Wo laufen sie denn?

Markus Veith

Mitglied
Ja, wo laufen sie denn? - Wo laufen sie denn alle hin?
Sie können doch gar nicht richtig laufen. Ihre Pantoffel sind auf dem Teppich festgenagelt. Täglich knacken sie tatkräftig mit den Fingern, machen sie geschmeidig bis in die Spitzen. Aber wozu? Seit Jahren sitzen sie in Startlöchern wie in Sofagarnituren, nur, daß ihre Besser-als-Buckel-Bäuche in ihrer Mitte keine Handkantenfalte haben. Die Fernbedienung ist ihr beliebtestes Freizeitutensil geworden, ein wichtiges Präzisionsinstrument. Sie ermöglicht, nur so lange nur das zu sehen, wie und was man wirklich sehen will und dazu immer noch wohltuende Distanz zu bewahren. Einen netten Ölfilm mit Chipskrümeln im Schoß, Briefbombensendungen ohne Werbeunterbrechung. Das beruhigt den Feierabend. Nur wenn in der Tageszeitung mal das wöchentliche Fernsehprogramm fehlt, überkommt sie ganz schnell der bedrückende Verdacht, die GEZ sei ihnen auf der Spur und durchwühlt ihre Mülltonnen.
Aber sonst ... Die Ruhe haben sie weg, das muß man ihnen lassen. Wir sollten uns alle ein Beispiel an ihnen nehmen. Beispielgeben kommt in Mode. Guten Freunden gibt man ein Beispiel. Oder zwei? Oder drei? ... Besitzanzeigende Fürwörter muß man nicht groß schreiben.
Sie predigen, den Gürtel enger zu schnallen. Daß sie den Bauch darüber tragen, stört sie nicht weiter. Sie bekommen kein schlechtes Gewissen, wenn sie beim Augenarzt die Zahlen nicht lesen können. Schwindeln kann man auch fettgedruckt. Sie bauen sich Garagen, um die Einfahrt davor freihalten zu dürfen. Ausländer werden freundlich, allerdings auch grundsätzlich geduzt. Sie setzen sich niemals direkt neben jemanden. Solange noch genügend Sitze frei sind, lassen sie der Menschlichkeit zwischen ihnen Platz. Höflichkeit bedeutet für sie, einem Rentner den Sitzplatz zu überlassen, ohne sich mit ihm darüber zu streiten. Sie können sich ohne weiteres Überlegungen leisten, ob sie jemanden kennen wollen oder nicht. Der Blick auf die Füße ist schnell getan. Er entkrampft das ständige Aufschauen. Wir sollten uns wirklich alle ein Beispiel an ihnen nehmen. Die Ruhe haben sie weg, das muß man ihnen lassen.
- Lassen wir sie in Ruhe.
Ja, wo laufen sie denn? - Wo laufen sie denn alle hin?
Jeden Morgen fragen sie sich, ob sie endlich ihren langjährigen Plan in die Tat umsetzen, und sich einfach mal für ein paar Stunden tot stellen. Das einzige, was sie davon abhält, ist, daß es niemand bemerken würde. Wenn sie nicht wären, wer würde sich sonst über sie Gedanken machen? Die ganze Welt denkt nur an die eigene Wertschätzung. Nur sie denken an sich. Dabei sind ihre qualmenden Köpfe längst erloschen. In ihrer Freizeit ketten sie sich ans Computer-Solitär und verzocken in der LasVegas-Option nach Pokermanier imaginäre Kontostände. Bei Debil-Com bedeutet Absturz keine Gefahr; der Spaß hält sich in Grenzen, aber was macht das schon? Wer sie beobachtet, wundert sich, daß aus ihren Mundwinkeln kein Speichel suppt. Durch ihre Gedankengänge klickt leise die Logitech-Maus und nagt hier und da fallen- und liegengelassene Verstände an.
Die Midlife-Krise lassen sie an sich vorüber ziehen wie die Tief-Bilder des abendlichen Wetterberichts. In ihrer Ära ihres Mittelalters gleicht ihre Erotik mehr und mehr einem Schneckentanz. Notdürftig wird er mit Schnaufen synchronisiert. Alles kann antörnen, wenn man sich nur darauf einläßt und die Jalusien heruntergezogen sind. Sie krallen sich an die Stangen ihres Laufstalls und brüllen nach drallen Schwimmmeisterinnen. "Pamela! Rette mich!! Ich ertrinke im eigenen Saft!!" Vor dem Badezimmerspiegel hängen sie sich das nasse Badetuch um den Hals, verkneifen sie die verquollenen Augen, verbiegen gequält die Münder, reißen die labberigen Arme hoch und schreien: "Adrian! Wo bist du!!" - Helden der Einsamkeit, die, finden sie eine wüste Sex-Stelle in einem Roman, sofort ein Eselsohr in die Stelle knicken; die abends vor ihrer Bettstatt niederknien und gnädige Götter um feuchte Träume bitten; die sich auf ihrer einsamen Insel verbarrikadieren und so lange vor sich hin einsamen, bis ihre gut durchgeschüttelten Ent-Einsamversuche im Sande verlaufen. Ihre Freunde sind bestenfalls Gummibärchen. Aufreißen und vernaschen. Jaaa! Oral sind die besonders zungenfreundlich. Die machen keine Fisimatenten, wollen nicht diskutieren und so'n Quatsch. Bei denen ist auch die Hautfarbe egal.
