetzt hätte ich fast den Gruß vergessen.

Also viele Grüße in deinen Abend.
Mistralgitter
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

Ja, so ist es.
Ich kenne das zum Beispiel aus der Musik: Leute die ein abgeschlossenes Studium haben und nicht in der Lage sind, eine selbstkomponierte Melodie zu spielen.

mh...Wortschatz ist wohl noch lange nicht alles... ;)
Hiermit meinte ich natürlich mich - und nicht Bellador.:D
Liebe Grüße,
Ji
 



 
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