Dichter Erdling
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Gestern erst wieder sind wir nach drüben gegangen. Nach diesem Drüben, das bis 1989 eine eigene, abgekapselte Welt war.
Wenn man von Österreich an die tschechische Grenze kommt, merkt man immer noch Unterschiede.
Die Leitplanken neben der Straße sind einigermaßen rostig, die Landschaft ist wilder Wald mit wenig Unterbrechung und nicht geradlinig in Feldern kartographiert, mit großen Gehöften wie im Mühlviertel.
Dort, wo früher die Zollstation war, ist nun ein Geschäft drinnen mit Tüllkleidern im Schaufenster.
Man kann einfach durchfahren, es gibt keine Barrieren mehr. Keine Schranken, Passkontrollen oder Einreiseformulare.
Der erste Ort hinter der Grenze heißt Vyšší Brod.
Wo er anfängt, kann man gar nicht mehr so genau sagen. Er wächst sich in Richtung Grenze aus mit Ramschläden, Kosmetikinstituten, Nagel- und Massagestudios, Zahnärzten, die für billige Preise bekannt sind und Spielhallen, die sich „Casino“ an die Tür pinseln.
Die Straße vor Vyšší Brod ist grad eine große Baustelle und wird offenkundig saniert und erstmals verbreitert.
Den Ortskern finde ich einigermaßen unverändert vor.
Eine kleine Kirche in der Mitte, eine Schule, ein bescheidener Supermarkt, die Konditorei. „Cukrárna“ heißt das auf tschechisch und ist ein schönes Wort, wie ich finde. Süß und zuckrig wie die Cremeschnitten, die man hier kaufen kann.
Die Fassaden der Häuser, die den Platz umschließen, wirken stellenweise frisch, an anderen Stellen bröckelt es aber immer noch oder schon wieder.
Links hinter dem Hauptplatz stehen Wohnblöcke und ein Haus mit dem Schriftzug „Kino“ vorne drauf.
Das Zisterzienser-Kloster thront über dem Ort auf einem Hügel. Kaum zu glauben, dass einer der wertvollsten Gegenstände der Welt, das juwelenbesetzte Zawisch-Kreuz, hier zu finden ist. Auch die Klosterbibliothek ist ein beeindruckend prunkvoller Raum mit viel Gold und noch mehr Büchern.
Unten in der profanen Welt ist der behelfsmäßige Standlmarkt der Vietnamesen, wie man ihn aus den 90ern kennt, verschwunden. Stattdessen verkauft man Jeans und gefakte Markenshirts, Handtaschen und allerlei nun in halbwegs ordentlichen Gebäuden an der Zufahrtsstraße zum Ort.
Auf dem Sportplatz der Schule wird gerade gespielt. Eine Erzieherin schwingt ein Seil, über das die Kinder reihum hüpfen. Es sind mehrere Kinder darunter, denen man eine asiatische Herkunft ansieht. Ein Vater, der direkt nebenan sein Geschäft betreibt, sieht über den Zaun zu.
Wir essen im Restaurant Inge, das am Ortsrand direkt an der Moldau liegt. Im Sommer kann man gleich neben dem Lokal mit Schlauchbooten und Kanus starten und den Fluss runterfahren.
Die Speisekarte ist voller kantiger Häkchen und Striche über den Buchstaben, die die Wörter mit Schärfe würzen. Mit besserwisserischem Feuereifer könnte man sich nun auf Rechtschreibfehler wie „Rinderfile“ „parniert“ oder „Hänchenbrust“ stürzen und sich sehr gescheit vorkommen oder man kann auch einfach die umfangreiche Karte schätzen und dran denken, dass man selbst keinen geraden Satz auf Tschechisch herausbringt. In der Schule lernt man bei uns Englisch, Französisch oder Spanisch. Die Sprache unserer nächsten Nachbarn lernt man nicht, derweil in Tschechien Deutsch als Fremdsprache sehr oft gelehrt wird. Im Grenzgebiet sprechen fast alle deutsch. Man kann auf deutsch bestellen und € nehmen sie auch, obwohl die offizielle Landeswährung immer noch die Tschechische Krone ist.