Genüßlich leben sie in ihrer Vergangenheit. Blättern schwelgerisch in den Seiten ihrer gesammelten Bundeswehr - sorry - Kommiß-Poesie-Alben und ergötzen sich an den Erinnerungen einstiger Quälereien, von denen nur die wirklich guten übriggeblieben sind. Seelige Gewehr-über-Zeiten aus strategisch strukturierten Tagesabläufen, als Kameradschaft noch erzwungen wurde, als man den Helm einbuddeln mußte, ohne ihn absetzen zu dürfen. Jawoll, meine Herrn, da starb die Garde noch, aber sie ergab sich nicht. - Das waren gute Zeiten.
Und heute? Außer freie Sicht bietet ihre Stirn nichts mehr. Sie ist mit den Kindern groß geworden und die letzten Haare sind über die bare Schädelform geklatscht, wie tote Mücken über eine Windschutzscheibe. Sehnsuchtsvoll beobachten sie ihre Kindern. Deren blasphemischen Spielchen verstehen sie schon lange nicht mehr und die Gedankengänge sind für sie zu eng geworden. Da kommen sie nicht mehr mit. Es fällt ihnen schwer, zu realisieren, daß man von der Perspektive der Kleinen erst 10 cm Schuhsohle abziehen muß; daß sie das "Im-Kindergarten-darf-ich-Ficken-sagen"-Stadium längst überschritten haben. Wenn "schmutzige" Fritzchen&Gretchen-Witze erzählt werden, schicken sie die Kinder immer noch raus und ernten damt schon die beste Pointe. Die Jüngeren erzählen ihnen nie Witze. Und wenn, dann lächeln sie nur verkniffen. Ironie ist solch eine neumodische Kunstform wie Schattenspringen oder Courage. Oh nein, dafür haben sie kein Verständnis. Das ist Humor, der sich lächerlich macht.
Ja, wo laufen sie denn?
Ach, laßt sie doch laufen.
Manchmal beneide ich sie ja. Endlich können sie sich über Krankheiten unterhalten. Ihre Rasse wird nach und nach einen Rarität. Doch bewahre uns der Himmel vor diesem Regen aus fallenden Meistern. Wie soll man diese weisen Affen nachäffen? So langsam kann man sich nicht bewegen.
Ihre Wälder haben sich festgetreten. Und umgraben, das trauen sie sich nicht. Es könnten Maden statt Würmer zum Vorschein kommen. Da hilft eine helfende Hand so wenig, wie ein Tritt in den Hintern. Lethargie ist eine Prophylaxe gegen jene Gedanken, deren schmutzige Finger einem die Hirnschale nach Resten ausschaben. Wer schöpft da noch aus dem Vollen. Meistens haben doch "die Anderen" alles weggenascht und graue Haare wachsen auf ihren zerknirschten Zähnen. Auf den Stirnen wird Zukunftsangstschweiß kalt und verrostet die grauen Arrestnervenzellen. Sie zünden sich ihre letzten Zigaretten an brennenden Traumschlössern an und schauen sich in aller Seelenruhe das lodernde Inferno über all dem an, was sie hätten verwirklichen können, aber was sie ja - So etwas Unrealistisches! - sowieso nicht geschafft hätten. Das ist nun also auch entledigt. Was du heute nicht mehr besorgen kannst, brauchst du morgen auch nicht mehr anzufangen. Ihre letzten Spuren sind Klotürsprüche: "Wer eher stirbt, lebt länger ewig." Mit verheulter Tinte geschrieben. Niemand kann ihnen im Ausschank der Überflüssigkeit das Wasser reichen. Ihre Hölle wurde das Paradies. - Sie betrachten jetzt alles nur von der anderen Seite. Der Rest ist Finderlohn.
Wohin laufen sie? - Vor wem laufen sie wohl fort?
"Oh, es gibt sie noch, ‚die Anderen'!" rufen sie. "Immer wieder kreuzen sie unseren Weg. Seltsame Tiere, die man in unserer Sprache Narren nennt, die in sohlenlosen 7-Meilen-Stiefeln laufen und sich ihr Vorankommen abschaben. Fabelwesen der Unvernunft! Draufgeher! Senkrechtentarter! Wolkenzerkratzer! Eier, die klüger sein wollen, als die Hennen. Die Weisheit offenbar mit Schaufeln gefressen haben. Die können was, die werden was. Die sind in aller Munde. Ha! Die werden bis auf den letzten Tropfen Mut ausgelutscht. Das kann ja keiner durchhalten. Jede Faust öffnet sich, wenn man zwischendurch mal kurz einnickt. Fallrückzieher in bodenlose Tiefen sind nur verständliche Folge. Aber verständlich kommt selbstverständlich von Verstand. Doch damit könnt ihr Traumtänzer nichts anfangen. - Nein, nein, das wahre Glück ist die Genügsamkeit. - ‚Versucht's mal mit Gemütlichkeit.'"
"Wohin lauft ihr? Wir gehören doch zu euch!", rufen die kleinen Kinder mit den Spielzeugköpfen. "Auch für uns wird es einmal ein Jahr 0 geben, nach dem es zu spät sein darf, ‚Zu spät' zu sagen. Wenn es soweit ist, werden wir mit euch laufen. Aber jetzt noch nicht. Man muß zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit man gehen kann. ‚Greif zu, sonst nimmt es dir ein an'drer fort.'
Wohin lauft ihr denn? Wo lauft ihr nur alle hin? Wartet auf mich."
 
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Gast
ES gibt Etwas in Deinen Texten, das gewisse Etwas, das nicht jeder in sich hat. Ich weiss echt nicht, was das sein könnte, ich kann das nicht mit einem-zwei-drei Worten definieren, aber ich kann das spüren. Wie eine Ausstrahlung ...

Marina
 



 
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