wir glauben an den lieben Gott, damit er sich zum Teufel scheren kann.

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Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Als ich diesen Nachmittag von der Straße A nach der Straße B abbog, wurde ich meines Aberglaubens beraubt. Es geschah, dass ich innehielt an der Kreuzung, vollständig dumm und unfähig zu bestimmen, ob ich mich nun noch auf der Staße A oder schon auf der Straße B befand. Sie, die Straßen, flossen halkreisförmig ineinander und so sehr ich imstande war, je die eine oder die andere zu bestimmen, so unfähig war ich den exakten Übergang zu bestimmen. Ein Problem, dass sich raumbezogen mit einem Schritt lösen lässt, bloß raumbezogen. Ich selber stand im Unbenannten, in jenem Zwischenraum, der zwei Wahrheiten verbindet und so - und doch so lange vorbereitet - schien es mir plötzlich mit allem zu sein - wie gelange ich von der Ansicht A zu der Ansicht B, wenn ich den Übergang betrachte - den Augenblick der Unbestimmtheit, dh. der Irritation. Es ist diese Irritation, der ich einen transzendenten Charakter nachgesagt habe, weil sie die Urteilsfähigkeit des Bewusstseins [und damit seine wesentliche Bestimmung] aufhebt und auflöst in eine bis zum zerreißen gespannte Leere, die sowohl das Idiotische als auch - und gerade - das Heilige übertrifft. Es ist die transzendente Stille vor der Entscheidung, der Zwischenraum, in dem ich mich so lange zu verlieren gehofft habe und dem ich mein Leben gewidmet ... - der absolute - und doch so unumkehrbar umkehrbare - Fluchtpunkt aus dem Sein. Aber in Wirklichkeit... ist es bloß Sprache ...

II
Unvermutet wacht man auf und das eigene Leben passt einem nicht mehr, wie ein Hemd das zu heiß gewaschen wurde.

III
Diese Unfähigkeit auf den Punkt zu kommen, die Neigung zu regressiven Erklärungsmustern, der Wortsalat, das Aufweichen und Ausbleichen der Begrifflichkeiten - Sehnsucht nach transzendenter Trockenheit, die metaphysische Sahara überhaupt als Sehnsuchtsort - was ist all das anderes als eine ins - mindestens - Absolute ausgedehnte Prokrastination? Gott ist gewiss eine Sackgasse, aber eine, in der man sich ewig verlaufen kann - das Paradox einer unendlichen Sackgasse.

IV
Wären sie ehrlich, so würden sie sagen
: wir glauben an den lieben Gott, damit er sich zum Teufel scheren kann.
[Wobei es für den Glauben nicht von Interesse ist, ob er wirklich existiert]

V
In einem bloß auf seine obszöne sediertheit rückführbaren Kosmos, führt ein Primatenschrei ein Attentat gegen seine eigene Lächerlichkeit aus. Ein Beipackzettel biblischen Außmaßes oder, ironischerweise, umgekehrt.

VI
Der hat seine stinkende Stille, mottig und schwer wie alte Gardinen, dieser sein glückselige Stille, jener eine schrillende Stille, wie das Kratzen von Nägeln über Glas. Und hier? Die meine! Eigenschaftlos, steril, nicht einmal kalt, bloß ekelerregend vorhanden.

VII
Der Aberglaube gehört zu jedem Werk, aber weniger weil der Irrtum zum Menschsein gehört, als das der Irrtum das Werk konstituiert. Er ist die große Sonne, der Fixpunkt. Um ihn kreisen die Planeten der Schlüsse, auf den Planeten leben die Worte. Und in jene Sonne stürzt dereinst das ganze System.

VIII
Die Literatur verhält sich zur Wahrheit, wie das Silikon zu einer rissigen Mauer, die Philosophie wie der Stein zur Mauer.

IX
Wie leise dich dein Unbehagen aus den Wörtern zieht, bis in die Unbehausung des Verstummens.

X.
Ich liebe das Gefühl der lächerlichen Grundlosigkeit, mit der die Dinge geschehen. Sie hat mir die Idee des Pechs geschenkt, der einzigen Idee, die trägt.

XI
Ich erwähnte Urteil und Bewusstsein. Sagen wir Ich-Bewusstsein. Das Urteil primitiviert die Umwelt, macht sie katalogfähig. Nur so ist wirkliches Handeln möglich, aber dieses Urteilen ist zugleich der Inhalt dieses Bewusstseins. Wir sind die Simplifikation unserer Umwelt.

XII
Ich mag das Leben bis zur Bosheit verkompliziert haben, weil das Handeln zu einfach wäre.

XIII
Diese allzu raschen Urteile sind wie ein Mensch, der sich einmauert und seine verlorene Freiheit beklagt, die chronische Abwesenheit des Urteils wie ein Mensch, der einen Schrank in die Sahara stellt.
 
Zuletzt bearbeitet:

Rachel

Mitglied
Hei Patrick, ein interessanter Versuch über das menschliche Bewusstsein und einiges mehr. Mir gefällt, wie man "seine" literarischen, essayistischen und aphoristischen Abschnitte stringent abwandern kann.