Ich entscheide mich für „Parnierter Hermelinkäse mit Kartoffeln nach amerikanischer Art“ und frage mich vor allem, welche Art Kartoffel mich wohl erwartet. Aha, es sind Wedges.
Ist nicht viel los an diesem Wochentag, aber doch ist das Lokal ganz gut besucht.
Die Gäste sind fast allesamt Österreicher. Dort ein junges Pärchen. Sie im weißen Jogginganzug, hat sich vermutlich grad die Nägel machen lassen. Sind Glitzersteinchen drauf. Dort eine Seniorengruppe.
Dann gefällt es mir nicht, wie die zwei Mittfünfzigerinnen am Nebentisch von oben herab mit der Bedienung sprechen. „Fräulein, können wir noch dies und das…?“ fragen sie in einem Ton, der deutlich macht, wer hier die Oberhand hat.
Die Servierkraft ist in einem ähnlichen Alter wie die beiden Kundinnen, mit einigen Falten im Gesicht, welche von einiger Erfahrung mit anstrengenden Gästen zeugen. Sie bleibt freundlich und kühl.
Ein Lächeln huscht ihr übers Gesicht, als ich extra anmerke, dass es mir echt gut geschmeckt hat, dabei sieht sie mich an, während sie die Teller abräumt.
Zu zweit zahlen wir € 28 für jeweils ein Gericht plus Getränk. Das ist billiger als zu Hause, aber nur, weil die Preise zu Hause explodiert und wahnsinnig geworden sind.
Nach dem Essen fahren wir ein Stückchen den Moldaustausee entlang.
Es ist ein sonniger Oktobertag und die Bäume stehen in Herbstfarben Spalier neben der Straße. Wie durch eine vertikale Jalousie blitzt die Sonne im Vorbeifahren zwischen den Baumstämmen hervor.
Rund um den See gibt es Anlegestellen für die Fähre, die Autos und Radfahrer ans andere Ufer schippert und auch ein Linienschiff fährt seine Route.
Kaum, dass uns ein anderes Auto entgegenkommt.
Der tschechische Radiosender spielt „Kiss from a rose“ von Seal und von 1994 und augenblicklich fühle ich mich zurückversetzt in diese andere Zeit, da ich als Teenie auf dem Rücksitz Musik aus meinem Walkman hörte, während mein Vater den Wagen durch dieses Drüben steuerte.
Nicht oft haben wir Familienausflüge gemacht, aber ich erinnere mich an ähnliche Herbsttage in dieser Umgebung, als hier alles noch maroder war als heute. Man roch den rußigen Qualm aus den Schornsteinen von Häusern, die von außen nur bedingt wohnlich schienen.
Auf dem Standlmarkt hab ich mir damals diese Jeans-Latzhose eingebildet, die ich nur einmal tragen sollte, weil sie eben nicht vergleichbar war mit den lässigen Modellen von Levi’s wie sie die anderen in meiner Klasse hatten.
Weit ins Land kamen wir bei diesen Ausflügen nie. Bis Horní Planá vielleicht, höchstens noch bis Krumau (Český Krumlov).
Vor allem nach ‘89 führten unsere Wege mehrmals nach diesem Drüben, das bis dato relativ abgeriegelte Sperrzone gewesen war.
Aber auch vor der Wende, in den 80ern, als ich noch Kind war, waren wir einmal hier.
Es hat mich damals verwundert, dass es im oberen Stock dieses unscheinbaren Baus in irgendeinem mickrigen Ort eine Spielzeugabteilung mit bunten Sachen gab. Meine Eltern hatten mir zu verstehen gegeben, dass es „hier drüben“ eigentlich gar nichts gab, dass die Menschen „gar nichts hätten“, und jetzt kamen wir daher und kauften den hiesigen Kindern das letzte Spielzeug weg. Das habe ich nicht ganz verstanden, aber es erklärte wohl die argwöhnischen Blicke, mit denen uns die Einheimischen beäugten. Oder es hatte dies mit der Mischung aus Herablassung und Mitleid zu tun, die meine Eltern ostentativ vor sich hertrugen.
Ich weiß noch, meine Schwester und ich bekamen damals im tschechischen Spielzeuggeschäft ein Legespiel mit bunten Holzkügelchen. In die ausgestanzten Formen konnte man immer neue Muster legen. Kein Vergleich zur Barbie-Abteilung in den Linzer Kaufhäusern, schon klar, aber wir haben lange damit gespielt und heute würde sowas wohl als „ökologisch zertifiziert“ und „pädagogisch wertvoll“ über den Ladentisch gehen.
