Willi

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mehlwurm

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Ich wollte nicht seine Geschichte hören, ich wollte meine finden. Das war der Grund meiner Reise. Einer Reise, für die es keinen Zweck gab, außer der Reise selbst. Ich wusste nichts von Tschechien, mich verband nichts mit dem Land, außer der Lücke in der Geschichte meiner Familie.

Am nächsten Tag ging ich noch ein Mal zum verlassenen Haus meiner Familie zurück. Dieses Mal ging ich alleine. Ich klopfte an die Kellertür. Lange tat sich nichts. Ich hörte nichts aus dem Inneren. Ich wartete geduldig, denn ich wusste, dass es länger dauern würde, bis sich mir die Tür öffnen würde. Ich klopfte auch kein zweites Mal. Ich war mir sicher, dass mein Klopfen gehört worden war.
Langsam, sachte, vorsichtig öffnete sich die Tür. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. »Komm herein«, bat mich leise die Stimme des Mannes, den ich im Dunkeln nicht sehen konnte.
Ich trat in die Dunkelheit des Kellers. Die ersten Minuten sah ich nichts. Ich stand einfach da und spürte die Präsenz des Mannes neben mir. Keiner von uns sagte ein Wort. Erst als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich schemenhaft die Umrisse des Mannes erkennen. Er schien mit dem Hintergrund zu verschmelzen.
Er bat mich in das hintere Zimmer.
»Setz dich doch!«
Ich setzte mich auf das Sofa.
»Möchtest du einen Tee?«
Ich bejahte und ließ meinen Blick schweifen. Mein Blick blieb an den zwei kleinen Kellerfenstern hängen, die in den Garten hinausführten. Frisches Grün leuchtete vor dem Fenster und tauchte den Keller in diffuses Licht. Das Zimmer war geschmackvoll eingerichtet. Das handwerkliche Geschick des Mannes erkannte ich an seiner Fähigkeit, aus dem Wenigen, das er besaß, eine behagliche Wohnung zu gestalten. Im Zimmer gab es nicht viel. Ein Bett, ein Regal, einen Sessel, einen Tisch und das Sofa, auf dem ich saß. In der rechten Ecke des Raums war eine kleine Kochnische verborgen, aus der er mit zwei dampfenden Tassen zurück kam. Der Mann registrierte meine Blicke durch den Raum
»Alles, was ich zum Leben brauche«, sagte er. »Und natürlich Emma, meine Liebe.«
Er stellte eine Tasse vor mich auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber auf den Sessel.
»Zucker?«
»Nein danke.«
»Ich trinke meinen auch ohne.«
Ich blies in meine Tasse, nahm den ersten Schluck. Earl Grey. Mein Lieblingstee.
»Ich habe mir schon gedacht, dass du noch einmal kommen würdest.«
Ich blickte auf, sah in seine Augen. Klare, wache, blaue Augen.
»Ich musste noch einmal kommen. Doch jetzt weiß ich nicht, wie ich beginnen soll.«
»Lass dir Zeit, Mädchen, trink erst einmal deinen Tee.«
Mädchen. Ich war 28! Ich blickte in sein Gesicht. Nicht jung, nicht alt. Zeitlos.
»Wie alt bist du?«, fragte ich ihn.
Er lachte:
»Das spielt keine Rolle. Ich bin vor langer Zeit gestorben.«
Seine Antwort erschreckte mich nicht.
»Wer warst du, als du noch gelebt hast?«
»Du fürchtest dich gar nicht, mit einem Toten zu sprechen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nun gut, umso besser. Ich bin der Vater deines Großvaters.«
Ich dachte nach.
»Der, der nie in den Geschichten meiner Familie aufgetaucht ist? Der, den niemand von uns kennt? Der, der nicht einmal einen Namen hat?«
»Ja, der bin ich. Dein Urgroßvater.«
Ich lehnte mich zurück.
»Weiß mein Opa von dir?«
»Nein, du bist die Einzige, die von mir weiß. Dein Opa ist der Grund, warum ich hier im Keller lebe.«
»Warum?«
»Das ist eine lange schmerzvolle Geschichte.«
»Deswegen bin ich zurückgekommen.
Der Mann begann mit sanfter Stimme zu erzählen:

»Ich wurde 1910 geboren, in Böhmen, Teil von Österreich-Ungarn, wie es damals so schön hieß. Ich war weder Österreicher noch Tscheche, ich war Böhme. Mein Vater besaß fünf Hektar Land, das wir bebauten. Meine Mutter starb bei meiner Geburt.
„Zwei Hände weniger auf dem Hof“, klagten die Leute im Dorf. „Der arme Mann“.
Meine Tante, die unverheiratete Schwester meines Vaters, kümmerte sich um mich.
Sie könne keine Kinder kriegen, flüsterten die Leute im Dorf. Gott habe sie für ihre Sünden bestraft.
„Was ist eine Sünde?“, fragte ich sie eines Tages beim Abendessen.
„Sünde ist das, was die Menschen nicht sehen wollen.“
Ich fragte mich, was die Leute an meiner Tante, die wie eine Mutter für mich war, nicht sehen wollten. War ihr rotes, lockiges Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel, wenn sie es nicht aufgesteckt hatte, nicht wunderschön? War ihr Lächeln, mit dem sie mich jeden Morgen weckte, nicht herzerwärmend schön? War ihr Tanz, den sie an manchen Tagen mitten am helllichten Tag tanzte und zu dem nur sie die Musik hörte, nicht bezaubernd?
„Annla, was tanzt du?“, fragte ich.
Verwirrt blickte sie mich an, als wäre sie gerade aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Wie beim Schlafen.
„Tanzen muss wie Träumen sein“, dachte ich.
„Ach nichts, mein Schatz, ich erinnere mich nur an ein Lied, das ich vor langer Zeit einmal gehört habe.“
Sie lächelte, aber es war ein anderes Lächeln als das Lächeln am Morgen. Dann kehrte sie zu ihren Arbeiten zurück. Wie jeden Tag. Waschen, Kochen, Putzen. Auch wenn ich sie den ganzen Tag heimlich beobachtete, konnte ich sie an dem Tag nicht mehr tanzen sehen. Ich fragte nicht wieder, denn ich sah sie gerne tanzen.
„Die ist nicht ganz richtig im Kopf“, sagten die Leute nach der Messe am Sonntag.
In den nächsten Tagen versuchte ich meiner Tante in den Kopf zu sehen. Aber egal, wie sehr ich mich bemühte, ich konnte nichts sehen. Ich konnte nicht sehen, was falsch war. Ich konnte nicht einmal die Musik sehen. Ich versuchte es bei anderen Menschen. Aber auch bei ihnen konnte ich nicht in den Kopf sehen. Ob sie auch Musik in ihren Köpfen hatten? Ich starrte auch das Bild meiner Mutter, das im Esszimmer hing, lange an. Aber auch dem Portrait, das meine Tante gemalt hatte, konnte ich nicht in den Kopf sehen.
Das Bild zeigte meine Mutter in ihrem Hochzeitskleid. Sie hatte es extra für das Portrait noch einmal angezogen, erzählte mir meine Tante. Es sei der glücklichste Tag in ihrem Leben gewesen, als sie den Bund der Ehe mit meinem Vater einging. Und so wolle sie in Erinnerung behalten werden. Glücklich. Auf alle Zeiten.
„Sie war sehr schön, deine Mutter“, sagte meine Tante. „Und du hast ihre Augen geerbt. Ihre kristallklaren Augen, so rein wie ihr Herz. Weißt du, durch die Augen kann man den Menschen in die Seele blicken.“
Ich schaute in die Augen meiner Tante. Ihre Seele war grün, wie der Sumpf hinter unserem Haus. Wenn sie lächelte, verwandelte sich der Sumpf in ihrer Seele in frisches Grasgrün. Wie der Rasen vor diesem Fenster, siehst du es?«

Ich öffnete die Augen, die ich während der Erzählung geschlossen gehalten hatte, um nicht von meinen inneren Bildern abgelenkt zu werden.
»Kennst du jemanden mit solchen Augen?«
Ich schüttelte den Kopf.

»Ich ansonsten auch nicht"
, fuhr er fort. „Meine Tante war eine einzigartige Frau. Sie war wie eine Mutter für mich, ohne den Platz meiner Mutter einnehmen zu wollen. Sie erzählte mir von meiner Mutter. Meiner Mutter mit der reinen Seele, die zu früh diese Erde verließ, selbst fast noch ein Kind… Niemand gab mir die Schuld.
„Viele Frauen sterben bei der Geburt“, erzählte mir meine Tante.
„Ist das auch wegen der Sünde?“, fragte ich.
„Nein, mein Schatz, das ist keine Sünde. Niemand hat Schuld. Frauen sterben, weil sie nicht richtig versorgt werden können. Frauen sterben, weil wir das Wissen um die Geburt verloren haben. Ich war bei deiner Mutter, als sie starb.
'Lebt mein Kind?', fragte deine Mutter mich mit schwacher Stimme.
'Es lebt und ist gesund. Es ist ein Junge.'
Ich legte dich auf ihren Bauch. Sie lächelte und schloss die Augen. Ich ließ dich auf ihrem Bauch liegen, bis die Wärme aus ihrem Körper gewichen war. Sie hatte zu viel Blut während der Geburt verloren, das sich nicht stillen ließ. Ich hatte alles versucht, aber ich wusste, dass auch ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. In manchen Familien kommt das einfach vor. Und daran hat niemand Schuld.
Ich nahm dich in die Arme und ging zu deinem Vater.
Er sprang auf:
'Geht es ihr gut?'
'Sie hat nicht überlebt. Ich habe alles getan, was ich konnte.'
Dein Vater umarmte mich.
'Danke', sagt er.
Er weinte. Es war das einzige Mal, dass ich deinen Vater weinen sah. Er ging ins Zimmer deiner Mutter, saß lange an ihrem Bett und sprach mit ihr. Er sprach mit ihr, als wolle er sie auf ihrer Reise begleiten.
Ich wusch dich, gab dir zu trinken. Von meiner Mutter hatte ich gelernt, wie man Neugeborene füttern kann, deren Mütter nicht genug Milch hatten. Du schliefst in meinen Armen ein. Ich ging zu deinem Vater, der noch am Bett deiner Mutter saß, jetzt schweigend.
'Dein Sohn', sagte ich und legte dich in seine Arme.
Er lächelte, nahm dich sanft und küsste dich auf die Stirn. Vorsichtig, um dich nicht zu wecken.
'Willkommen, mein Sohn, in dieser Welt.'
Mit dir im Arm saß er die ganze Nacht neben deiner Mutter. Wenn du Hunger hattest, gab ich dir die Flasche. Ansonsten ließ ich euch alleine. Es war eure Zeit, eure einzige Zeit zu dritt.“
„Hat mein Vater meine Mutter geliebt?“, fragte ich meine Tante ein ums andere Mal.
„Ja, er hat sie geliebt.“
„Wie sehr? Wie sehr hat er sie geliebt?“
„Er hat sie so sehr geliebt, dass er sie gehen lassen hat, als es für sie Zeit war zu gehen.“
„Liebt er auch mich?“
„Ja, er liebt auch dich, mein Schatz.“
„Wie sehr? Wie sehr liebt er mich?“
„Er liebt dich so sehr, dass er für dich da war, als es für dich Zeit war, auf die Erde zu kommen.“
„Und du, Annla, liebst auch du mich?
„Ja, auch ich liebe dich, Johann.
„Wie sehr? Wie sehr liebst du mich?“
„Ich liebe dich so sehr, dass ich für dich wie eine Mutter bin, ohne deine Mutter zu sein.“
„Annla?“
„Ja.“
„Ich liebe dich auch.“
Der Große Krieg kam auch in unser Haus, als ich noch zu klein war, um zu wissen, was Krieg ist.
„Was ist Krieg, Annla?“
„Krieg ist das Gegenteil von Liebe.“
Mehr sagte sie dazu nicht.
Mein Vater wurde eingezogen. Am Abend, bevor er ging, saß ich auf seinem Schoss.
„Papa, warum bekämpfst du die Liebe?“
„Die Liebe?“
„Annla sagt, Krieg ist das Gegenteil von Liebe.“
Er dachte nach. Das konnte ich sehen, weil er seine linke Augenbraue nach oben zog. Schau, das sah in etwa so aus…«

Der Mann mir gegenüber zog die linke Augenbraue in einer geraden Linie nach oben, so dass sich drei Falten über der Augenbraue bildeten.
»So hat mein Vater immer geschaut, wenn er nachdachte.«
Er lächelte.

