Philipp W.
Mitglied
Ich bin allein. Zwar tummeln sich hier sehr viele Leute, aber von denen kenne ich niemanden. Ich bin hier fremd. Stehe an einer großen Kreuzung. In alle Richtungen führen unendlich lang wirkende Straßen. Diese werden von neonfarbenen Leuchtreklamen erhellt. Es ist ein einziges undurchschaubares Gewusel aus Menschen und Lichtreflexionen und ich bin mitten darin verloren. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich war doch perfekt vorbereitet. Angestrengt versuche ich, keine Panik aufkommen zu lassen, doch es gelingt mir kaum. Denn: Ich bin allein.
Ein Tag zuvor:
Ich sitze mit meiner Freundin auf unserer Couch und gehe die Strategie, die Sie ausgearbeitet hat, ein weiteres Mal durch. Sie ist am Fuß verletzt und kann deswegen nicht gehen. Vor allem sollte sie es nicht. Das bedeutet für mich, dass ich den Wocheneinkauf allein machen würde. Projekte dieser Größe und Bedeutung bedürfen einer akribischen Planung. Und so sitze ich über eine detaillierte Karte des Supermarktes gebückt und markiere mir die Stelle, an der laut meiner Freundin die Bananen sein sollten. Ich bin immer noch beeindruckt wie sie an die Karte mit allen Details wie den Gängen und Kassen gekommen ist. Als klar wurde, dass sie nicht mitkommen kann, hat sie einfach die Nummer der Filiale angerufen. Ich habe zu ihr gesagt, dass ihr bestimmt niemand eine Karte des Aufbaus zukommen lassen wird, doch sie hat sich nicht davon abbringen lassen. Als sie nach mehrfachem Weiterleiten die Filialleiterin am Telefon hatte und erklärt hat, sie müsse ihren Freund die nächsten Einkäufe erledigen lassen, war diese sofort bereit zu helfen. Sie meinte, es wäre nicht gut für Ihr Geschäft, dass ständig Notrufe von verirrten und verwirrten Männern daraus abgesetzt werden. Erst vor einer Woche endete eine Suchaktion fast in einer Katastrophe, da die örtliche Polizei einen rein männlichen Suchtrupp losgeschickt und der sich binnen Minuten selbst verlaufen hätte. Die Beamten und der gesuchte Kunde wurden dann gemeinsam von einer Mitarbeiterin zum Ausgang begleitet. Das weibliche Personal, sowohl das des Supermarktes als auch das der Einsatzorganisationen, sei außerdem schon an seinen Belastungsgrenzen durch die vermehrten Einsätze seit dem Ausbau. Ich denke, dass das Orientierungs-Invertions-Portal zu stark eingestellt ist, aber auf mich will ja niemand hören. Jedenfalls war zwei Minuten später im Posteingang meiner Freundin eine E-Mail mit dem detaillierten Grundriss des Supermarktes. Das war am Montag und seitdem sind wir damit beschäftigt, eine Liste der benötigten Produkte zu erstellen, deren Standort auf der auf A2 ausgedruckten Karte zu markieren und diese durch eine möglichst einfache Linie zu verbinden, die meine Route am darauffolgenden Samstag darstellen sollte.
Ich frage mich, warum nicht generell die Wege zu Produktgruppen in Supermärkten mit farbigen Linien am Boden gekennzeichnet sind, wie man sie aus Krankenhäusern kennt. Wenn diese Markierungen den Weg zu Andrologie, Endoprothetik und Diätologie weisen können, warum dann nicht zu Obst, Milchprodukten und Backwaren?