Man darf ja auch nicht so ein 2000-Seelen-Kaff mit einer Landeshauptstadt vergleichen. In den 80ern im hintersten Mühlviertel hätte es, glaube ich, überhaupt kein Spielzeug zu kaufen gegeben.
Aber von jeher hatte man uns eingeimpft, das Leben in diesem Drüben wäre in allen Aspekten schrecklich falsch.
So war dann auch die große Wende weniger eine familiäre Vereinigung als vielmehr eine Lektion, die wir in unserer Arroganz glaubten, erteilen zu müssen. Als hätten nur wir den Durchblick und müssten den zurückgebliebenen kleinen Brüdern sagen, wo’s lang geht. Das konnte ja nicht gutgehen, zumal wir auch gar nicht die Alleschecker sind, die wir zu sein glauben.
Die selbstgerechten Vorurteile halten sich hartnäckig.
Immer noch betrachten wir dieses Drüben wie meine Mitschüler damals meine Jeanshose betrachtet hatten: Nicht das angestrebte Original, der hilflose Versuch einer Nachahmung, eine schlechte Imitation, die sich zu wenig anstrengt – alles das, während auch unsere eigenen Anstrengungen gar nicht mehr so viel fruchten.
Immerhin, nach der Wende spielte mein Walkman „Wind of Change“ und man dachte, nun würde alles gut.
Es würde nicht über Nacht gehen, war jedem klar, aber bald schon würden die ersten Hausfassaden in übertriebenen Knallfarben gestrichen und die Marktlogik würde um sich greifen.
Ich erinnere mich an eine Fahrt nach Prag (Praha) in den frühen 2000ern.
Das Mädchen, das die Autobahnmaut kassierte, trug ein auffallend modisches Shirt und ich weiß noch, ich dachte: Jetzt nähern wir uns in den Lebensstandards an, endlich.
Dass es in Prag einen Orsay gab, hat mich beeindruckt, damals.
Heute allerdings gibt es den nicht mehr, nirgendwo, denn die ganze Modekette ist wie viele andere seit Corona in der Insolvenz verschwunden.
So nähern wir uns einmal mehr in den Lebensstandards an, aber nach unten zu.
Jetzt bröckeln auch bei uns die Fassaden, wirken die Städte trostlos und grau, die Kaufkräfte sinken, das Angebot schrumpft.
Das Land, die Menschen hier hatten noch gar nicht genug Zeit, sich zu mausern und zu machen, schon geht es gesamtheitlich wieder bergab. Es ist ein Drama.
Reich geworden sind immer nur die Wenigsten.
Ich kenne jemanden, der sich gleich nach der Wende ein Grundstück am Moldau-See gekauft und drauf spekuliert hat, bald den großen Reibach zu machen. Hat sich vorgestellt, bald würde es hier so abgehen wie am Wörthersee.
Gott sei Dank kam es anders. Immer noch ist der Seezugang frei und nicht privatisiert und versperrt. Gibt einen Radweg rund um das Gewässer.
Das Grundstück meiner Bekannten wurde nur mit kleinem Gewinn weiterverkauft.
Die Marktlogik durchdringt hier noch nicht alles, nicht so stark, aber man erkennt eine Richtung.
2005 hat die große Casino-Kette entlang der tschechischen Grenze aufgemacht. Ein patentes Haus, sehr professionell aufgezogen, das Ganze. Dort werden seither im großen Stil Jetons hin und hergeschoben, Automaten jaulen wie in Las Vegas und ich dachte mir damals, das Land ist jetzt vollends im Kapitalismus angekommen. An gewissen Landstraßenabschnitten standen Nutten parat, die recht billig hergingen, wie man sagte.
2009 bin ich sogar extra nach Budweis (České Budějovice) gefahren, um mir ein Brautkleid zu kaufen. Ich wollte nicht einsehen, tausende Euros für ein Kleidungsstück rauszuhauen, das ich nur einmal tragen sollte und zudem war mir das Gehabe der österreichischen Brautmodengeschäfte zuwider. Nur mit Handschuhen sollte man die Roben anfassen, ohne Termin wurde man wieder weggeschickt, die Kleider waren fade oder kitschig und sobald die Verkäuferinnen merkten, dass der Preis eine Rolle spielt, war es mit liebenswürdiger Kundenbetreuung oft vorbei.