»An dem Abend fragte ich ihn wieder nach seiner Liebe zu mir.
„Vater, liebst du mich denn nicht?“
Er antwortete:
„Doch, mein Sohn, ich liebe dich über alles.“
„Wie sehr? Wie sehr liebst du mich?“
„Ich liebe dich so sehr, dass ich mir nichts sehnlichster wünsche, als jeden Abend mit dir so auf diesem Sessel zu sitzen wie heute Abend.“
„Und liebst du mich denn nicht so sehr, dass du hierbleiben kannst?“
„Nein, das geht leider nicht. Ich muss gehen. Aber ich liebe dich so sehr, dass ich wiederkomme. Ich verspreche es dir.“
Anfangs fragte ich meine Tante jeden Tag, wann mein Vater wiederkommen würde.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht, mein Schatz“, war ihre tägliche Antwort.
„Meinst du, er liebt mich nicht mehr?“
„Doch, er liebt dich.“
„Wie sehr? Wie sehr liebt er mich?“
„Er liebt dich so sehr, dass er in jedem Augenblich daran denkt, wann er endlich wieder zu dir zurückkommen kann.“
Es wurde Winter. Weihnachten kam mein Vater für drei Tage nach Hause. Ich erkannte ihn kaum wieder.
„Bleibst du jetzt für immer?“
„Nein, das kann ich leider nicht.“
Als er wieder ging, hörte ich auf zu fragen, wann er wiederkommen würde. Meine Tante erzählte mir weiterhin die Geschichte meiner Geburt, wenn ich sie darum bat, aber auch das tat ich immer seltener. Auch das Bild meiner Mutter betrachtete ich immer weniger. Meine Tante fragte mich nicht danach.
Ich besuchte bereits das dritte Schuljahr, als mein Vater nach Hause kam.
„Diesmal bleibe ich für immer“, sagte er, ohne dass ich danach gefragt hätte.
Ich sagte nichts.
Er arbeitete wieder am Feld, meine Tante weiter im Haus. Es war wie vor dem Krieg. Nur nachts hörte ich ihn manchmal schreien und die sanfte Stimme meiner Tante, die zu ihm sprach, so wie sie mit mir früher, als ich noch klein war, vor dem Einschlafen gesprochen hatte. Morgens war alles wie immer. Wir frühstückten gemeinsam. Dann ging ich zur Schule. Ich war in allen Fächern ein guter Schüler, besonders in Deutsch.
Als ich 15 Jahre alt war, heiratete mein Vater erneut. Er hängte das Portrait meiner Mutter ab und verwahrte es in der Schachtel am Dachboden, in der er auch die anderen Erinnerungen aufbewahrte: ihre Hochzeitskerze, ihr Hochzeitskleid, ihre Hochzeitseinladung, ihr selbstgewebter Teppich und jetzt auch ihr Portrait. Ich vermisste es nicht. Ich sah meiner Mutter sowieso nicht mehr in die Seele.
Die neue Frau brachte ihre Tochter Emma aus erster Ehe mit ins Haus. Emma war zwei Jahre jünger als ich. Ihr Vater war im Krieg gefallen.
„Ob ihr Vater sie weniger geliebt hatte, als mein Vater mich?“, schoss es mir durch den Kopf. Ich verwarf den Gedanken. Was hat der Tod schon mit der Liebe zu tun?
Ich wusste jetzt, was Liebe war. Ich liebte Emma vom ersten Tag unserer Begegnung an. Und die Liebe hatte nichts mit dem Tod zu tun. Nein, ich liebte ihre Lebendigkeit. Ich liebte es, wie ihr die lockigen Haare ins Gesicht fielen, wenn sie sprach. Ich liebte es, wie ihre Nasenspitze bebte, wenn sie lachte. Ich liebte ihre großen „Hasenzähne“, wie sie sie nannte. Ich konnte den Blick gar nicht von ihr lassen, als wir das erste Mal gemeinsam aßen. Mein Vater, seine neue Frau, meine Tante und Emma, das war jetzt meine neue Familie.
Emma liebte mich auch, sagte sie mir am zweiten Tag. Wir saßen auf meinem Kletterbaum. Ich hatte ihr die Umgebung um unser Haus gezeigt. Meine Felder, meine Wiesen, meine Bäume, meine Blumen, meine Vögel, meine Käfer und meinen Teich. Wir saßen uns gegenüber auf zwei der oberen Äste, die gerade noch stabil genug waren, um uns zu tragen.
„Ich liebe dich“, sagte sie.
Einfach so. Ohne Umschweife, ohne Einleitung, ohne Verpackung. So war Emma. Direkt, geradeheraus und ehrlich. Immer ehrlich, auch wenn andere Menschen es manchmal nicht hören wollten. Einfach nur „Ich liebe dich“, als gäbe es nichts anderes auf der Welt zu sagen. Ich wankte, fast wäre ich vom Ast gefallen.
„Wie?“, sagte ich, als hätte ich sie nicht verstanden.
„Ich liebe dich“, wiederholte sie.
Ich starrte sie stumm an. Sie regte sich nicht, sagte nichts, sah mir nur in die Augen. Ich schaute weg.
„Der Johann mit seiner Schwester…“, flüsterten die Leute. „In dieser Familie sei ja gar nichts heilig. Aber was solle man sich auch von dieser Familie erwarten… und dann auch noch ohne Mutter. Der arme Junge! Und jetzt die neue Frau, aus der Stadt! Da kann ja nichts Gutes dabei herauskommen."
„Hör nicht auf sie!“, sagte meine Tante. „Sie sind nur neidisch und schieben die Moral vor, um sich besser zu fühlen als andere. Sie gönnen dir die Liebe nicht.“
Und nach kurzem Zögern. „Und den anderen auch nicht.“
„Aber Annla, wen liebst du?“
„Ich liebe dich und meinen Bruder.“
„Und sonst? Wen liebst du sonst noch?“
„Ich liebe deine Mutter und beginne, Agnes und Emma zu lieben.“
„Nein, das meine ich nicht!“
„Was meinst du dann?“
„Ich meine die romantische Liebe, die Liebe zu einer Person. Warum liebst du niemanden so, Annla?“
„Ich liebe jemanden so, Johann.“
Ich schwieg, starrte sie an.
Sie blickte mir in die Augen.
„Du fragst dich wen, Johann. Du fragst dich, wen könnte deine Tante lieben, stimmt’s?“
Ich nickte.
„Das ist eine lange Geschichte. Jetzt habe ich keine Zeit, sie dir zu erzählen. Ich muss das Abendessen vorbereiten. Ich erzähle sie dir am Sonntag. In Ordnung?“
Ich nickte. Ich wusste, sie würde mir die Geschichte nicht erzählen. Nicht am Sonntag, nie.
Am nächsten Sonntag musste sie dringend ins nächste Dorf. Es gab Komplikationen bei einer Geburt. Danach sah sie zu erschöpft aus, um sie nach ihrer Geschichte zu fragen. Am darauffolgenden Sonntag fuhr ich mit Vater, seiner Frau Agnes und Emma in die Stadt. Als wir abends zurückkehrten, erwähnte meine Tante ihre Geschichte mit keinem Wort. Ich fragte sie nicht danach. Am Sonntag darauf fand ich sie nicht in der Küche, nicht im Esszimmer, nicht im Garten. Abends, nachdem ich den Tag mit Emma in den Wiesen verbracht hatte, rief meine Tante nach mir.
„Johann, komm doch bitte mal in mein Zimmer!“
Seit meiner Kindheit war ich nicht mehr in ihrem Zimmer gewesen. Ich hatte fast vergessen, dass es existierte. Ein kleiner spartanischer, jedoch behaglicher Raum.
„Ich habe deine Bitte, die Geschichte meiner Liebe zu hören, nicht vergessen. Aber ich kann nicht mit dir darüber sprechen. Jetzt nicht und wahrscheinlich niemals. Es ist immer noch zu schmerzhaft für mich.“
Sie schwieg, sah mich an. Ich senkte den Blick. Ich hatte es ja gewusst, ich hatte es in ihren Augen gelesen.
Sie nahm einen tiefen Atemzug:
„Aber weil ich dich so sehr liebe, dass ich immer ehrlich zu dir sein will, habe ich dir meine Geschichte aufgeschrieben. Nimm!“
Sie hielt mir einen Umschlag entgegen.«


Der Mann stand auf, ging zum Regal.
»Ich muss ihn noch haben, den Umschlag.«
Ich sah ihm dabei zu, wie er in einer Schachtel kramte. Dann kam er mit einem Umschlag zurück. Er hielt ihn vorsichtig in der Hand, als könnte er zu Staub zerfallen wie ein archäologisches Fundstück. Er schwieg. Ich sah mir den Umschlag an. Beige, ein Standardformat. Nichts stand darauf.
»Ich kann ihn dir nicht sofort vorlesen. Ich erzähle dir erst, wie es weitergegangen ist an jenem Abend, als ich den Umschlag von meiner Tante bekam.«
Ich nickte.