Nach den Bananen zwei Mal geradeaus, dann links, aber nicht zu den Süßigkeiten, sondern einen Gang später, und da sind rechts auf halber Höhe die Nudeln, präge ich mir ein. Den Kompass in der einen Hand, trainiere ich mit der anderen, die Karte einzunorden, ohne dass die sich dabei zusammenfaltet. Wie jeden Abend im Wohnzimmer-Einkaufs-Bootcamp, gehe ich anschließend die markanten Landschaftsmerkmale der Reihe nach durch. Die könnten mir notfalls bei der Bestimmung meines Standorts helfen. Stirnseitig, fast über die gesamte Breite des Gebäudes, die Feinkosttheke. Ganz im Westen die die Regale überragenden Nummerntafeln bei den Kassen. In den letzten Tagen hat sich in meinem Kopf ein fast vollständiger 3D-Plan des Supermarktes gebildet, den ich jederzeit und zuverlässig abrufen kann. Zum Test weckt mich meine Freundin um zwei Uhr morgens und lässt mich verbal zu verschiedenen Produkten navigieren, während ich auf einem Bein stehend jonglieren muss. Bei einem Fehler oder wenn ich einen Ball fallen lasse, muss ich alle Rabatt-Ausnahmen zitieren und dann ist wieder eine halbe Stunde Schlaf vergeudet. Auch körperlich ist das Training hart. Nach der Arbeit jogge ich, mit Sandsäcken gefüllten Tragetaschen beladen, durch den Ort. Das bleibt auch von den Anwohnern nicht unbemerkt. An Wirtshausstammtischen redet man bereits vom sausenden Sandmann. Ich hätte mir meinen Spitzbart rasieren sollen. Eltern drohen ihren Kindern: „Wenn du nicht brav bist, holt dich der Hobbit von Hochwasserschutz“. Ich hätte mir die Füße rasieren sollen. Doch all die Mühen sollten sich auszahlen, denn jetzt, am Freitagabend, fühle ich mich bereit.
Samstagmorgen bin ich früh wach, aber ausgeschlafen, weil diesmal die nächtliche Prüfung weggefallen ist. Ich gehe ein letztes Mal das vorbereitete Equipment durch. Einkaufstaschen, Geld, Karte, Kompass, Sextant, Proviant, Wasser, Satellitentelefon mit Solar-Powerbank, Wanderschuhe. Alles da. Ich steige ins Auto, fahre los und parke wenige Minuten später auf einer ehemaligen Tiefkühltruhe. Nur 20 Minuten später, hier macht sich das durch das Training stramme Marschtempo das erste Mahl bezahlt, habe ich den Parkplatz hinter mir gelassen und stehe vor der riesigen Glasfront. Neben dem Portal klebt ein runder Aufkleber. Darauf steht: „Wir müssen draußen bleiben“. Mir ist nicht klar, warum Hunde mit einer Leine nicht in den Supermarkt dürfen, Männer ohne Leine aber schon. Also betrete ich, ohne angeleint zu sein, das Gebäude.
Ich versuche meine Umgebung nicht wahrzunehmen, auch wenn mich sofort ein Schwindelgefühl überkommt. Ich muss wie eine Maschine funktionieren, alles ist vorprogrammiert. Zwei Schritte halblinks, Einkaufswagen nehmen, fünfeinhalbschritte nach West-Süd-West durch den zweiten Teil des Portals. Durch den gedanklichen Supermarkt zum ersten Produkt. Immer weiter. Schritt für Schritt. Produkt für Produkt. Es funktioniert hervorragend. Fast alles habe ich bereits gefunden, als ich plötzlich nicht weiterkomme, obwohl ich in Gedanken kein Hindernis vor mir habe. Ich blicke auf und sehe vor mir einen Einkaufswagen mit Produkten, die aufs Einräumen warten, und eine Leiter. Schnell versuche ich, mich wieder zu konzentrieren und in meine Trance zurückzukehren. Doch zu spät, ich habe die Orientierung verloren. Ich hole die Karte heraus doch alles darauf wirkt wie verschwommen und völlig unklar. Langsam sehe ich mich um.
Ich bin allein. Zwar tummeln sich hier sehr viele Leute, aber von denen kenne ich niemanden. Ich bin hier fremd. Stehe an einer großen Kreuzung. In alle Richtungen führen unendlich lang wirkende Straßen. Diese werden von neonfarbenen Leuchtreklamen erhellt. Es ist ein einziges undurchschaubares Gewusel aus Menschen und Lichtreflexionen und ich bin mitten darin verloren. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich war doch perfekt vorbereitet. Angestrengt versuche ich, keine Panik aufkommen zu lassen, doch es gelingt mir kaum. Denn: Ich bin allein.
„Suchen Sie etwas bestimmtes?“, fragt mich eine freundliche Frauenstimme von der Leiter herab.
Ich drehe mich zu ihr um und antworte, noch immer leicht von der Rolle: „Ja, ich suche das Tiefkühlgemüse und ääähm…“ „Den Ausgang?“, ergänzt sie fragend. „Ja“, antworte ich erleichtert.