In Budweis fand ich ein Kleid in einem außergewöhnlichen Puderton, die Corsage dezent mit Perlen bestickt, und zahlte knapp € 300. Damals dachte ich noch, jetzt haben die im Drüben ordentlich aufgeholt und machen sogar schon die besseren Angebote, aber eigentlich hatte sich da schon die globale Finanzkrise angesagt.
Nur eine kurze Zeitlang war eine schüchterne Aufbruchstimmung für die einen, für die anderen ein neueröffneter Vergnügungspark voller Möglichkeiten. Die Erfüllung blieb beiderseits vage.
Heute kommt man in dieses Drüben, um günstig zu essen und eine Natur zu genießen, die noch nicht durchkommerzialisiert ist.
Ganz so, so wie wir das heute tun.
„Sealed with a kiss“ verklingt gerade und Lady Gaga stimmt „Alejandro“ an. Ich erwische mich, wie ich überheblich denke, die Tschechen wären in der Zeit immer noch hinterher, aber vermutlich habe ich nur den hiesigen Oldie-Sender erwischt.
Im nächsten Ort hat das Café, das so hübsch am Wasser liegt, geschlossen.
Man merkt, die Sommersaison ist zu Ende.
Wir machen kehrt und steuern den touristischen Hotspot mit dem Yachthafen, dem Schwimmbad und den bunten Ferienhäusern an.
Mit Blick auf die Segelboote trinken wir Cappuccino und essen Liwanzen mit Heidelbeeren und Bergen aus Schlagobers. Beim Bezahlen zeigt sich, dass es hier schon ähnlich teuer ist wie zu Hause.
Ich frage mich, wie viele Tschechen sich sowas heute leisten können, wo doch deren Lohnniveau nochmal niedriger ist.
Uns wird klar, wir waren schon lange nicht mehr hier, vermutlich seit 2020 nicht mehr.
Überraschung: Ein riesiger Protzbau ragt vor uns ins Wasser. Auf Pfählen gebaut, steht plötzlich eine ganz neue Lokalität vor uns.
Ein langer Steg führt hinaus zu einer Aussichtsplattform über den See. Der rechteckige Kasten mit Glasfronten beherbergt ein exquisites Restaurant und ein Café. Ist heute nur beides geschlossen.
Zu Silvester kann man sich Hummer und Austern und Champagner bestellen, sofern man mit entsprechend gefüllten Taschen kommt. Das lese ich im Schaufenster.
Alles sehr stylisch. Muss sich nicht hinter den Hipster-Lokalen verstecken, wie wir sie auch zu Hause haben.
Der Küchenchef ist gar preisgekrönt und hat schon für Bill Clinton und Morgan Freeman gekocht, informiert mich das Internet. Heute kocht er hier „Rinderfiletsteak, Trüffel- und Guanciale-Krokette mit Trüffel und Foret-Escot-Sauce“ für dich und mich, also, theoretisch.
Das angeschlossene „Café du Lac“ wiederum verspricht feinste Patisserie und eine Atmosphäre wie in Paris oder Saint Tropez. Die Einrichtung soll an „rosafarbene Champagnerbläschen“ erinnern.
Es fällt auf, die Illusionen werden gekonnter inszeniert. Gibt auch nur sehr korrektes Deutsch und stilsicheres Marketing auf der Homepage.
Wir spazieren am Protzbau vorbei den herbstlichen See entlang. Birkenblätter ragen aufs Wasser hinaus wie goldenes Feuerwerk.
Noch einmal treffen wir auf eine Schulklasse oder sowas ähnliches.
Die Kinder, eine Gruppe von etwa 30 kleinen Personen, fahren allesamt Tretroller. Eine Lehrkraft fährt vorneweg, die Begleitpersonen am hinteren Ende müssen die Nachzügler antreiben.
Die Kleinen sausen an uns vorbei, wohin auch immer.
Ihre Kleider sind mit Superhelden und Disney-Prinzessinnen bedruckt, als wären es Kinder aus meiner Stadt.