»Ich nahm den Umschlag meiner Tante. Schweigend. Sachte, als wäre er zerbrechlich wie Glas. Schweigend verließ ich ihr Zimmer, schloss die Tür leise hinter mir. Mit dem Umschlag in der Hand ging ich in mein Zimmer, setze mich an meinen Tisch, wechselte auf mein Bett. Ich hielt den Umschlag in der Hand, als wollte ich ihn wiegen. Der Umschlag war leicht, federleicht. Und doch schaffte ich es nicht, ihn zu öffnen. Ich hatte Angst. Was würde ich darin entdecken? Ich erinnerte mich an die Leute, die von Sünde sprachen. Welche Geschichte meiner Familie würde sich vor mir auftun, welcher Graben, welcher Abgrund, welches Geheimnis? Ich legte den Umschlag beiseite. Ich war neugierig, aber meine Angst war größer. Ich legte den Umschlag unter mein Kopfkissen. Ich saß auf meinem Bett, bewegte mich nicht und starrte die Wand an. So saß ich noch, als meine Tante mich zum Abendessen rief.
Ich setzte mich gegenüber von Emma an den Tisch.
„Was ist mit dir?“, fragte sie, nachdem ich mehrere Minuten am Tisch geschwiegen hatte.
„Ach nichts.“
„Ich habe dir eine Frage gestellt, und du scheinst sie nicht mal gehört zu haben. Also sag nicht, dass nichts ist!“
„Entschuldige, ich habe nachgedacht.“
„Und über was hast du nachgedacht?“, fragte Emma ungeduldig.
„Nicht jetzt, Emma.“
Sie schob die Unterlippe über ihre Oberlippe und sagte nichts mehr.
Meine Tante brachte die Suppe. Ich schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ich wollte nichts in ihnen sehen.
„Danke“, sagte ich kaum hörbar, als sie mir Suppe in den Teller goss.
Emma sagte noch immer kein Wort. Mein Vater erzählte von dem Treffen mit dem Bauernbund. Seine Frau lachte. Mein Vater konnte gut Menschen imitieren. Ich schwieg das gesamte Essen. Und Emma auch.
Ich verließ nach dem Essen sofort den Tisch und stürmte in mein Zimmer, ohne auf Emmas Rufe zu achten. Ich setzte mich auf mein Bett, atmete ein paar Mal tief durch, öffnete den Umschlag und las:


Wir lernten uns kennen, als ich so alt war, wie du jetzt bist. In unserem Dorf wurde, wie jetzt auch noch jedes Jahr, das Maifest gefeiert. Dort sahen wir uns zum ersten Mal. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir tanzten die ganze Nacht. Ich hatte noch nie ein so vollkommenes Glück in meinem Leben erlebt wie in jener Nacht. Danach trafen wir uns jeden Tag, den ganzen Sommer hindurch. Wir liefen durch die Wiesen, unser Lachen erfüllte die Luft. Wir erzählten uns Geschichten und spielten mit den Kätzchen, die erst vor wenigen Wochen geboren worden waren. Daheim schrieb ich Gedichte, über die Liebe, die ich empfand. Nachts, wenn wir uns heimlich trafen, tauschten wir sie aus. Vor dem Zubettgehen las ich die Briefe. Meiner Liebe galt der erste und der letzte Gedanke des Tages; und allen Gedanken dazwischen. Wir wussten es beide, auch wenn wir es noch nie zuvor erlebt hatten: Unsere Begegnung war, als hätten wir uns selbst in den Spiegel geblickt. So ging es den ganzen Sommer.

Im Herbst wurde es schwieriger, uns zu treffen. Nachts wurde es kalt. Dennoch vertiefte sich unsere Beziehung. Wir teilten alles, auch unsere Ängste, unsere Alpträume und unsere Wut, dass wir unsere Liebe verstecken mussten. Eines Nachts küssten wir uns, und es war, als würde ich die Sterne berühren. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an diesen Kuss. Wir sprachen nie über die Zukunft, denn wir wussten, wir hatten keine. Es gab keine Versprechungen, es gab keinen Trost. Dafür genossen wir die Gegenwart, hielten uns an jedem Grashalm der gemeinsam verbrachten Zeit fest, als könnten wir die Sonne daran hindern, wieder aufzugehen.

Als mein Vater eines der Liebesgedichte fand, schlug er mich. Es war das einzige Mal, dass er mich je schlug. Er schrie nicht, er sagte nichts. Er schlug mich nur einmal, in mein Gesicht. Ich weinte nicht. Ich blickte ihn nur an. Er drehte sich um und verließ den Raum. Wir sprachen nie wieder darüber.
Meine Liebe wurde fortgeschickt in ein Internat nach Prag, hieß es. Wir sahen uns nie wieder.

In der Nacht vor unserer Entdeckung sangen wir gemeinsam ein Lied und tanzten dazu.
Johann, das Lied, das ich nach wie vor in meinem Herzen hören kann, ist dieses Lied der Liebe.

Der Liebe meines Lebens.
Der einzigen.
Ihr Name ist Irene.

Verstehst du jetzt, Johann, warum ich nur an die Liebe glauben kann – und an sonst nichts?
Anna


Irene. Ich faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag. Irene und Anna. Anna und Irene. Ich legte den Brief unter mein Kopfkissen und ließ mich darauf sinken. Irene. Wie mochte Irene aussehen? Wie Irene wohl war? Die Liebe des Lebens. Die einzige Liebe. Emma.
Ich hatte Emma heute mit meinem Schweigen verletzt. Ich bekam Angst. Was, wenn sie mich jetzt verlassen würde? Würde es mir dann gehen wie meiner Tante? Die einzige Liebe hat sie geschrieben. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, jemand anderen als Emma zu lieben. Emma – was sie jetzt wohl tat? Ob sie auch an mich dachte? Ob sie noch böse war? Emma! Wie konnte Liebe nur immer so kompliziert sein? Und immer die Leute. Die Leute, die einem die Liebe nicht gönnten, weil sie sie sich selbst nicht erlaubten. Mir war egal, was die Leute dachten. Ich beschloss, mir meine Liebe nicht kaputt machen zu lassen! Nein! Sollten die Leute doch reden, was sie wollten. Meine Liebe zu Emma war stärker als ihr Neid!
„Emma, versteh mich doch!“, sagte ich am nächsten Tag nach dem Frühstück zu Emma. „Ich bin nicht bereit, unsere Liebe zu verstecken, nur weil es in den Augen der Leute Sünde ist.“
„Aber Johann, hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, was es heißt, ein Außenseiter zu sein? Für meine Mutter als Zugereiste ist es so schon schwer genug. Ich will es ihr nicht noch schwerer machen.“
„Es geht um unsere Liebe, Emma. Die Leute sind nur zu feige, um an die Liebe zu glauben. Aber ich nicht! Ich bin nicht feige, ich verstecke mich nicht!“
„Was ist nur in dich gefahren, Johann? Gestern beim Abendessen warst du auch schon so komisch. Seit wann ist es dir wichtiger, unsere Liebe zu zeigen als sie zu fühlen? Du fühlst sie doch noch immer, oder?“
„Natürlich Emma, das ist ja gerade der Punkt. Ich glaube nur an die Liebe. Aber langsam zweifle ich daran, ob du an sie glaubst, wenn du sie vor allen verstecken willst. Emma, wie sehr liebst du mich eigentlich?“
Sie blitzte mich wütend an.
„Johann, hör auf damit!“
„Warum? Weißt du es etwa nicht? Nein? Sag mir Emma, wie sehr liebst du mich?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich bin auf jeden Fall nicht bereit, meiner Mutter das Leben zur Hölle zu machen.“
Zwei Jahre später war Emma schwanger. Ein uneheliches Kind. Von ihrem Bruder, zumindest was die Sichtweise der Leute betraf. Emma und ihre Mutter blieben zwar nach wie vor „die Fremden aus der Stadt“, bei diesem Umstand wurde Emma jedoch zu „meiner Schwester“. Wir wussten, dass die Leute hinter unserem Rücken „Inzest“ flüstern würden. Wir wussten auch, woher die Kinder kamen. Wenn du verstehst, was ich meine...«


Der Mann lächelte.