Ich folge ihr zu den Tiefkühlwaren und den Kassen. Danach begleitet Sie mich noch die paar Meter zum Ausgang. Dort bedanke ich mich bei Ihr. „Kein Problem, Sie sind viel weitergekommen als die meisten.“ „Ja, ich glaube euer Orientierungs-Invertions-Portal ist zu stark eingestellt.“ „Unser was?“ „Ach egal, danke nochmal!“
Ich verlasse den Supermarkt durch das Orientierung-Reinvertions-Portal. Sofort beschleicht mich das Gefühl, plötzlich wieder zu wissen, wo ich mich befinde und wo ich hinmuss.
Ein Tag zuvor:
Ich sitze mit meiner Freundin auf unserer Couch und gehe die Strategie, die Sie ausgearbeitet hat, ein weiteres Mal durch. Sie ist am Fuß verletzt und kann deswegen nicht gehen. Vor allem sollte sie es nicht. Das bedeutet für mich, dass ich den Wocheneinkauf allein machen würde. Projekte dieser Größe und Bedeutung bedürfen einer akribischen Planung. Und so sitze ich über eine detaillierte Karte des Supermarktes gebückt und markiere mir die Stelle, an der laut meiner Freundin die Bananen sein sollten. Ich bin immer noch beeindruckt wie sie an die Karte mit allen Details wie den Gängen und Kassen gekommen ist. Als klar wurde, dass sie nicht mitkommen kann, hat sie einfach die Nummer der Filiale angerufen. Ich habe zu ihr gesagt, dass ihr bestimmt niemand eine Karte des Aufbaus zukommen lassen wird, doch sie hat sich nicht davon abbringen lassen. Als sie nach mehrfachem Weiterleiten die Filialleiterin am Telefon hatte und erklärt hat, sie müsse ihren Freund die nächsten Einkäufe erledigen lassen, war diese sofort bereit zu helfen. Sie meinte, es wäre nicht gut für Ihr Geschäft, dass ständig Notrufe von verirrten und verwirrten Männern daraus abgesetzt werden. Erst vor einer Woche endete eine Suchaktion fast in einer Katastrophe, da die örtliche Polizei einen rein männlichen Suchtrupp losgeschickt und der sich binnen Minuten selbst verlaufen hätte. Die Beamten und der gesuchte Kunde wurden dann gemeinsam von einer Mitarbeiterin zum Ausgang begleitet. Das weibliche Personal, sowohl das des Supermarktes als auch das der Einsatzorganisationen, sei außerdem schon an seinen Belastungsgrenzen durch die vermehrten Einsätze seit dem Ausbau. Ich denke, dass das Orientierungs-Invertions-Portal zu stark eingestellt ist, aber auf mich will ja niemand hören. Jedenfalls war zwei Minuten später im Posteingang meiner Freundin eine E-Mail mit dem detaillierten Grundriss des Supermarktes. Das war am Montag und seitdem sind wir damit beschäftigt, eine Liste der benötigten Produkte zu erstellen, deren Standort auf der auf A2 ausgedruckten Karte zu markieren und diese durch eine möglichst einfache Linie zu verbinden, die meine Route am darauffolgenden Samstag darstellen sollte.
Ich frage mich, warum nicht generell die Wege zu Produktgruppen in Supermärkten mit farbigen Linien am Boden gekennzeichnet sind, wie man sie aus Krankenhäusern kennt. Wenn diese Markierungen den Weg zu Andrologie, Endoprothetik und Diätologie weisen können, warum dann nicht zu Obst, Milchprodukten und Backwaren?
Nach den Bananen zwei Mal geradeaus, dann links, aber nicht zu den Süßigkeiten, sondern einen Gang später, und da sind rechts auf halber Höhe die Nudeln, präge ich mir ein. Den Kompass in der einen Hand, trainiere ich mit der anderen, die Karte einzunorden, ohne dass die sich dabei zusammenfaltet. Wie jeden Abend im Wohnzimmer-Einkaufs-Bootcamp, gehe ich anschließend die markanten Landschaftsmerkmale der Reihe nach durch. Die könnten mir notfalls bei der Bestimmung meines Standorts helfen. Stirnseitig, fast über die gesamte Breite des Gebäudes, die Feinkosttheke. Ganz im Westen die die Regale überragenden Nummerntafeln bei den Kassen. In den letzten Tagen hat sich in meinem Kopf ein fast vollständiger 3D-Plan des Supermarktes gebildet, den ich jederzeit und zuverlässig abrufen kann. Zum Test weckt mich meine Freundin um zwei Uhr morgens und lässt mich verbal zu verschiedenen Produkten navigieren, während ich auf einem Bein stehend jonglieren muss. Bei einem Fehler oder wenn ich einen Ball fallen lasse, muss ich alle Rabatt-Ausnahmen zitieren und dann ist wieder eine halbe Stunde Schlaf vergeudet. Auch körperlich ist das Training hart. Nach der Arbeit jogge ich, mit Sandsäcken gefüllten Tragetaschen beladen, durch den Ort. Das bleibt auch von den Anwohnern nicht unbemerkt. An Wirtshausstammtischen redet man bereits vom sausenden Sandmann. Ich hätte mir meinen Spitzbart rasieren sollen. Eltern drohen ihren Kindern: „Wenn du nicht brav bist, holt dich der Hobbit von Hochwasserschutz“. Ich hätte mir die Füße rasieren sollen. Doch all die Mühen sollten sich auszahlen, denn jetzt, am Freitagabend, fühle ich mich bereit.