(10. 10. 2024)
Wenn man von Österreich an die tschechische Grenze kommt, merkt man immer noch Unterschiede.
Die Leitplanken neben der Straße sind einigermaßen rostig, die Landschaft ist wilder Wald mit wenig Unterbrechung und nicht geradlinig in Feldern kartographiert, mit großen Gehöften wie im Mühlviertel.
Dort, wo früher die Zollstation war, ist nun ein Geschäft drinnen mit Tüllkleidern im Schaufenster.
Man kann einfach durchfahren, es gibt keine Barrieren mehr. Keine Schranken, Passkontrollen oder Einreiseformulare.
Der erste Ort hinter der Grenze heißt Vyšší Brod.
Wo er anfängt, kann man gar nicht mehr so genau sagen. Er wächst sich in Richtung Grenze aus mit Ramschläden, Kosmetikinstituten, Nagel- und Massagestudios, Zahnärzten, die für billige Preise bekannt sind und Spielhallen, die sich „Casino“ an die Tür pinseln.
Die Straße vor Vyšší Brod ist grad eine große Baustelle und wird offenkundig saniert und erstmals verbreitert.
Den Ortskern finde ich einigermaßen unverändert vor.
Eine kleine Kirche in der Mitte, eine Schule, ein bescheidener Supermarkt, die Konditorei. „Cukrárna“ heißt das auf tschechisch und ist ein schönes Wort, wie ich finde. Süß und zuckrig wie die Cremeschnitten, die man hier kaufen kann.
Die Fassaden der Häuser, die den Platz umschließen, wirken stellenweise frisch, an anderen Stellen bröckelt es aber immer noch oder schon wieder.
Links hinter dem Hauptplatz stehen Wohnblöcke und ein Haus mit dem Schriftzug „Kino“ vorne drauf.
Das Zisterzienser-Kloster thront über dem Ort auf einem Hügel. Kaum zu glauben, dass einer der wertvollsten Gegenstände der Welt, das juwelenbesetzte Zawisch-Kreuz, hier zu finden ist. Auch die Klosterbibliothek ist ein beeindruckend prunkvoller Raum mit viel Gold und noch mehr Büchern.
Unten in der profanen Welt ist der behelfsmäßige Standlmarkt der Vietnamesen, wie man ihn aus den 90ern kennt, verschwunden. Stattdessen verkauft man Jeans und gefakte Markenshirts, Handtaschen und allerlei nun in halbwegs ordentlichen Gebäuden an der Zufahrtsstraße zum Ort.
Auf dem Sportplatz der Schule wird gerade gespielt. Eine Erzieherin schwingt ein Seil, über das die Kinder reihum hüpfen. Es sind mehrere Kinder darunter, denen man eine asiatische Herkunft ansieht. Ein Vater, der direkt nebenan sein Geschäft betreibt, sieht über den Zaun zu.
Wir essen im Restaurant Inge, das am Ortsrand direkt an der Moldau liegt. Im Sommer kann man gleich neben dem Lokal mit Schlauchbooten und Kanus starten und den Fluss runterfahren.
Die Speisekarte ist voller kantiger Häkchen und Striche über den Buchstaben, die die Wörter mit Schärfe würzen. Mit besserwisserischem Feuereifer könnte man sich nun auf Rechtschreibfehler wie „Rinderfile“ „parniert“ oder „Hänchenbrust“ stürzen und sich sehr gescheit vorkommen oder man kann auch einfach die umfangreiche Karte schätzen und dran denken, dass man selbst keinen geraden Satz auf Tschechisch herausbringt. In der Schule lernt man bei uns Englisch, Französisch oder Spanisch. Die Sprache unserer nächsten Nachbarn lernt man nicht, derweil in Tschechien Deutsch als Fremdsprache sehr oft gelehrt wird. Im Grenzgebiet sprechen fast alle deutsch. Man kann auf deutsch bestellen und € nehmen sie auch, obwohl die offizielle Landeswährung immer noch die Tschechische Krone ist.
Ich entscheide mich für „Parnierter Hermelinkäse mit Kartoffeln nach amerikanischer Art“ und frage mich vor allem, welche Art Kartoffel mich wohl erwartet. Aha, es sind Wedges.