»Wir wussten also, was wir taten. Aber unsere Liebe war größer. Unsere Liebe war größer als alle Vorurteile, als alle Schikanen. Unsere Liebe war so groß, dass wir ein Kind der Liebe zeugten.
Beim Abendessen erzählten wir unserer Familie von Emmas Schwangerschaft. Wir hatten nicht mit Freude gerechnet wie sie ansonsten Schwangerschaften zuteilwerden. Aber zumindest hatten mein Vater und Emmas Mutter unsere Beziehung geduldet. So blind konnten sie doch gar nicht sein!
Ich kam ohne Umschweife zur Sache:
„Emma ist schwanger. Und zwar von mir.“
Dann brach ich ab, der Mut hatte mich verlassen. Ich blickte in die Runde, niemand sagte ein Wort, auch Emma nicht. Bis meine Tante das Wort ergriff:
„Das freut mich!“
„Das freut dich?“, schrie mein Vater plötzlich zum Leben erwacht.
Mein Vater erhob nie die Stimme. Er hatte eine eher leise Stimme, eine ruhige Art. Ihn konnte nie etwas aus der Ruhe bringen.
Jetzt aber schrie er:
„Wie kannst du dich darüber freuen? Weißt du, was das bedeutet, Anna? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“
„Das habe ich“, erwiderte sie mit ruhiger Stimme und blickte ihm in die Augen.
Er sah weg, wendete sich zu mir:
„Ihr könnt das Kind nicht bekommen. Rede mit deiner Tante, Johann, sie weiß, was man machen kann.“
Jetzt war es an mir zu schreien:
„Ich will aber nichts machen, Vater. Ich will dieses Kind. Ich will dieses Kind mit Emma. Ich liebe Emma.“
Schweigen durchkämmte, zerpflügte den Raum. Die Stille nahm mir die Luft zum Atmen.
„Und Emma, willst du auch das Kind bekommen?“, fragte meine Tante schließlich mit sanfter Stimme.
Emma nickte. Dann sagte sie mit kaum hörbarer Stimme:
„Ich will dieses Kind. Es ist eine Frucht unserer Liebe.“
Emmas Mutter weinte leise Tränen.
Danach wurde am Abendtisch nichts mehr gesprochen.
Emmas Bauch wuchs ebenso wie das Gerede der Leute. Mir war es egal. Ich würde Vater werden. Ich bekam ein Kind mit der Frau, die ich liebte. Sollten die Leute doch reden! Mein Vater und Emmas Mutter verloren kein Wort mehr über die Schwangerschaft.
Eines Nachts hörte ich meinen Vater schreien. Ich fragte mich, ob er wieder vom Krieg träumte. Das hatte aufgehört, als Emmas Mutter zu uns gezogen war. Ich hörte die besänftigende Stimme meiner Tante. Sie sang nicht, sie redete sanft auf meinen Vater ein. Sie sang nicht. Ich öffnete die Augen.
„Hör auf zu schreien, du weckst ja alle auf. Außerdem hast du getrunken“, hörte ich meine Tante jetzt lauter sagen.
Die Tür wurde geschlossen. Mein Vater trank nie. Ich stieg aus meinem Bett, schlich mich aus dem Zimmer. Mein Vater redete jetzt leiser. Ich konnte nichts verstehen. Die Stimmen kamen aus dem Zimmer meiner Tante, wo ich meinen Vater noch nie gesehen hatte. Ich legte das Ohr an die Tür.
„Es geht einfach nicht. Wie stellen sie sich das vor? Die Leute reden schon jetzt kaum mehr mit uns“, hörte ich die Stimme meines Vaters sagen.
„Vergiss die Leute!“
„Ich weiß, was du von den Leuten hältst, Anna, aber immerhin sind sie unsere Nachbarn. Wir sind auf sie angewiesen.“
„Die beruhigen sich schon wieder. Das solltest du langsam wissen. Ihre Gedanken werden von anderen Ereignissen eingenommen werden, sobald etwas Gras über die Sache gewachsen ist“, sprach meine Tante mit ruhiger Stimme.
„Aber wie soll denn Gras über die Sache wachsen? Erklär mir bitte, wie Gras über ein Kind wachsen soll, das wächst, in der Gemeinde groß wird. Die Sache wird immer größer. Ein Kind, das ist nicht wie…“, er hielt inne.
„Nicht wie bei Irene und mir meinst du, nicht wahr? Irene, die weggeschickt, aus dem Blickfeld der Leute entfernt wurde. Aus den Augen aus dem Sinn. Ist es das, was du sagen willst, Anton?“
Meine Tante wurde lauter.
„Tut mir leid, Anna, das wollte ich nicht“, sagte mein Vater jetzt besänftigend.
Ich hörte meine Tante tief einatmen:
„Es ist in Ordnung. Aber du solltest es einfach besser wissen, Anton. Du hast mich damals aufgenommen, gegen alles Gerede der Leute konnte ich in deinem Haus ein Zuhause, eine Zuflucht finden. Du hast mich gegen alle Schmähungen der Leute verteidigt, weißt du noch?“
„Ich weiß, und ich habe es nie bereut.“
Ich trat einen Schritt von der Tür zurück. Dies war eine persönliche Sache zwischen meinem Vater und meiner Tante, nicht für meine Ohren bestimmt. Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich ins Bett und schloss die Augen. Ich dachte an Emma, an ihren immer dicker werdenden Bauch. Emma, die Frau, die ich liebte. Emma, die unser Kind unter ihrem Herzen trug. Emma. Ich schlief ein.
Unser Kind wurde an einem Sonntag geboren, mit Hilfe meiner Tante, die Emma als Hebamme zur Seite stand. Ein gesunder, kräftiger Junge. Mein Junge, unser Junge! Ich schloss ihn in die Arme, hielt Emmas Hand. Sie lächelte. Mein Vater kam ins Zimmer.
Emma strahlte ihn an:
„Ein Junge“, sagte sie, „ein kräftiger, gesunder Junge.“
Mein Vater warf Emmas Mutter über das Bett einen Blick zu. Sie nickte fast unmerklich.
„Ihr könnt das Kind nicht behalten. So leid es mir tut, es ist nicht möglich“, sagte er. „Agnes und ich sind uns einig, ihr müsst das Kind in eine Pflegefamilie geben.“
„Was?“, schrie ich.
Emma weinte. Sie streckte ihre Hand nach dem Kind aus. Meine Tante legte es ihr auf die Brust.
„Nein“, sagte sie und weinte.
„Das könnt ihr nicht tun!“, schrie ich.
„Es ist das Beste“, sagte mein Vater. „Das Beste für alle. Wir haben viel darüber nachgedacht. Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen. Aber wir haben eine nette Pflegefamilie gefunden.“
„Das könnt ihr nicht tun! Das ist mein Kind! Unser Kind!“, schrie ich.
Emma weinte immer heftiger. Ihre Mutter wischte ihr die Tränen beiseite. Emma schlug die Hand ihrer Mutter weg.
„Nein“, schrie sie, „Nein. Nein. Nein!“7Das Kind schrie. Ich schrie. Emma schrie.
Meine Tante sagte nichts. Sie starrte meinen Vater bloß an. Dann verließ sie den Raum.
„Es ist das Beste“, sagte mein Vater mit besänftigender Stimme.
„Das Beste!“, schrie ich mit sich überschlagender Stimme. „Was soll daran gut sein, dass ihr uns das Kind stehlt? Das Kind wegnehmt, das wir beide lieben?“
„Liebe alleine reicht nicht. Es ist das Beste. Es geht nicht um uns. Es geht nicht um euch. Versteht doch, es geht um das Kind. Es ist das Beste für das Kind“, sagte mein Vater immer noch ruhig.
Emma schrie lauter:
„Nein. Nein. Nein!“
Hundertmal. Tausendmal.
Meine Tante kam ins Zimmer, nahm den schreienden Jungen aus den Armen von Emma. Sie trug ihn aus dem Zimmer.
„Denkt doch auch an den Jungen! Er ist noch klein. Die Leute werden ihn zerreißen. Er ist unschuldig, klein, ungeschützt. Er ist den Leuten ausgesetzt. Denkt doch nicht nur an euch!“
Ich starrte meinen Vater an. Emma schrie noch immer. Emmas Mutter sagte nichts.
Ich verließ den Raum, ging zu meiner Tante, zu meinem Jungen. Unserem Jungen. Sie legte ihn mir in die Arme. Ich weinte. Ich weinte um meinen Jungen. Ich weinte um Emma. Ich weinte um mich. Ich weinte um uns. Ich weinte um meine Tante. Ich weinte um meine Mutter. Ja, ich weinte auch um meinen Vater und um Emmas Mutter. Ich gab meiner Tante den Jungen zurück und vergrub mich in ihrem Schoss, wie ich es getan hatte, als ich klein war und nachts Angst hatte. Sie streichelte meinen Kopf. Und sie sang. Sie sang ihr Lied. Ihr Lied von der Liebe.
„Krieg ist stärker als Liebe, oder?“, sagte ich, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte.
Sie schwieg, streichelte meinen Kopf. Mein Kind, unser Kind schlief in ihren Armen.
Emma hatte aufgehört zu schreien.
„Ich gehe zu Emma“, sagte ich und stand auf. Meine Tante wiegte den Jungen, der friedlich schlief. Ich ging in Emmas Zimmer. Sie war alleine. Sie schlief. Ich legte mich neben sie ins Bett. Neben die Frau, die ich liebte. Die einzige Frau. Emma.
Am nächsten Tag war unser Junge schon fort, als wir erwachten. Meine Tante ebenfalls.
„Anna hat sich entschieden. Sie lebt jetzt in der alten Mühle am Fluss“, sagte mein Vater.
Wir fragten nicht nach unserem Jungen. Wir wollten nichts hören. Wir wollten nichts wissen. Wir wollten ihn als unseren Jungen, unser Kind der Liebe in Erinnerung behalten. Wir wollten nicht wissen, wo er jetzt war. Wir wollten nichts über seine Pflegefamilie wissen. Wir nannten ihn Matthias, das Geschenk Gottes.«

Der Mann sah auf. Er sah erschöpft aus, müde, älter. Er schenkte uns Tee nach.
»Wenn du eine Pause brauchst, sag es ruhig.«
Er schüttelte den Kopf. Schweigend wartete ich, dass er weitererzählen würde.

»Ein Jahr später gingen Emma und ich nach Deutschland. Wir hofften, in der Anonymität unsere Liebe frei leben zu können. Zum Abschied besuchte ich meine Tante in der Mühle.
„Morgen gehen wir nach Deutschland, Annla“, begann ich das Gespräch.
Sie sah mir in die Augen. Ihr Gesicht war älter geworden, aber ihre Augen waren noch immer jung. Sie hatten die Farbe vom Sumpf hinter der alten Mühle.
„Wir können hier nicht mehr leben, seitdem uns der Junge genommen wurde.“
Ich holte Luft.
„Es waren nicht mein Vater oder Emmas Mutter, die uns den Jungen genommen haben. Es waren die Leute und ihr Neid. Ich ertrage ihre Blicke nicht mehr, ihr ständiges Gerede von der Sünde und ihre Predigten über die Moral.“
Sie sah mir weiterhin in die Augen.
„Annla, ich danke dir für alles. Ich danke dir, dass du für mich wie eine Mutter warst, ohne meine Mutter ersetzen zu wollen.“
Ihre Augenfarbe wechselte zu wiesengrün.
„Du hast mich zu lieben gelehrt. Du hast mich gelehrt, an die Liebe zu glauben. Ich weiß, dass meine Liebe so groß ist, dass ich ihr folgen muss – wohin auch immer. Ich danke dir.“
Sie nahm mich in den Arm.
„Ich habe ein Geschenk für dich, Johann“, sagte sie.
Sie holte etwas aus ihrer Rocktasche hervor. Ich schloss meine Augen und hielt ihr meine Hand hin, wie ich es immer als kleiner Junge getan hatte. Zuerst fühlte ich, ohne meine Augen zu öffnen. Es war ein Ring. Ich öffnete die Augen.
„Der Ring ist von Irene“, sagte sie. Sie lächelte.
„Ich habe ihn nie mehr getragen, seitdem Irene fortgeschickt wurde. Jetzt gehört er dir, Johann. Es ist euer Ring. Emma und dein Ring. Der Ring eurer Liebe.“
Ich steckte den Ring in meine Hosentasche.
„Danke, Annla, du wirst mir fehlen“, sagte ich und umarmte sie.
„Du mir auch“, sagte sie mit Tränen in den Augen. Tränensumpfaugen.«


»Schau, ich habe ihn noch immer«, sagte der Mann.
Er zeigte mir einen vergoldeten Ring mit einem roten Herzen.

»Meine Tante behielt Recht. Die Liebe hat uns nie verlassen, Emma und mich. Wir gingen nach Deutschland. Ich fand in Erlangen eine Anstellung, wir bekamen einen Sohn.«


Der Mann lächelte. Nach einem kurzen Moment der inneren Sammlung fuhr er fort:

»Nach dem Krieg kamen die Russen in die Tschechoslowakei, und wir konnten nicht zurück. Mein Vater und Emmas Mutter waren vor dem Krieg in die USA emigriert. Wir schrieben uns Briefe. Auch meine Tante schrieb uns. Sie schrieb von den wechselnden Jahreszeiten, von den jungen Kätzchen, die langsam älter wurden, vom Geruch des Heus, vom Grün der Wiesen und Bäume, vom Plätschern des Wassers an der Mühle. Sie erwähnte mit keinem Wort die Russen, als wären sie einfach dadurch, dass sie sie nicht erwähnte, nicht vorhanden. Und für sie war es vielleicht sogar wirklich so. Wir schrieben ihr von den Kindern, von unseren Ausflügen in die Berge und von unserer Liebe.«

Der Mann dachte nach. Er wirkte auf mich noch älter als zuvor. Ob er wirklich keine Pause brauchte?
Doch er fuhr fort:

»Mein Vater starb. Emmas Mutter starb, ohne dass wir sie noch einmal gesehen hätten. An meinem sechzigsten Geburtstag besuchten wir meine Tante, nachdem wir eine Einreisebewilligung erhalten hatten. Emma und unser jüngster Sohn Ralf begleiteten mich. Meine Tante war eine alte Frau geworden, an die achtzig Jahre alt, aber ihre Augen waren noch immer jung. Sie hatten die Farbe des Sumpfes, der längst trockengelegt und bebaut worden war. Sie wohnte noch immer in der Mühle. Alleine. Alle paar Tage kam ein Mädchen aus dem Dorf, um ihr im Garten und im Haus zu helfen.
„Ich bringe ihr alles bei, was ich kann. Sie will alles wissen“, sagte sie und lachte. „Kräuter, Rezepte, alle Geheimnisse. Sie will auch meinen Tanz lernen.“
Jetzt lachte sie noch lauter.
Als wir abends am Esstisch zusammensaßen, am Tisch meiner Kindheit, den sie, als mein Vater und Emmas Mutter in die USA gingen, in die Mühle gebracht hatte, fragte ich sie nach unserem Jungen. Ralf fragte verdutzt:
„Welcher Junge, Papa?“
„Unseren erstgeborenen Sohn, Ralf. Den wir noch in Böhmen bekommen haben, Emma und ich.“
Er sah mich verwirrt an, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
Meine Tante stand auf und holte einen Umschlag. Sie erzählte mir, dass er am Ende des Krieges mit seiner Pflegemutter aus dem Sudetenland vertrieben wurde.
„Das hat mir seine Pflegemutter geschrieben, bevor sie geflohen sind. Sie hatten noch nicht gewusst wohin.“
Sie hielt mir den Brief entgegen.
„Hier ist der Brief. Ich habe ihn aufgehoben, bis ihr mich besuchen kommt. Darin ist auch ein Foto von eurem Jungen.“
Ich öffnete den Umschlag.«


