Wo komme ich her? Teil 3

4,00 Stern(e) 1 Stimme
Ein Leben ganz ohne Masken - ganz ohne Pandemie

Sie merken es sicher schon: In meinem Kopf ist ordentlich was los. Egal, was ich tue, denke oder fühle – Berta ist immer mit von der Partie und gibt ungefragt ihren Senf dazu. Falls Sie sich jetzt fragen, wie mein Umfeld auf Berta reagiert, ist die Antwort leider ziemlich peinlich: Niemand weiß von ihr. Und genau das macht sie so mächtig. Denn wenn jemand anderes von ihr wüsste, hätte sie nicht diese uneingeschränkte Herrschaft über mein Leben. Herrschaft mag jetzt wie ein sehr großes Wort klingen aber Sie werden merken, es trifft es ganz gut.

Über die Jahre bin ich zur Meisterin der Tarnung geworden- selbst James Bond als Geheimagent war nie annährend so gut wie ich darin, geheime Aufträge und Missionen zu verschleiern. Mein Umfeld hält mich für wahnsinnig genau, vielleicht sogar ein bisschen pedantisch – aber niemals für zwangskrank. Und ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte: Viele Menschen mit einer ähnlichen Diagnose leben undercover. Weil es einfach nur peinlich ist. Ich meine, wer gibt schon gerne zu, dass er einen Backofen, der seit zwei Tagen nicht benutzt wurde, mehrmals kontrolliert? (Falls Sie gerade gedanklich nicken: Willkommen im Club.)

Frau Sauer weiß das natürlich auch, aber die ist meistens zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Also hat Berta freie Bahn.

Pedantische Menschen – ich liebe dieses Wort, es klingt so wunderbar deutsch – notieren sich, wann der Nachbar seine "Kehrwoche" gemacht hat, wer falsch parkt und ob der Supermarktpreis mit dem Prospekt übereinstimmt. Zwangskranke hingegen wissen, dass sie verrückt sind und der Rest normal – während Pedantische denken, sie seien normal und der Rest verrückt.

Ich weiß genau, dass es "nur" der Zwang ist, der mich zwingt, Dinge zigfach zu kontrollieren. Aber dieser Zwang ist ein Biest. So stark, dass ich inzwischen eine erstklassige Lügnerin geworden bin – nur um "kontrollieren" zu können. Und glauben Sie mir: Ich kontrolliere nicht einfach nur Preise, Nachbarn oder Falschparker. Das wäre Kontrolle für Anfänger.

Ursprünglich war ich mal Gesundheits- und Krankenpflegerin – und ja, da waren Kontrollzwänge wahnsinnig hilfreich. Nicht.

Ich kann aber immerhin behaupten, dass meine Kollegen mich sehr geschätzt haben. Jährliche Mitarbeitergespräche (die merkwürdigste Form der Personalentwicklung, die ich kenne) brachten mir immer dieselbe Rückmeldung ein: "Sehr zuverlässig, wahnsinnig genau, tiefes Fachwissen, stets organisiert."

Was klingt wie die perfekte Mitarbeiterin, war in Wahrheit eine massive Last. Denn eine weitere "Fähigkeit", die ich Berta zu verdanken habe: Ich fühle mich übermäßig für alles und jeden verantwortlich. Stichwort: Kontrollzwang.

Personalengpässe im Gesundheitswesen sind kein Geheimnis. Sie können sich also denken, wie meine fünf Jahre in diesem Job aussahen. Wochenendschichten oft allein mit Kollegen, die entweder wenig Erfahrung hatten oder ihre deutsche Anerkennung noch nicht abgeschlossen hatten. Ich war die Erfahrenste und somit Schichtleitung. Heißt: für alles und jeden verantwortlich. Puls auf 180, Berta im Overdrive. Kontrollzwang und Zwangsgrübeln inklusive.

Selbst wenn der Dienst ruhig war, Berta drehte durch. "Was, wenn du ein Medikament falsch gegeben hast? Was, wenn du eine falsche Mail geöffnet hast und jetzt das Krankenhaus mit einem Virus lahmlegst? War das am Telefon wirklich Herr Müller’s Verwandter? Hast du gerade den Datenschutz gebrochen?!"