Ist nicht viel los an diesem Wochentag, aber doch ist das Lokal ganz gut besucht.
Die Gäste sind fast allesamt Österreicher. Dort ein junges Pärchen. Sie im weißen Jogginganzug, hat sich vermutlich grad die Nägel machen lassen. Sind Glitzersteinchen drauf. Dort eine Seniorengruppe.
Dann gefällt es mir nicht, wie die zwei Mittfünfzigerinnen am Nebentisch von oben herab mit der Bedienung sprechen. „Fräulein, können wir noch dies und das…?“ fragen sie in einem Ton, der deutlich macht, wer hier die Oberhand hat.
Die Servierkraft ist in einem ähnlichen Alter wie die beiden Kundinnen, mit einigen Falten im Gesicht, welche von einiger Erfahrung mit anstrengenden Gästen zeugen. Sie bleibt freundlich und kühl.
Ein Lächeln huscht ihr übers Gesicht, als ich extra anmerke, dass es mir echt gut geschmeckt hat, dabei sieht sie mich an, während sie die Teller abräumt.
Zu zweit zahlen wir € 28 für jeweils ein Gericht plus Getränk. Das ist billiger als zu Hause, aber nur, weil die Preise zu Hause explodiert und wahnsinnig geworden sind.
Nach dem Essen fahren wir ein Stückchen den Moldaustausee entlang.
Es ist ein sonniger Oktobertag und die Bäume stehen in Herbstfarben Spalier neben der Straße. Wie durch eine vertikale Jalousie blitzt die Sonne im Vorbeifahren zwischen den Baumstämmen hervor.
Rund um den See gibt es Anlegestellen für die Fähre, die Autos und Radfahrer ans andere Ufer schippert und auch ein Linienschiff fährt seine Route.
Kaum, dass uns ein anderes Auto entgegenkommt.
Der tschechische Radiosender spielt „Kiss from a rose“ von Seal und von 1994 und augenblicklich fühle ich mich zurückversetzt in diese andere Zeit, da ich als Teenie auf dem Rücksitz Musik aus meinem Walkman hörte, während mein Vater den Wagen durch dieses Drüben steuerte.
Nicht oft haben wir Familienausflüge gemacht, aber ich erinnere mich an ähnliche Herbsttage in dieser Umgebung, als hier alles noch maroder war als heute. Man roch den rußigen Qualm aus den Schornsteinen von Häusern, die von außen nur bedingt wohnlich schienen.
Auf dem Standlmarkt hab ich mir damals diese Jeans-Latzhose eingebildet, die ich nur einmal tragen sollte, weil sie eben nicht vergleichbar war mit den lässigen Modellen von Levi’s wie sie die anderen in meiner Klasse hatten.
Weit ins Land kamen wir bei diesen Ausflügen nie. Bis Horní Planá vielleicht, höchstens noch bis Krumau (Český Krumlov).
Vor allem nach ‘89 führten unsere Wege mehrmals nach diesem Drüben, das bis dato relativ abgeriegelte Sperrzone gewesen war.
Aber auch vor der Wende, in den 80ern, als ich noch Kind war, waren wir einmal hier.
Es hat mich damals verwundert, dass es im oberen Stock dieses unscheinbaren Baus in irgendeinem mickrigen Ort eine Spielzeugabteilung mit bunten Sachen gab. Meine Eltern hatten mir zu verstehen gegeben, dass es „hier drüben“ eigentlich gar nichts gab, dass die Menschen „gar nichts hätten“, und jetzt kamen wir daher und kauften den hiesigen Kindern das letzte Spielzeug weg. Das habe ich nicht ganz verstanden, aber es erklärte wohl die argwöhnischen Blicke, mit denen uns die Einheimischen beäugten. Oder es hatte dies mit der Mischung aus Herablassung und Mitleid zu tun, die meine Eltern ostentativ vor sich hertrugen.
Ich weiß noch, meine Schwester und ich bekamen damals im tschechischen Spielzeuggeschäft ein Legespiel mit bunten Holzkügelchen. In die ausgestanzten Formen konnte man immer neue Muster legen. Kein Vergleich zur Barbie-Abteilung in den Linzer Kaufhäusern, schon klar, aber wir haben lange damit gespielt und heute würde sowas wohl als „ökologisch zertifiziert“ und „pädagogisch wertvoll“ über den Ladentisch gehen.