»Warte, ich muss das Foto noch haben.«
Der Mann stand auf und ging zum Regal. Als er zurückkam, reichte er mir das Foto.
Der Junge auf dem Foto stand vor einem einfachen Bauernhaus. Dahinter waren Wiesen, Obstbäume und ein Wald zu erkennen. Der Junge lächelte direkt in die Kamera und sah glücklich aus. Er war ungefähr 15 Jahre alt.
»Er hat meine Statur, als ich so alt war wie er und Emma kennenlernte«, sagte der Mann.
Breite Schultern, schmale Hüften, muskulös.
»Und er hatte die Locken seiner Mutter.«
Sein Haar war kurzgeschnitten und die Locken kräuselten sich um seinen Kopf.
»Als ich das Foto das erste Mal betrachtete und die Augen meines Jungen sah, hatte ich das Gefühl, ich würde in die Augen meiner Mutter blicken, die ich von ihrem Portrait kannte. Hell und klar. Eine kristallklare Seele.«
Ich drehte das Foto um. »Willi 1945« stand auf der Rückseite.
»Ich habe mich immer über „Willi“ gewundert«, sagte der Mann. »Willi. Nicht Willibald, nicht Wilhelm, nicht Wilfried. Einfach Willi. War das sein Spitzname? Und warum hatten sie uns nicht den vollen Namen unseres Kindes, ihres Kindes, genannt? Diese Frage hat mich viele Jahre beschäftigt. Wollten sie vielleicht durch den Kosenamen die Nähe zu ihm ausdrücken, zu unserem Jungen?«

Der Mann räusperte sich, nahm einen Schluck Tee. Der Tee war in seiner Tasse schon längst kalt geworden.
»Entschuldige, aber dieses Thema beschäftigt mich noch immer.«
Ich nickte.
»Sein Name ist Willi«, sagte ich nach einer Pause. »Es ist keine Abkürzung. Er heißt wirklich so. Willi, einfach Willi, so ist es im Pass eingetragen. So nennt er sich auch selbst, mein Opa.«
Der Mann nickte.
Ich wollte ihn fragen, wie es für ihn war, gestern doch noch meinen Opa, seinen Sohn gesehen zu haben. Als ich meinen Blick hob, sah ich, dass der Mann Tränen in den Augen hatte. Ich schwieg. Ich nippte an meinem Tee. Er saß einfach nur da und weinte stille Tränen. Ich starrte aus dem Fenster, wollte ihn in diesem Moment nicht stören.
Dann stand er auf.
»Möchtest du auch noch einen Tee?«
Ich bejahte. Er ging zur Kochnische in die hintere Ecke des Raumes und stellte Wasser auf den Herd.
Kristallklare Seele… mein Opa? Wieso trägt er dann den ganzen Hass in seinem Herzen, auf „die Tschechen", „die Juden", „die Ausländer"? Wenn ich in die Augen meines Opas blicke, sehe ich Härte, manchmal unterdrückte Aggression und eine darunterliegende tiefe Traurigkeit.
Der Mann kam mit zwei Tassen in der Hand zurück, stellte sie auf den Tisch. Dann drehte er mir wieder den Rücken zu und verschwand ein weiteres Mal in der hinteren Ecke des Zimmers. Ich nahm das Foto vom Tisch und blickte es an. Mein Opa als 15-jähriger. Ich hatte gedacht, vor der Vertreibung hätte es kein Foto von ihm gegeben. Es stimmte, die Augen – strahlendhell – sahen mir direkt in die Seele. Kein verwaschener, wässriger Blick wie auf den späteren Fotos. Ein direkter, klarer Blick.
Der Mann kam mit einem Teller Gebäck zurück.
»Meine Lieblingsgebäck«, sagte er. »Powidltascherln, so wie Emma sie immer gemacht hat.«
Ich nahm einen Keks.
»Sehr gut«, sagte ich.
»Ein altes böhmisches Rezept«, antwortete er.
Dann nahm er einen tiefen Atemzug.
»Wo waren wir stehengeblieben? … Beim Foto deines Großvaters, genau. Wir waren bei meiner Tante. Am nächsten Tag schlenderten Emma, Ralf und ich durch das Dorf, über die Felder und Wiesen, die noch nicht bebaut waren. Wir zeigten unserem Sohn unsere gemeinsamen Plätze. Der Baum, auf dem Emma mir ihre Liebe gestanden hatte, stand noch. Ich zeigte Ralf, wo ich ein Herz für meine Liebe zu Emma in einen Baum geritzt hatte. Abends saßen wir mit meiner Tante am Esstisch. Dann fuhren Emma, Ralf und ich wieder nach Deutschland heim. Ein längeres Visum hatten wir nicht bekommen. Wir kehrten kein weiteres Mal in die Tschechoslowakei zurück. Unsere beiden ältesten Söhne fragten uns nicht nach der Reise. Und auch der Jüngste verlor nie ein Wort darüber. Wie es wohl für ihn gewesen sein muss, so von seinem Bruder zu erfahren? Was dachte er jetzt von seinen Eltern? Ich fragte ihn nie danach. Ich fürchtete seine Antwort. Noch mehr fürchtete ich seine Fragen
„Warum? Warum, Vater, hast du das nicht verhindert? Oder, Mutter, wie konntest du zulassen, dass euer Kind, mein Bruder, euch weggenommen wurde?“ Ich hätte auf diese Fragen keine Antwort gehabt.«

Der Mann verstummte. Ich schwieg ebenfalls. Dann hob er wieder die Stimme, ruhig und gelassen fuhr er fort:

»Emma starb 1989, kurz bevor der Eiserne Vorhang fiel. Sie starb in meinen Armen, friedlich und ruhig. Ihre letzten Worte waren: „Ich liebe dich, Johann. Ich bin dankbar, dass wir unser Leben geteilt und immer an die Liebe geglaubt haben.“
Danach schloss sie für immer ihre Augen. Der Mond war gerade aufgegangen. Das Licht des Vollmonds erhellte das Zimmer. Ich hielt ihre Hand. Die ganze Nacht erzählte ich ihr Geschichten aus unserem gemeinsamen Leben. Manchmal lachte ich, manchmal weinte ich. Es kam mir vor, als würde sie mit mir lachen und mit mir weinen.
„Ich bin bald wieder bei dir“, sagte ich, als ich morgens ihre Hand losließ.
Ich vermisste sie, natürlich vermisste ich sie. Wir hatten sechzig Jahre miteinander verbracht. Ich hatte alles mit ihr geteilt, und sie alles mit mir. Natürlich vermisste ich sie.«


Der Mann machte eine Pause, sah mich an. Ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen schossen.
»Nach ihrer Beerdigung im engsten Kreis reiste ich alleine nach Tschechien. Dieses Mal ohne Visum, dieses Mal ohne Emma, dieses Mal ohne Rückfahrkarte.
„Du bist zu alt für eine so lange Fahrt“, sagte mein jüngster Sohn.
Ich sagte, dass ich mich gut fühlte, dass ich es für Emma tat, für unsere Liebe. Er schwieg, weil er wusste, dass er gegen die Liebe nichts ausrichten konnte.
„Du Dickschädel!“, sagte er zum Abschied. Versöhnlich.
Ich kaufte mir ein Ticket Erlangen – Prag. Ich nahm nur das Nötigste mit: ein paar Kleider zum Wechseln, das Buch „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera für die Zugfahrt, Toilettenartikel und den Umschlag. Den Umschlag mit dem Bild von unserem Sohn, mit der Adresse seiner Pflegefamilie vor ihrer Flucht. In Prag blieb ich eine Nacht in einem Hotel und stieg am nächsten Tag in den Zug nach Broumov. Dort nahm ich mir ein Zimmer in einer kleinen Pension. Nachts hörte ich die Frösche quaken. Das Geräusch erinnerte mich an meine Kindheit.
„Was quaken die Frösche?“, fragte ich meine Tante, als ich vier oder fünf Jahre alt war.
„Sie singen das Lied der Liebe“, war ihre Antwort.
Das Lied der Liebe, was auch sonst?
Und wegen der Liebe war ich hier. Der Liebe zu Emma, der Liebe zu unserem erstgeborenen Sohn.
Am nächsten Tag fragte ich die Wirtin, wie ich am besten nach Rožmitál, dem Stadtteil auf dem Umschlag mit dem schönen Namen „Rosental“, käme. Sie sagte, es wären nur drei Kilometer zu Fuß und zeigte mir den Weg auf einer handgemalten Karte. Ich bedankte mich und ging, ohne noch einmal in mein Zimmer zurückzukehren. Nur den Umschlag und das Foto nahm ich mit. Nach ungefähr einer Stunde Wandern über Straßen und Felder kam ich in „
Rožmitál“ an. Ich fragte beim nächstgelegenen Haus nach der Adresse auf dem Umschlag. Die Frau blickte mir nach, als ich in der angezeigten Richtung weiterging.
„Wieder einer von den Ausländern, die ihre Vergangenheit suchen“, dachte sie vielleicht.
Ich machte mir nichts daraus. Es stimmte ja auch.
Ich fand die Adresse auf dem Umschlag auf Anhieb. Das Haus stand noch, obwohl es nicht mehr aussah wie auf dem Foto. Der Dachgiebel kam an mehreren Stellen
zum Vorschein. Die Ziegel waren längst davongetragen worden. Aber ich brauche es dir ja nicht zu beschreiben, du hast es ja mit eigenen Augen gesehen. Deshalb bist du ja mit deinem Opa hierhergekommen, nicht wahr?«

Ich nickte.

»Damals holte ich das Foto hervor und stellte mich auf die Stelle, an der mein Junge gestanden war. Unser Junge.
„Emma“, dachte ich, „jetzt bin ich endlich hier. Ich sehe alles aus den Augen unseres Jungen. Ich sehe, was er sah, als er vor seinem Haus, dem Haus seiner Familie, stand. Ich sehe, was er sah, kurz bevor er diesen Ort, seine Heimat, verlassen musste. Ich sehe, wie unser Junge sein Leben sah.
Ich blickte mich um. Wiesen, Obstbäume, ein Wald. Wie auf dem Foto. Und doch irgendwie anders. Es fehlte das Leben. Mein Junge fehlte, unser Junge und seine Familie. Das Haus war schon lange nicht mehr bewohnt. Ich schloss die Augen, versuchte mit meinen anderen Sinnen wahrzunehmen. Ich hörte Vogelgezwitscher, im Hintergrund ein Auto und wie der Wind durch die Blätter der Bäume fuhr. Es roch nach Regen. Morgen würde es regnen, hatte das Radio heute im Frühstücksraum verkündet.
Ich öffnete die Augen wieder und ging zum Haus. Es war noch weniger verfallen als jetzt. Es miefte. Die Tür war aus den Angeln gebrochen. Der Schimmel kroch die Wände hoch. Das Dach war undicht. Kleine Wasserlacken vom letzten Regen standen in den Ecken. Die Fensterscheiben waren zerbrochen. Ich sah mich um. Erst nur im Wohnzimmer, dann ging ich in die geräumige Küche und ins Schlafzimmer. Es gab sogar ein eigenes Kinderzimmer und ein separates Badezimmer. Die Pflegeeltern unseres Jungen mussten vergleichsweise vermögend gewesen sein. Das Haus war leer, bis auf einen Sessel, der mitten im Wohnzimmer stand. Unversehrt, als hätte er meinen Besuch erwartet. Müdigkeit überfiel mich. Ich setzte mich.
Als ich erwachte, saß ich im Keller. Dort, wo ich jetzt sitze. Auch die restlichen Möbel waren so, wie du sie jetzt vor dir siehst. Ich blinzelte mehrmals, schloss und öffnete die Augen. Alles blieb, wie es war. Ich war verwirrt. Ich stand auf, ging durch den Raum und setzte mich wieder. Und dann sah ich Emma und wusste, dass ich gestorben war. Hier im Haus meines Jungen, unseres Jungen. Und hier begegnete ich auch Emma wieder. Sie saß mir gegenüber auf dem Sofa, genau auf dem Platz, auf dem du jetzt sitzt.«