Es steckt drin, was einen immer wieder beschäftigt: Was ist das Bewusstsein der Sprache (der Sensorik?) und einen angenehmen/unangenehmen Moment später das immer reagierende, urteilende, sich entscheidende/nicht entscheidende Ich-Bewusstsein ins (un)persönliche Erleben geholt, ins evolutionäre, in einen modernen Primatenschrei verwandelt.

Ein paar Mal wollte dir bereits antworten, aber ich gerate übel ins Schwurbeln. Was mir klar macht, wie schwer es ist, in diesen Gefilden zu schreiben und wie gut dir gerade das gelungen ist.

Römisch III und XI sind meine Favoriten. Ich dachte auch mal wieder an David Foster Wallace, an seinen Essay übers Schreiben von 1998 - Der Spaß an der Sache.

Den, bin ich mir sicher, den hast du (und die Leser auch!). Dennett soll dich knutschen.

LG, Rachel
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hei Patrick, ein interessanter Versuch über das menschliche Bewusstsein und einiges mehr. Mir gefällt, wie man "seine" literarischen, essayistischen und aphoristischen Abschnitte stringent abwandern kann.
Hallo, meine Liebe :)

Ja, so war es gedacht.

Es steckt drin, was einen immer wieder beschäftigt: Was ist das Bewusstsein der Sprache (der Sensorik?) und einen angenehmen/unangenehmen Moment später das immer reagierende, urteilende, sich entscheidende/nicht entscheidende Ich-Bewusstsein ins (un)persönliche Erleben geholt, ins evolutionäre, in einen modernen Primatenschrei verwandelt.
Das ist eine schöne Deutung! Ich meine das mit dem urteilenden Ich-Bewusstsein aber noch viel allgemeiner. Ich glaube, das jedes Urteil ein Vorurteil ist und dass das Urteilen selber die eigentliche Funktion des Bewusstseins ist. Man kann nicht mit einer undurchschaubaren Welt interagieren. Man braucht etwas Festes. Das ist das Beurteilte, das aber zugleich der Inhalt unseres Bewusstseins, also ein großer Teil unseres Ichs ist.

Man kann den Test mal machen:

Ein Mensch verhält sich so und so

Weiß ich exakt warum er es getan hat?
Aus welchem Motiv heraus?
Ob er frei war?
Ob und wie er sein eigenes Motiv bewertet?
Was genau er damit wollte?
Usw.

Die Antwort ist ja einfach: Nein.

Mir fehlen also alle Informationen um zu urteilen.
Ich tue es dennoch, denn täte ich es nicht, könnte ich mich nicht mehr sinnvoll verhalten.


Ein paar Mal wollte dir bereits antworten, aber ich gerate übel ins Schwurbeln. Was mir klar macht, wie schwer es ist, in diesen Gefilden zu schreiben und wie gut dir gerade das gelungen ist.

Oh ja, fast so schwer, wie Arztbriefe zu verstehn :D

Dennett soll dich knutschen.
Puhhh, ich glaube, das kommt ein paar Jahre zu spät :D

LG
Patrick
 

petrasmiles

Mitglied
Als ich diesen Nachmittag von der Straße A nach der Straße B abbog, wurde ich meines Aberglaubens beraubt. Es geschah, dass ich innehielt an der Kreuzung, vollständig dumm und unfähig zu bestimmen, ob ich mich nun noch auf der Staße A oder schon auf der Straße B befand. Sie, die Straßen, flossen halkreisförmig ineinander und so sehr ich imstande war, je die eine oder die andere zu bestimmen, so unfähig war ich den exakten Übergang zu bestimmen. Ein Problem, dass sich raumbezogen mit einem Schritt lösen lässt, bloß raumbezogen. Ich selber stand im Unbenannten, in jenem Zwischenraum, der zwei Wahrheiten verbindet und so - und doch so lange vorbereitet - schien es mir plötzlich mit allem zu sein - wie gelange ich von der Ansicht A zu der Ansicht B, wenn ich den Übergang betrachte - den Augenblick der Unbestimmtheit, dh. der Irritation.
Ich muss gestehen, beim ersten Lesen war mir das zu verworren. Heute habe ich den Eindruck, ich war wohl selbst zu verworren. Wenn man die Irritation sähe und empfinden könnte - und die Implikationen - sollte man die Unbestimmtheit des Augenblicks besser nutzen können. Ganz formidabel, diese Lösung durch Abstraktion!

Deine These, dass jedes Urteil ein Vorurteil sei, ist auch so ein 'Nachbrenner'. Eigentlich 'urteile' ich nicht gerne, aber im Alltag und getrieben von reduzierten Denk- und Entscheidungsprozessen tun wir es täglich tausendmal - schon unser Gehirn arbeitet so - aus Gründen von Platz- und Zeitersparnis. Es ist uns nicht immer gegeben, den Augenblick der Unbestimmtheit auszudehnen. Aber zu wissen, dass es ihn gibt und dass man ihn auch bewusst aufsuchen könnte, das hat was.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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