Man darf ja auch nicht so ein 2000-Seelen-Kaff mit einer Landeshauptstadt vergleichen. In den 80ern im hintersten Mühlviertel hätte es, glaube ich, überhaupt kein Spielzeug zu kaufen gegeben.
Aber von jeher hatte man uns eingeimpft, das Leben in diesem Drüben wäre in allen Aspekten schrecklich falsch.
So war dann auch die große Wende weniger eine familiäre Vereinigung als vielmehr eine Lektion, die wir in unserer Arroganz glaubten, erteilen zu müssen. Als hätten nur wir den Durchblick und müssten den zurückgebliebenen kleinen Brüdern sagen, wo’s lang geht. Das konnte ja nicht gutgehen, zumal wir auch gar nicht die Alleschecker sind, die wir zu sein glauben.
Die selbstgerechten Vorurteile halten sich hartnäckig.
Immer noch betrachten wir dieses Drüben wie meine Mitschüler damals meine Jeanshose betrachtet hatten: Nicht das angestrebte Original, der hilflose Versuch einer Nachahmung, eine schlechte Imitation, die sich zu wenig anstrengt – alles das, während auch unsere eigenen Anstrengungen gar nicht mehr so viel fruchten.
Immerhin, nach der Wende spielte mein Walkman „Wind of Change“ und man dachte, nun würde alles gut.
Es würde nicht über Nacht gehen, war jedem klar, aber bald schon würden die ersten Hausfassaden in übertriebenen Knallfarben gestrichen und die Marktlogik würde um sich greifen.
Ich erinnere mich an eine Fahrt nach Prag (Praha) in den frühen 2000ern.
Das Mädchen, das die Autobahnmaut kassierte, trug ein auffallend modisches Shirt und ich weiß noch, ich dachte: Jetzt nähern wir uns in den Lebensstandards an, endlich.
Dass es in Prag einen Orsay gab, hat mich beeindruckt, damals.
Heute allerdings gibt es den nicht mehr, nirgendwo, denn die ganze Modekette ist wie viele andere seit Corona in der Insolvenz verschwunden.
So nähern wir uns einmal mehr in den Lebensstandards an, aber nach unten zu.
Jetzt bröckeln auch bei uns die Fassaden, wirken die Städte trostlos und grau, die Kaufkräfte sinken, das Angebot schrumpft.
Das Land, die Menschen hier hatten noch gar nicht genug Zeit, sich zu mausern und zu machen, schon geht es gesamtheitlich wieder bergab. Es ist ein Drama.
Reich geworden sind immer nur die Wenigsten.
Ich kenne jemanden, der sich gleich nach der Wende ein Grundstück am Moldau-See gekauft und drauf spekuliert hat, bald den großen Reibach zu machen. Hat sich vorgestellt, bald würde es hier so abgehen wie am Wörthersee.
Gott sei Dank kam es anders. Immer noch ist der Seezugang frei und nicht privatisiert und versperrt. Gibt einen Radweg rund um das Gewässer.
Das Grundstück meiner Bekannten wurde nur mit kleinem Gewinn weiterverkauft.
Die Marktlogik durchdringt hier noch nicht alles, nicht so stark, aber man erkennt eine Richtung.
2005 hat die große Casino-Kette entlang der tschechischen Grenze aufgemacht. Ein patentes Haus, sehr professionell aufgezogen, das Ganze. Dort werden seither im großen Stil Jetons hin und hergeschoben, Automaten jaulen wie in Las Vegas und ich dachte mir damals, das Land ist jetzt vollends im Kapitalismus angekommen. An gewissen Landstraßenabschnitten standen Nutten parat, die recht billig hergingen, wie man sagte.
2009 bin ich sogar extra nach Budweis (České Budějovice) gefahren, um mir ein Brautkleid zu kaufen. Ich wollte nicht einsehen, tausende Euros für ein Kleidungsstück rauszuhauen, das ich nur einmal tragen sollte und zudem war mir das Gehabe der österreichischen Brautmodengeschäfte zuwider. Nur mit Handschuhen sollte man die Roben anfassen, ohne Termin wurde man wieder weggeschickt, die Kleider waren fade oder kitschig und sobald die Verkäuferinnen merkten, dass der Preis eine Rolle spielt, war es mit liebenswürdiger Kundenbetreuung oft vorbei.