Die Härchen auf meinem Unterarm stellten sich auf. Verstohlen zwickte ich mir in den Handrücken. Ich spürte den Schmerz, war also noch lebendig. Der Mann mir gegenüber war nicht der Tod, er war nur vor zwanzig Jahren gestorben.
Das beruhigte mich.
Er fuhr fort:
»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich noch immer hier bin, nachdem ich vor zwanzig Jahren gestorben bin, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Kommt ja nicht alle Tage vor, mit einem Toten zu sprechen«, versuchte ich mich mit einem Scherz.
»Ich habe auch lange darüber nachgedacht«, sagte er. »Ich habe es auch nicht verstanden, bis ich euch beide, dich und deinen Großvater, gestern gesehen habe. Jetzt weiß ich, worauf ich im Keller so lange gewartet habe.«
Er sah mich an.
»Damit du mir deine Geschichte, die verlorene Geschichte meiner Familie, erzählen kannst?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er lächelnd, »ich wollte Licht in deine Vergangenheit bringen.«
Eine blaue Seele blickte in eine andere blaue Seele.
Ich erkannte, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten, nur noch diesen Tag, der schon zum Abend wurde.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
Ich hatte großen Hunger. Aber sollte ich das Essen nicht lieber verschieben, auf später, auf morgen, um mehr Zeit für unser Gespräch zu haben?
»Das Essen ist schon fertig. Ich brauche es nur aufzuwärmen«, sagte er. »Uns bleibt nach dem Essen noch genug Zeit, keine Sorge. Bis Mitternacht sind es noch sechs Stunden.«
Ich nickte.
»Sehr gerne, ich habe einen mordsmäßigen Appetit.«
Als er in der Kochnische mit den Töpfen klapperte, nahm ich nochmals das Bild meines Großvaters in die Hand, betrachtete es. So bist du also gewesen vor deiner Flucht. So bist du noch immer unterhalb deines Schmerzes, den du nie verarbeitet hast. So sehen deine Augen mich an, wenn nicht nur die Verletzung aus ihnen spricht. Ach, Opa.

Was mein Großvater wohl gerade tat? Wahrscheinlich lief er durch die Stadt, in der er als Kind zur Schule gegangen war. Wir hatten bereits gemeinsam die Runde gemacht. Vielleicht aß er gerade zu Abend. Ich hatte ihm gesagt, dass ich wahrscheinlich nicht bis zum Abendessen zurück sein würde. Er wollte sich mit einem alten Schulkollegen treffen, den er ausfindig gemacht hatte.
»Einen Tschechen«, wie er sagte, also kein Vertriebener.
Dass ich nicht mitkommen wollte, obwohl ich eingeladen war, hatte er verstanden. Sie würden sowieso nur über ihre alten Schulstreiche reden.
Er hatte mich nicht gefragt, wohin ich ging. Und ich hatte es ihm nicht erzählt. Ich wollte keine Fragen hören, auf die ich keine Antworten wusste. Ich wusste nicht einmal meine Fragen. Ich wusste weder was ich suchte noch was ich finden würde. Ich ging in die Leere. Ich suchte das, was nicht vorhanden war, den, der nicht existierte, weil er keinen Namen hatte.

Der Mann kam mit zwei Tellern zurück:
»Kartoffelplatzgen a la Anna«, sagte er lächelnd.
Ich bedankte mich und nahm den ersten Bissen.
»Das schmeckt großartig!«
»Danke. Ich habe es heute Morgen vorgekocht, damit wir mehr Zeit zum Reden haben.«
»Was ist das?«
»Kartoffelplatzgen, böhmische Kartoffelpuffer. Sie hat es oft gekocht. Mindestens einmal pro Woche. Es war mein Lieblingsessen als Kind. Während sie es kochte, sang sie meistens ihr Lied. Deshalb mochte ich es noch lieber.«
Er schwieg einen Augenblick, beobachtete mich, wie ich aß.
»Du siehst ihr ähnlich. Meiner Tante, meine ich.«
Ich blickte auf.
»Du hast ihre hohe Stirn, ihren hellen Teint, schon eher blass. Nein, verletzlich. Verletzlich ist das treffendere Wort. Deine Augen haben denselben Glanz wie ihre. Ein blauer, kein grüner Glanz. Glaubst du an die Liebe, Melanie?«, fragte er mich, als ich meine Gabel beiseite und auf den leeren Teller legte.

Glaubte ich an die Liebe? Früher, als Kind, dachte ich, Liebe hieße lieb, nett und brav zu sein. Dann glaubte ich, Liebe hätte ich nicht verdient. Später glaubte ich, ich müsste mir die Liebe verdienen. Ich hörte von der bedingungslosen Liebe und bekam Angst. Ich meinte, es wäre doch Blödsinn, jemanden bedingungslos zu lieben. Das wäre ja Ausbeutung und Abhängigkeit, ein Vorschub für häusliche Gewalt, eine Legitimation für jegliche Gewalt, für alle Demütigungen, für jeden Missbrauch und jede Form weiblicher Unterdrückung. In einem spontanen Ritual kurz nach meinem Studienabschluss, als ich den Neubeginn bereits spürte, verbrannte ich alles im Feuer, was ich nicht mehr in mein neues Leben mitnehmen wollte. Am Schluss waren da nur noch ich, eine Kerze und die Liebe. Ich entschied mich, den Weg der Liebe zu gehen. Er führte mich durch Ebenen des Schmerzes, durch Gräben der Verzweiflung und Sümpfe der Einsamkeit. Schließlich zeigte sich mir die Selbstliebe. Und über die Selbstliebe die Liebe zu anderen, ja, die Liebe, die alle Grenzen überschreitet – zwischen ich und du, zwischen mir und den anderen. Ja, ich glaubte an die Liebe.
»Ja, ich glaube an die Liebe.«
»Das ist gut. Das ist sogar sehr gut«, sagte er und lächelte.

Ich nahm einen Schluck Tee, sah ihn an. Er schien über irgendetwas nachzudenken. Um ihn nicht zu stören, sagte ich nichts. Ich dachte an die schwierigen Jahre der Ungewissheit. Als ich nicht wusste, was ich wollte. Als ich nicht wusste, ob ich überhaupt irgendetwas wollte. An die Zeiten der Zukunftssorgen, der Mutlosigkeit, der Beklemmung, der Depression. An die Ängste und wie ich lernte, mich ihnen zu stellen, statt mich weiter von ihnen kontrollieren zu lassen. An den schwierigen psychotherapeutischen Prozess. Das langsame Gewinnen von Sicherheit, von Boden unter meinen Füßen, von Klarheit. Klarheit darüber, was ich will, wie ich mein Leben gestalten will und welchen Weg ich einschlagen will. Die ersten zaghaften Schritte, die Rückschläge, das Gefühl zu stagnieren und für immer auf der Stelle stehenzubleiben. Die schwierige Übung der Geduld, des Vertrauens, der Freiheit. Erwachsenwerden. Endlich erwachsen sein. Frei zu tun, was ich will, mein eigenes Leben selbstbestimmt zu leben. Es war eine schmerzhafte Geburt, aber es hatte sich gelohnt. Ich nahm noch einen Schluck Tee. Der Mann sagte noch immer nichts.
Wie spät mochte es sein? 19 Uhr? Noch fünf Stunden bis Mitternacht. Und dann?
»Melanie, ich habe eine Bitte an dich«, brach er das Schweigen. »Erzählst du mir von deinem Großvater, so wie ich dir aus meinem Leben erzählt habe?«

Er sah auf.
»Der Gedanke ist mir gerade erst gekommen. Vielleicht ist der Grund, warum ich so viele Jahre hier war, nicht nur der, dass ich dir meine Lebensgeschichte erzähle, sondern dass auch du mir hilfst, den zerrissenen Faden meiner Familiengeschichte zusammenzuknüpfen.«
Ich schwieg, dachte nach, dann sagte ich:
»Ich weiß nicht. Ich weiß so wenig über meinen Opa. Ich weiß nicht einmal, ob ich das Wenige, das ich weiß, richtig wiedergebe.«
»Das macht nichts. Ich will deine Geschichte über deinen Opa hören, so wie auch ich meine ganz eigene, persönliche Geschichte erzählt habe. Emma hätte sie sicher ganz anders erzählt. Oder meine Tante. Oder mein Vater. Er hätte die Geschichte sicher ganz anders erzählt. Mir geht es nur um uns beide. Ich will deine Geschichte hören.«
Ich atmete tief durch, nahm einen Schluck Tee.
»Gut, ich erzähle dir alles über meinen Opa, was ich weiß. Aber ich weiß nicht, ob ich dir die Geschichte deines Jungen erzählen kann. Ich kenne nur die Geschichte nach der Flucht, nach den kristallklaren Augen.«
»Ich weiß«, sagte er.
Ich versuchte mich zu sammeln.

»Gut, also ich weiß, dass mein Opa mit sechszehn Jahren gemeinsam mit seiner Pflegemutter, seinem Kindermädchen und deren Tochter, die mein Opa immer „meine kleine Schwester“ nannte, aus dem Sudentenland geflüchtet ist. Sein Pflegevater war wahrscheinlich an der Front. Über ihn hatte Opa in seinen Erzählungen kein Wort verloren. Auch sonst sprach er nie über ihn. Von meiner Mutter weiß ich, dass Opas Pflegevater später bei ihnen im Garten in einem Wohnwagen gewohnt hatte. Er war anscheinend sehr hart und streng. Meine Mutter hatte sich vor ihm gefürchtet. Aber das war viel später.
Mein Opa hat mir oft von der Vertreibung, wie er es nannte, erzählt und wie er für seine kleine Schwester Milch besorgt hat. Sie lag noch in den Windeln, als sie vertrieben wurden. Auf dem Transporter – einem Zug? – hat sie ständig geweint und geschrien. Sie hatte Hunger. Opa ist in die Dörfer am Straßenrand gerannt, um etwas Milch für seine kleine Schwester zu besorgen. Die Soldaten schossen auf ihn, haben ihn jedoch nie erwischt.
Sie wurden in ein Lager befördert, weiter ging es über Prag nach Furth im Wald nach Nürnberg, vier Tage lang. Das hat mir meine Tante erzählt. Aus einem großen Sammellager in Schwabach kamen sie dann nach Gunzenhausen in eine Turnhalle, und schließlich nach Dittenheim.
Als Kind bin ich ein paar Mal dort gewesen, um Verwandte zu besuchen. Die ältere Schwester meiner Omi lebt dort mit ihrem Mann und ihrer zweiten Tochter mit Familie im Nebenhaus. Ich erinnere mich vor allem an die vielen Fliegen im Haus. Auch damals, in den 90ern, war Dittenheim noch ein kleines Dorf. Ich roch den Kuhmist, sah Bauernhäuser und Felder, hörte hin und wieder ein Schwein grunzen. Für mich als Stadtkind eine ganz andere Welt.
Wo mein Opa und seine Familie im Dorf untergebracht wurden, weiß ich nicht. Was mein Opa dort tat, ebenfalls nicht. Ob er arbeitete oder zur Schule ging, dieser Teil seiner Geschichte ist für mich ein dunkler Fleck. Er erzählte mir nur, wie er am Ende des Zweiten Weltkriegs die Panzer knackte, als wäre es ein Jungenstreich, ein willkommenes Abenteuer, um sich in der eigenen Männlichkeit zu üben. Welche Panzer und für wen, spielte für ihn keine Rolle. Der Krieg war nur die Kulisse für die eigenen Heldentaten.
Ich weiß noch, wie mich als Kind, als er mir bei jedem Besuch vor dem Einschlafen seine Geschichte erzählte, Beklemmungsgefühle beschlichen. Ich sah einen Container vollgestopft mit Menschen, hörte ein schreiendes Kind und die Gewehrschüsse der Soldaten. Ich fragte mich, warum sie meinen Opa nicht trafen. Die Soldaten waren gesichtslos, namenlos, unmenschlich.
„Die Tschechen“, nannte sie mein Opa abfällig. „Die Tschechen haben uns vertrieben. Die Tschechen waren alles Juden. Und auch jetzt regieren die Juden die Welt.“
Dann sah ich meinen Opa, wie er die Panzer zerstörte, um sich an den „Juden“ zu rächen.«


Ich hielt inne, dachte nach. Der Mann sah mich ausdruckslos an.