Samstagmorgen bin ich früh wach, aber ausgeschlafen, weil diesmal die nächtliche Prüfung weggefallen ist. Ich gehe ein letztes Mal das vorbereitete Equipment durch. Einkaufstaschen, Geld, Karte, Kompass, Sextant, Proviant, Wasser, Satellitentelefon mit Solar-Powerbank, Wanderschuhe. Alles da. Ich steige ins Auto, fahre los und parke wenige Minuten später auf einer ehemaligen Tiefkühltruhe. Nur 20 Minuten später, hier macht sich das durch das Training stramme Marschtempo das erste Mahl bezahlt, habe ich den Parkplatz hinter mir gelassen und stehe vor der riesigen Glasfront. Neben dem Portal klebt ein runder Aufkleber. Darauf steht: „Wir müssen draußen bleiben“. Mir ist nicht klar, warum Hunde mit einer Leine nicht in den Supermarkt dürfen, Männer ohne Leine aber schon. Also betrete ich, ohne angeleint zu sein, das Gebäude.
Ich versuche meine Umgebung nicht wahrzunehmen, auch wenn mich sofort ein Schwindelgefühl überkommt. Ich muss wie eine Maschine funktionieren, alles ist vorprogrammiert. Zwei Schritte halblinks, Einkaufswagen nehmen, fünfeinhalbschritte nach West-Süd-West durch den zweiten Teil des Portals. Durch den gedanklichen Supermarkt zum ersten Produkt. Immer weiter. Schritt für Schritt. Produkt für Produkt. Es funktioniert hervorragend. Fast alles habe ich bereits gefunden, als ich plötzlich nicht weiterkomme, obwohl ich in Gedanken kein Hindernis vor mir habe. Ich blicke auf und sehe vor mir einen Einkaufswagen mit Produkten, die aufs Einräumen warten, und eine Leiter. Schnell versuche ich, mich wieder zu konzentrieren und in meine Trance zurückzukehren. Doch zu spät, ich habe die Orientierung verloren. Ich hole die Karte heraus doch alles darauf wirkt wie verschwommen und völlig unklar. Langsam sehe ich mich um.
Ich bin allein. Zwar tummeln sich hier sehr viele Leute, aber von denen kenne ich niemanden. Ich bin hier fremd. Stehe an einer großen Kreuzung. In alle Richtungen führen unendlich lang wirkende Straßen. Diese werden von neonfarbenen Leuchtreklamen erhellt. Es ist ein einziges undurchschaubares Gewusel aus Menschen und Lichtreflexionen und ich bin mitten darin verloren. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich war doch perfekt vorbereitet. Angestrengt versuche ich, keine Panik aufkommen zu lassen, doch es gelingt mir kaum. Denn: Ich bin allein.
„Suchen Sie etwas bestimmtes?“, fragt mich eine freundliche Frauenstimme von der Leiter herab.
Ich drehe mich zu ihr um und antworte, noch immer leicht von der Rolle: „Ja, ich suche das Tiefkühlgemüse und ääähm…“ „Den Ausgang?“, ergänzt sie fragend. „Ja“, antworte ich erleichtert.
Ich folge ihr zu den Tiefkühlwaren und den Kassen. Danach begleitet Sie mich noch die paar Meter zum Ausgang. Dort bedanke ich mich bei Ihr. „Kein Problem, Sie sind viel weitergekommen als die meisten.“ „Ja, ich glaube euer Orientierungs-Invertions-Portal ist zu stark eingestellt.“ „Unser was?“ „Ach egal, danke nochmal!“
Ich verlasse den Supermarkt durch das Orientierung-Reinvertions-Portal. Sofort beschleicht mich das Gefühl, plötzlich wieder zu wissen, wo ich mich befinde und wo ich hinmuss.
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