In Budweis fand ich ein Kleid in einem außergewöhnlichen Puderton, die Corsage dezent mit Perlen bestickt, und zahlte knapp € 300. Damals dachte ich noch, jetzt haben die im Drüben ordentlich aufgeholt und machen sogar schon die besseren Angebote, aber eigentlich hatte sich da schon die globale Finanzkrise angesagt.
Nur eine kurze Zeitlang war eine schüchterne Aufbruchstimmung für die einen, für die anderen ein neueröffneter Vergnügungspark voller Möglichkeiten. Die Erfüllung blieb beiderseits vage.
Heute kommt man in dieses Drüben, um günstig zu essen und eine Natur zu genießen, die noch nicht durchkommerzialisiert ist.
Ganz so, so wie wir das heute tun.
„Sealed with a kiss“ verklingt gerade und Lady Gaga stimmt „Alejandro“ an. Ich erwische mich, wie ich überheblich denke, die Tschechen wären in der Zeit immer noch hinterher, aber vermutlich habe ich nur den hiesigen Oldie-Sender erwischt.
Im nächsten Ort hat das Café, das so hübsch am Wasser liegt, geschlossen.
Man merkt, die Sommersaison ist zu Ende.
Wir machen kehrt und steuern den touristischen Hotspot mit dem Yachthafen, dem Schwimmbad und den bunten Ferienhäusern an.
Mit Blick auf die Segelboote trinken wir Cappuccino und essen Liwanzen mit Heidelbeeren und Bergen aus Schlagobers. Beim Bezahlen zeigt sich, dass es hier schon ähnlich teuer ist wie zu Hause.
Ich frage mich, wie viele Tschechen sich sowas heute leisten können, wo doch deren Lohnniveau nochmal niedriger ist.
Uns wird klar, wir waren schon lange nicht mehr hier, vermutlich seit 2020 nicht mehr.
Überraschung: Ein riesiger Protzbau ragt vor uns ins Wasser. Auf Pfählen gebaut, steht plötzlich eine ganz neue Lokalität vor uns.
Ein langer Steg führt hinaus zu einer Aussichtsplattform über den See. Der rechteckige Kasten mit Glasfronten beherbergt ein exquisites Restaurant und ein Café. Ist heute nur beides geschlossen.
Zu Silvester kann man sich Hummer und Austern und Champagner bestellen, sofern man mit entsprechend gefüllten Taschen kommt. Das lese ich im Schaufenster.
Alles sehr stylisch. Muss sich nicht hinter den Hipster-Lokalen verstecken, wie wir sie auch zu Hause haben.
Der Küchenchef ist gar preisgekrönt und hat schon für Bill Clinton und Morgan Freeman gekocht, informiert mich das Internet. Heute kocht er hier „Rinderfiletsteak, Trüffel- und Guanciale-Krokette mit Trüffel und Foret-Escot-Sauce“ für dich und mich, also, theoretisch.
Das angeschlossene „Café du Lac“ wiederum verspricht feinste Patisserie und eine Atmosphäre wie in Paris oder Saint Tropez. Die Einrichtung soll an „rosafarbene Champagnerbläschen“ erinnern.
Es fällt auf, die Illusionen werden gekonnter inszeniert. Gibt auch nur sehr korrektes Deutsch und stilsicheres Marketing auf der Homepage.
Wir spazieren am Protzbau vorbei den herbstlichen See entlang. Birkenblätter ragen aufs Wasser hinaus wie goldenes Feuerwerk.
Noch einmal treffen wir auf eine Schulklasse oder sowas ähnliches.
Die Kinder, eine Gruppe von etwa 30 kleinen Personen, fahren allesamt Tretroller. Eine Lehrkraft fährt vorneweg, die Begleitpersonen am hinteren Ende müssen die Nachzügler antreiben.
Die Kleinen sausen an uns vorbei, wohin auch immer.
Ihre Kleider sind mit Superhelden und Disney-Prinzessinnen bedruckt, als wären es Kinder aus meiner Stadt.
(10. 10. 2024)
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