»In Dittenheim lebte auch meine Omi, Erna. Dort mussten sie sich irgendwie, irgendwo kennengelernt haben. Ich weiß, dass mein Opa davor eine andere Verlobte hatte. Das hat Omi mir einmal erzählt.«

Ich hielt wieder inne und erinnerte mich an das Gespräch mit meiner Omi.
»Sie hat ihn verlassen, weil sein Penis zu klein war«, hatte sie mir entrüstet erzählt.
Das dürfe man unter keinen Umständen einem Mann sagen, schärfte sie mir ein. Und ihr Sex wäre immer noch hervorragend, genauso wie sie ihn möge. Das spezifizierte sie nicht näher. Dass sie keine Zungenküsse möge, fügte sie noch hinzu. Er hätte das immer respektiert.
Darüber wollte ich mit dem Mann nicht sprechen, also fuhr ich fort:

»Ob es Liebe ist, ich weiß es nicht. Vor einigen Monaten sagte meine Omi am Telefon zu mir, dass es das Wichtigste sei, dass sie sich noch immer liebten. Als Jugendliche konnte ich weder ihre Liebe noch ihre Ehe verstehen. Sie stritten sich ständig. Opa war grob und aggressiv.
„Sie können weder miteinander noch ohne einander. Sie sind voneinander abhängig“, sagte meine Mutter dazu. Und Abhängigkeit sei das Schlimmste in einer Partnerschaft, hatte sie mir für meinen Lebensweg mitgegeben.«


Ich brauchte eine Pause und wollte einen Schluck Tee nehmen. Meine Tasse war leer. Der Mann stand auf und schenkte mir wortlos nach. Dann erzählte ich weiter.

»Omi war froh, bei uns einspringen zu können, wenn Mama auswärts arbeitete. Opa war froh, dass er in Ruhe Knoblauch essen konnte.
„Gut fürs Herz“, sagte er dann.
„Sein Herz hatte es nötig“, dachte ich mir.
Ich war nicht gut auf ihn zu sprechen in jener Zeit. Ich war vierzehn, vielleicht fünfzehn. Bei jedem Familientreffen stritten wir uns über seine antisemitischen und rassistischen Aussagen. Alle anderen schwiegen. Es war für alle eine Qual. Ich wurde ihm zu aufmüpfig. Damit konnte er nicht umgehen. Er gab mir eine Kopfnuss. Ich weigerte mich, zu den Familientreffen zu fahren. Meine Mama schimpfte mit ihm und ließ mir meinen Willen.«


Ich sah auf, wollte in den Augen des Mannes lesen, wie es für ihn war, solche Dinge über seinen Jungen zu hören. Er blickte mich an, lächelte, also fuhr ich fort:

»Als Kind war ich gut mit Opa ausgekommen. Wir Kinder liebten ihn. Wir konnten so viele Dinge mit ihm unternehmen: im See schwimmen, mit dem Kanu den Fluss entlang paddeln, in der Regentonne baden. Sogar das Müllwegbringen wurde zu einem Abenteuer. Wir kletterten in die Papiertonne und fanden allerlei Schätze. Bis spät in den Abend hinein sahen wir „Peter Steiners Bauerntheater“. Meine Großeltern lachten über die derben Witze. Und morgens gab es Süßigkeiten-Frühstück, während Omi im Wohnzimmer noch schlief.
Wir schliefen immer bei Opa in der „Kohlenkiste“, Holzkisten, die zu Betten umfunktioniert wurden. Abwechselnd durften meine Schwester und ich seinen Fuß vor dem Einschlafen halten.«

Ich lachte. Der Mann lachte mit mir.

»Dort im Bett vor dem Einschlafen hat er uns seine Geschichte erzählt.«

Ich verstummte, nahm einen Schluck Tee.
Wie sollte ich dem Mann die zwei Gesichter meines Opas begreiflich machen, wie sollte ich sie anschaulich erzählen? Wie würde er mit den Schattenseiten meines Opas umgehen können – er war ja »sein Junge«, ein Engel, perfekt und ohne Fehler?
Der Mann sah mir in die Augen. Er musste meine Unentschlossenheit, meine Unsicherheit gesehen haben. In meinem Gesicht ist es leicht, meine Gefühle zu lesen. Ich gab mir einen Ruck.

»Erst vor ein paar Monaten habe ich mich an eine Situation mit meinem Opa aus meiner Kindheit erinnert. Er packte mich, warf eine Decke über mich und hielt mich mit seinem Körper darunter gefangen. Ich hatte Angst. Ich sagte ihm, er solle mich raus lassen. Er tat es nicht. Ich hatte Angst zu ersticken. Ich hatte Todesangst. Ich wehrte mich nicht, weil ich durch die Bewegung mehr Luft verbrauchen würde. Ich wurde ganz still. Ich weinte nicht. Ich schrie nicht. Ich sagte nichts mehr. Ich verließ das erste Mal in meinem Leben meinen Körper, um der Angst zu entkommen. Irgendwann ließ er von mir ab. Ich weiß nicht, was er dann tat. Ich weiß nicht, was ich dann tat. Ich war noch nicht wieder in meinen Körper zurückgekehrt. Seitdem habe ich Asthma.«

Ich holte tief Luft und verstummte.
»Das ist schlimm«, sagte der Mann. Sonst nichts.
Ich nickte. Wir saßen uns schweigend gegenüber.

»Ich habe meinem Opa verziehen; seinen Hass, meine ich. Mit 16 Jahren habe ich gegen den Wunsch meiner Mutter eine Therapie gemacht. Danach war mein Hass auf Opa verflogen. Ich ging wieder mit zu den Familienfesten. Als ich das erste Mal – es mussten ein oder zwei Jahre vergangen gewesen sein – wieder ihre Wohnung betrat, war ich vom einmaligen Geruch dort überwältigt, dem vertrauten Geruch meiner Kindheit.
Zu Weihnachten habe ich Opa einen Brief geschrieben. Er hatte Tränen in den Augen, als er sich bedankte. Danach begann seine Transformation. Die der ganzen Familie. Mein Opa hat sich erstaunlich verändert in den letzten Jahren. Ich würde sagen, er fand Frieden. Nur mit den „Tschechen“, den „Juden“, hat er keinen Frieden gefunden. Sein Schmerz liegt wohl noch immer zu tief.«


Ich machte eine Pause. Der Mann sah mich an.
»Brauchst du eine Pause?«, fragte er mich.
Ich verneinte.
»Uns bleibt nur dieser Abend.«
Er nickte.

»Ich merke gerade, dass ich einen großen Sprung gemacht habe, vom vertriebenen Jungen zum Großvater. Dazwischen liegen Jahrzehnte, von denen ich noch viel weniger weiß. Meine Großeltern heirateten, letztens feierten sie ihr 55-jähriges Ehejubiläum.
Ich kenne ihr Hochzeitsbild. Mein Opa, ein stattlicher, junger, schlanker Mann im Anzug. Meine Omi, eine junge Frau, kleiner als er, im hellen Kleid. Ein übliches Hochzeitsfoto, dennoch rührt es mich, es zu betrachten, weil ich sie darin noch heute erkenne. Ich würde es dir gerne zeigen, aber ich habe es nicht bei mir. In ein paar Tagen wird es zu spät sein, oder?«

Der Mann nickte.

»Sie sehen auf jeden Fall glücklich aus. Mein Opa und seine um drei Jahre jüngere Frau, die zu ihm aufsieht… Irgendwann zogen sie nach München. Meine Tante wurde noch in Dittenheim geboren, daheim als Hausgeburt, das muss 1956 gewesen sein. Dort lernte sie auch ihren späteren Mann kennen. Lustig, wie alles zusammenhängt.«

Der Mann nickte versonnen.

»Meine Mutter ist in München geboren, 1957. Ob sie schon in dem Reihenhaus wohnten, das ich als Kind kennenlernte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht, denn zwischendrin war die Familie berufsbedingt für zwei Jahre in Augsburg. 1962 ist dann mein Onkel wieder in München geboren. Ungeplant, das Problemkind, das schwarze Schaf der Familie.«

Ich hielt inne, dachte nach. Sollte ich dem Mann erzählen, wie Martin zum „Problemfall"« geworden war? Würde er das über meinen Opa, seinen Jungen hören wollen?
Der Mann sah mir in die Augen.
»Erzähl ruhig weiter. Ich weiß, dass mein Junge kein Heiliger ist.«

»Mein Opa stand ständig unter Druck. Er hatte eine Familie zu ernähren und kümmerte sich um die ganze Verwandtschaft. Um Omis ältere Schwester, deren erster Mann ein gewalttätiger Alkoholiker war, der sie schlug und misshandelte. Um Omis jüngere Schwester, die auch keine leichte Ehe hatte. Ich glaube, da gab es noch mehr Verantwortlichkeiten, an die ich mich jedoch gerade nicht erinnern kann. Opa hatte sich außerdem als Radio- und Fernsehtechniker selbständig gemacht. Ständig hatte er einen zu hohen Blutdruck, sein Normalwert lag über 180. Er explodierte leicht, war cholerisch, unberechenbar. Mit Martin, einem sensiblen, unsicheren Jungen, konnte er am wenigsten umgehen.
Er schlug ihn mit dem Kochlöffel, mit dem Gürtel, mit der bloßen Hand. Er schlug ihn, wenn er etwas angestellt hatte. Er schlug ihn, wenn er sich mit den falschen Freunden traf. Mit Freunden, die ihm sagten, er solle von dem Garagendach springen. Martin sprang und brach sich den Arm. Opa schlug ihn. Er schlug ihn, wenn er ein Glas zerbrach. Martin war so nervös in Opas Gegenwart, dass er oft ein Glas zerbrach. Er schlug ihn, wenn meine Omi ihm sagte, er solle Martin bestrafen.
Er schlug auch meine Tante, aber nur in Extremsituationen. Wenn meine Tante nachts nicht nach Hause kam, wenn sie zu viel trank, wenn sie sich im Urlaub mit einem Italiener einließ. Als sie eines nachts nicht nach Hause kam – sie muss zwischen 16 und 18 Jahre alt gewesen sein – verfolgte er sie, sobald sie einen Schritt durch die Haustür setzte, schreiend durch das ganze Haus. Meine Mutter zog sie in ihr Zimmer und sperrte ab. Sie hatten immer schon zusammengehalten, die Schwestern, die besten Freundinnen. Vielleicht war es auch deshalb leichter für sie, weil sie sich gegenseitig beschützten. Opa war so wütend, dass er die Tür eintrat und den gesamten Türstock mit herausriss. Er schlug an diesem Tag weder meine Tante noch meine Mutter. Aber noch uns Enkelkindern erzählte er, der kaputte Türstock wäre die Schuld meiner Mutter. Sie lachte nur darüber.
Ob er meine Mutter je schlug, weiß ich nicht. Sie erinnere sich nicht an ihre Kindheit, sagte sie. Vielleicht hatte er sie auch nie geschlagen. Sie war aufmüpfig, sie war frech, sie war stark. Sie war wie der Sohn, den er sich gewünscht hatte. Sie war kein Opfer, kein Ventil für seine Raserei. Sie bot ihm die Stirn, und er zog den Schwanz ein.
Ob er meine Omi schlug, weiß ich nicht. Darüber gibt es in meiner Familie geteilte Meinungen. Meine Omi traute ich mich nie zu fragen.«