Eine wunderschöne Zeit.

Warum ich nie mit jemandem darüber gesprochen habe? Ganz einfach: Ich hielt es nicht für eine Krankheit.

Ja, es schränkte mich ein. Aber ich war damals auch in einer Beziehung mit einem Narzissten – was bedeutete, dass ich sehr beschäftigt damit war, seine Launen vorherzusehen. (Er liebte mich, hasste mich, ignorierte mich, beleidigte mich – manchmal alles an einem Tag.)

Und dann war da noch meine Mutter. Jeden Sonntag um Punkt elf Uhr rief sie an und lieferte mir einen einstündigen Monolog über ihre Woche. Anschließend hatte ich ungefähr fünf Minuten Redezeit, bis sie das Gespräch mit einem "Tschüss, Liebes, ich muss jetzt wirklich los, so viel Zeit habe ich auch nicht" beendete.

Ja, ich hielt all das für völlig normal. Und weil ich mich mit diesen beiden Menschen beschäftigte, fiel mir gar nicht auf, dass ich litt. Dass diese Menschen nicht in meinem Leben sein sollten und dass Berta wieder da war und Frau Sauer sich offenbar beurlaubt hatte (auf Politiker ist heutzutage wirklich kein Verlass mehr).

Kurzer Flashback: Berta war mal weg. Nach meiner ersten Therapie hatte sie sich ein Sabbatical gegönnt, und ich war mehr als froh darüber. Für zwei Jahre hatten wir keinen Kontakt. (An dieser Stelle ein wichtiger Hinweis: Ängste gehen manchmal auf Reisen. Und wenn man Pech hat, kommen sie zurück). Ich hatte Pech aus folgendem Grund:

Mein Leben hatte sich nämlich geändert. Ich hatte meinen absoluten Traummann kennengelernt und zog Hals über Kopf von Stuttgart nach München. Na gut, nicht direkt München. "Münchner Umland" trifft es besser. Oder, wenn man ganz ehrlich sein will: eine Stunde mit der S-Bahn entfernt. Immobilienmakler würden es als "Speckgürtel" verkaufen, ich bevorzuge "Kleinstadt mit S-Bahn-Anschluss".

Beides klingt traurig. Und war es auch.

Aber für meinen Traummann nahm ich alles auf mich: Drei-Schicht-Dienst in Vollzeit, eine Stunde Pendeln, während er in fünf Minuten mit dem Rad zur Arbeit fuhr- was nicht nötig war bei einem Home-Office Anteil von 100%.

Kein Wunder, dass Berta zurückkam.

Denn wir erinnern uns: Ihre einzige Aufgabe ist, mich zu beschützen. Nicht vor Tigern, sondern vor Menschen, die sich nur um sich selbst drehen. Und weil ich damals dachte, dass das völlig normale zwischenmenschliche Beziehungen seien (Spoiler: waren sie nicht), lebte ich weitere fünf Jahre in diesem "perfekten" Leben.

Also verbrachte ich meine 20er zwischen Arbeit, Uni, Pandemie, Himmelhochjauchzend und Zutodebetrübt mit Kontrollzwängen – und war sicher, alles sei völlig normal.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Das ist der dritte Teil. Die anderen beiden Teile:
1. Wo komme ich her? und 2. Hilfe mein Angst hat einen Namen kannst du hier in der Kategorie "Kurzgeschichten" lesen :)
 
Hallo Mrs. Sorgenvoll,

die ersten beiden Teile waren mir zu ausufernd. Aber der hier ist gut. Er bringt direkt auf den Punkt, worum es geht und verliert sich nicht in Trivialitäten.

Schöne Grüße
SilberneDelfine
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo @SilberneDelfine ,
danke für das Feedback. Ich schreibe natürlich auch zum Teil meine Gedanken runter ohne diese groß zu "kontrollieren", glaube aber dass es dir ja doch gefallen hat wenn du trotzdem alle drei Teile gelesen hast- ein ehrliches und aufrichtiges Danke dafür, denn ich weiß die Zeit zu schätzen. Nur durch Feedback kann man sich ja auch am Ende verbessern :)
Viele Grüße
Mrs. Sorgenvoll
 



 
Oben Unten