Ich sah dem Mann ins Gesicht. Er nickte.
»Lass uns einen Tee trinken«, sagte er.
»In Ordnung.«
Wieder ließ ich den Blick durch das Zimmer schweifen, während er abermals in der Kochnische verschwand. Dieses Mal blieb nichts in meinem Blickfeld hängen. So viel Gewalt. Ich hatte nichts davon am eigenen Leib erfahren. Zum Glück. Meine Mutter hatte die Geschichte der Gewalt nicht fortgesetzt.
Schlimmer noch seien die psychischen Gewalterfahrungen gewesen, erzählte mir mein Onkel, als 14 oder 15 Jahre alt war. Die subtile Gewalt meiner Omi, das Nicht-Einschreiten, das Nicht-Schützen, das Zulassen der körperlichen Gewalt, das Abtreten der Bestrafung an Opa. Die Gewalt hatte Martins Leben geprägt: Alkohol, Drogen, Obdachlosigkeit, Gefängnis. Ich konnte nicht um meinen Onkel weinen, auch wenn es mir Erleichterung verschafft hätte.
»Danke«, sagte ich, als mir der Mann meine Tasse reichte.
Ich trank meinen Tee, schluckweise. Ich sagte nichts, ich dachte nichts. Auch der Mann sagte nichts. Als meine Tasse leer war, fuhr ich mit meiner Erzählung fort:

»Viel Raum in Opas Leben nahm der Beruf ein. Ich habe ja bereits erzählt, dass er als Radio- und Fernsehtechniker selbständig war. Er hatte viele Aufträge, kletterte auf Dächer und führte sein Geschäft von zu Hause aus. Er machte den Meister, was für seinen Selbstwert wichtig war. So konnte er andere ausbilden. Mein Vater und meine Mutter lernten bei ihm, weil er meiner Mama verboten hatte zu studieren. Sie solle etwas „Gescheites“ machen, hieß es. So musste ich studieren, um diese Leerstelle in ihrem Leben zu füllen. Aber das ist ein anderes Thema.
Er hatte einen Angestellten. Otto. Er belästigte meine Tante und missbrauchte meinen Onkel sexuell. Erst Jahrzehnte später kam diese Geschichte ans Licht, als sich mein Onkel mir öffnete. Opa hielt den Kontakt mit Otto dennoch aufrecht. Mein Onkel verzieh ihm das nie.
Einmal fuhr mein Opa auch in die USA. Er zeigte uns die Fotos seiner Reise, die ihn mit Stolz erfüllte. An ein Foto erinnere ich mich besonders: Mein Opa vor der Freiheitsstatue. Er sah aus wie Slobodan Milosevics. Ich weiß, darüber macht man eigentlich keine Witze, vor allem weil zu dieser Zeit Milosevics sich gerade vor dem Internationalen Gerichtshof zu verantworten hatte. Aber ich lachte dennoch, als ich das Foto sah: Milosevics vor der Freiheitsstatue.
Mein Opa war ein Charmeur, ist es noch immer. Er geht immer noch viel aus, begleitet meine Omi zu Bastel- und Turngruppen. Dort unterhält er sich blendend mit allen Frauen. Ob er je eine Affäre hatte, weiß ich nicht. Aber meine Omi war verliebt in einen anderen Mann, sagen zumindest meine Mama und meine Tante. In den Untermieter, der für einige Jahre in ihrem Haus wohnte, als die Kinder noch klein waren. Mit ihm konnte sie ihr Leben so leben, wie sie es sich immer gewünscht hatte und wie es mit Opa nicht möglich war. Der Untermieter, ich habe seinen Namen vergessen, brachte Leichtigkeit, Spiel und Spaß ins Haus. Die Kinder liebten ihn. Irgendwann zog er aus und hinterließ in den Poesiealben der Mädchen wunderschöne Einträge, die ich später bewunderte. Ein kreativer, offener, lebensfroher Mensch. Ganz anders als Opa.«


Ich dachte nach.
»Es fällt mir schwer zu beschreiben, wie Opa ist. Er hat viele Gesichter. So wie jeder Mensch. Und manchmal dachte ich schon, jetzt kenne ich ihn, jetzt habe ich ihn ganz erfasst. Aber dann wandelt er sich wieder. In den letzten Jahren immer schneller. Er liebt den Dalai Lama, und der Dalai Lama führte ihn zu seiner eigenen Liebensfähigkeit. Opa ist sanfter, ruhiger, verständnisvoller geworden. Und er ist nach wie vor interessiert, modern und technisch begabt. Er interessiert sich für Computer, kann mit ihnen umgehen, schreibt auch jetzt noch E-Mails und verwendet Handys und Digitalkameras. Er ist offen für technische Neuheiten, Spielereien und Möglichkeiten. Sein größer Traum ist es, Urenkel zu bekommen.«
Ich lachte. Der Mann lachte mit mir.
»Ich glaube, das ist es im Großen und Ganzen.«
Ich dachte nach. War das wirklich alles, was ich über Opas Leben wusste? Obwohl ich mit ihm nach Tschechien gefahren bin und mit ihm die Orte seiner Kindheit besucht, er mir das Haus seiner Kindheit gezeigt und mir Anekdoten aus seinem Leben erzählt hatte? Das war der springende Punkt: Wir hatten uns mehr mit den Äußerlichkeiten als mit der Tiefe seiner Geschichte beschäftigt.
»Nein, eins fällt mir noch ein: Zu seinem sechzigsten Geburtstag reiste mein Opa mit meiner Omi und meiner Tante schon einmal in seine Heimat, wie er es nannte. Er suchte schon damals seine Wurzeln. Danach machte er eine Ausstellung über sein Leben, an die ich mich leider kaum noch erinnern kann. Ich war damals acht und nicht in dem Alter, mich mit dem Leben meines Opas zu beschäftigen.«
Ich machte eine Pause. Opas sechzigster Geburtstag war 1990. Ich fragte mich, ob sich die beiden damals hier begegnet sind, ohne es zu wissen. Vielleicht hatten sie in derselben Pension geschlafen und zusammen im Frühstücksraum gesessen. Vielleicht hatten sie sich auf der Straße gesehen, ohne einander zu erkennen. Vielleicht hätten sie sich doch noch in diesem Leben begegnen können. Ich sah zu dem Mann hinüber. Er schwieg. Auch er schien nachzudenken.
Nach einiger Zeit brach ich das Schweigen.
»Jetzt, zwanzig Jahre später, führe ich diesen Pfad fort, den meine Tante mit ihm begonnen hatte. Meine Tante, die wie eine Mutter für mich war, ohne meine Mutter ersetzen zu wollen. Ja, es fügt sich alles in das große Puzzle meiner Familiengeschichte. Ich folgte ihnen hierher mit meiner eigenen Geschichte. Und ich traf dich.«
Wir sahen uns an und schwiegen.

»Hast du deine Tante Annla noch einmal gesehen?«, fragte ich ihn schließlich.
»Nein. Eines Nachts, das war 1982, erschien sie mir im Traum. Eine Woche später erhielt ich als einziger Hinterbliebener einen Brief des Pfarrers, der mir mitteilte, meine Tante wäre bereits beigesetzt worden. Ihre Leiche wäre schon so verwest gewesen, dass kein Aufschub möglich gewesen wäre. Das Mädchen aus dem Dorf, das ihr geholfen hatte, hätte sie gefunden… 1982, das muss in etwa dein Geburtsjahr gewesen sein, oder?«
»Ja. Ich bin im Mai 1982 geboren.«
Wieder hingen wir unseren eigenen Gedanken nach.
»Es ist schon spät. Ich muss bald gehen«, brach der Mann das Schweigen.
»Wenn es in Ordnung ist, hätte ich eine letzte Frage«, sagte ich.
»Frag ruhig, meine Liebe. Ein bisschen Zeit bleibt uns noch.«
»Warum hast du, warum habt ihr nie versucht, meinen Opa zu finden?«
»Ich hatte Angst davor. Ich hatte Angst davor zu sehen, dass er seine Pflegeeltern mehr liebt als mich.«
Wir schwiegen.
Dann erhob er sich.
»Jetzt ist die Zeit für mich gekommen zu gehen.«

Ich erhob mich ebenfalls.
»Würdest du mich begleiten?«, fragte er.
»Wohin?«
»Heute ist mein hundertster Geburtstag. Ich werde nach oben gehen.«
Er sah mich an. Ich trat an seine Seite, nahm seinen rechten Arm. So gingen wir zur Treppe und stiegen sie Stufe um Stufe gemeinsam empor. Er wirkte älter. Ich hielt seinen Arm fester. Wir sprachen nicht miteinander.
Auf der letzten Stufe blieb er stehen:
»Jetzt hätte ich es fast vergessen. Ich werde halt doch alt.«
Er lachte und hielt mir das Foto meines Großvaters entgegen.
»Für dich.«
Ich nahm es, bedankte mich und steckte es in meine Hosentasche. Gemeinsam machten wir den nächsten Schritt, traten ins Wohnzimmer. Grelles Licht umfing mich. Es blendete mich. Ich schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, war der Mann verschwunden. Ich blickte mich um. Ich stand alleine in dem Raum, den ich gestern mit meinem Opa besucht hatte. Das Haus seiner Kindheit, meiner Familiengeschichte. Leer, verfallen, kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch. Eine dichte, vielsagende Stille umfing mich. Die Treppe zum Keller war verschwunden. Ich griff nach dem Foto in meiner linken Hosentasche. Es war dort, wo ich es verwahrt hatte. Erst jetzt sah ich den Ring an meinem linken Ringfinger. Ein vergoldeter Ring mit einem roten Herz.
»Danke, Johann«, flüsterte ich in das leere Haus.

Als ich ins Hotel zurückkam, schlief mein Opa bereits. Ich hörte ihn bis auf den Flur hinaus schnarchen. Ich ging in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag. Dann nahm ich den Telefonhörer und wählte die Nummer von meinem Mann.
»Gut, heute noch von dir zu hören. Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet«, sagte er erleichtert.
Ich holte tief Luft. »Ich hatte einen intensiven Tag. Ich kann dir das jetzt nicht alles am Telefon erzählen. Lass uns übermorgen reden, wenn ich wieder zuhause bin. In Ordnung?«
»In Ordnung«, sagte er. »Melanie?«
»Ja.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.« Ich machte eine Pause. »Und wenn du dich je gefragt hast, wie sehr ich dich liebe, dann vergiss die Frage!«
Er lachte.
»Für die Liebe gibt es nämlich kein Maß«, fuhr ich fort.
»Ich freue mich auf dich. Schlaf gut!«, sagte er.
»Du auch.«
Wir legten auf. Ich blieb, ohne ins Bad zu gehen, im Bett liegen und schlief auf der Stelle ein.
 



 
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