Wortarm

voltariusm40

Mitglied
B. G. Voltarius; „Wortarm“

- Er fand keine Worte, der erste Liebesbrief
-

Die Geschichte: Ein junger selbstverliebter Student muss sich nach begeistertem Kennenlernen einer jungen entschlossenen Frau und anschließender Erschütterung ihres Vertrauens bewähren. Sie lieben sich. Sie wollten die gemeinsame Zukunft gestalten. Es könnte für beide kaum besser laufen. Das Glück scheint vor der Tür zu stehen. Das Problem ist nur, dass es Florian nicht hereinlässt. Ihn plagen Zweifel. Ist er tatsächlich bereit, sich dauerhaft zu binden. Eine quälende Periode beginnt. Steht er sich selbst im Weg?

Wortarm

„Wer liebt, muss das Los dessen teilen,

den er liebt.“ Michail A. Bulgakow

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Das wilde Plappern der beiden Frauen, die am Nachbartisch saßen, weckte seine Aufmerksamkeit. Die Frau mit dunklen zusammengebundenen Haaren, genau in seiner Blickrichtung, fesselte ihn. Sie erschien ihm bildhübsch. Sie war mit einem blaugestreiften Shirt bekleidet. Er schaute immer wieder in diese Richtung. Sie wurde schräg vom Licht angestrahlt. Für ein Porträtfoto wäre es eine gute Sicht, plastisch mit leichten Schatten. Von weitem studierte er ihr glattes, feingezeichnetes Gesicht, ihr Lächeln um den Mund, wenn sie der anderen schnatternden Frau zuhörte. Er fixierte sie, ergründete ihre Kopfhaltung, ihre Gesichtsform, ihre Augen. Was für eine Frau! Er war begeistert von ihr. In seinen Gedanken stiegen geheime Wünsche auf. Sie bemerkte nicht, dass sie gemustert wurde. Er bedauerte, kein Talent zum Skizzieren zu haben, sonst hätte er die beeindruckenden Umrisse ihres Kopfes auf der vor ihm liegenden Papierserviette festgehalten. Er fand sie im Profil sehr attraktiv. Ihre Augenpartie faszinierte ihn. Waren die Augen braun? Er konnte es nicht genau ausmachen. Gern würde er sie von nahem beäugen. Er möchte ihrem Blick begegnen, sie länger als einen Augenblick anschauen, ihr tief in die Augen sehen und dort verweilen.

Die Signale des Schaufelraddampfers auf der Elbe, der gerade das Blaue Wunder, wie die Loschwitzer Brücke in Dresden genannt wurde, durchfuhr, zog seinen Blick auf das historische Wasserfahrzeug. Das Anlanden an den Haltepunkt Blasewitz wurde vorbereitet. Das Plätschergeräusch der rotierenden Schaufelräder unter den wappenverzierten Radkästen verringerte sich systematisch.

Er, Florian, Student, saß vor einer Tasse duftenden Kaffees und einem goldgelben Stück Dresdner Eierschecke, einer sächsischen Käsekuchenspezialität, im Gartenbereich des historisch bedeutsamen Schillergartens, unmittelbar neben dem Blauen Wunder in Blasewitz, gelegen.

Zu seiner schwarzen Hose trug er einen gelben Pulli, womit er einen Kontrast erzielen wollte.

Er löffelte von der Haube geschäumter Milch auf seinem Kaffee, Wiener Melange. Die Eierschecke vom Schillerplatz war legendär. Er schnitt mit der Gabel einen weiteren Bissen ab und genoss ihn lange im Mund. Eine Zeit lang schaute er, seine Eierschecke genießend, ins Leere oder abwechselnd zum Fluss oder zur Brücke. Dazwischen immer wieder zu der ihn beeindruckenden Frau.

Er hielt sich gern an der Elbe auf, am Wasser mit Enten und Möwen. Auf dem Wasser regte sich Betriebsamkeit. Einen Augenblick unkonzentriert und schwapp ein Brocken Eierschecke fiel auf seine schwarze Jeanshose. Er verrieb den Fleck.

Der Wind an diesem warmen Spätsommertag blies etwas, er wedelte die ersten gefallenen Blätter auf der Straße auf und trug sie in Richtung Fluss und Brücke. Ein Vers aus der Grundschulzeit kam ihn in den Sinn: Blätterfall, Blätterfall, gelbe Blätter überall. Raschel, raschel – es wird kalt. Und der Schnee bedeckt sie bald. Blätterfall, Blätterfall – gelbe Blätter überall.

Die schräg auf die Brücke fallenden Sonnenstrahlen brachten das intensive Hellblau der Brücke gut zur Geltung. Auf dem anderen Elbufer begann der Körnerweg, den er gern mit dem Rad entlangfuhr. Aber an diesem Tag ging er seiner Leidenschaft, seinem Spleen nach. Er liebte die entspannend wirkende Kaffeehausatmosphäre. In Romanen hatte er über die Wiener Kaffeehauskultur gelesen. Stefan Zweig beschrieb sie sehr ausführlich. Ob Schriftsteller oder Maler, sie verbrachten ihre Freizeit in angenehmer Atmosphäre im Kaffeehaus.

Während er sonst einmal in der Woche seinen Kuchen im gegenüberliegenden Café Toscana am Schillerplatz verputzte, zog er an diesem behaglichen, wohligen Samstag einen Platz im Freien vor.

Über das Blaue Wunder bewegte sich mäßiger Verkehr. Die Ende des 19. Jahrhunderts gebaute Brücke wurde damals als Wunder bezeichnet, weil sie ohne Pfeiler im Flussbett auskam. Mit dem blauen Anstrich hatte sie in der Öffentlichkeit ihren Namen weg. Zu jener Zeit mussten die Benutzer der Brücke noch Brückengeld bezahlen, zwei Pfennige für Fußgänger und später zwanzig Pfennige für Benzinkutschen. Pferdefuhrwerke kosteten nur zehn Pfennige. 1945 wurde sie von Heimatverbundenen vor einer Sprengung gerettet.

Als Florian die Gedanken über die Brücke durch den Kopf gingen, schnatterten die zwei junge Frauen am Nachbartisch unentwegt. Immer wieder schaute er in diese Blickrichtung. Aber er konnte den Blick der auf ihn anziehend wirkenden Frau nicht einfangen.

Im Grund war er schüchtern und befangen. Er war ungeübt, einen Kontakt zu einer Frau aufzubauen. Von seinem Zimmerkumpan im Wohnheim hatte er für den Umgang mit Frauen Ratschläge bekommen. Sie kamen ihm in den Sinn: unbefangen, entschlossen auf Frauen zugehen, resolut sein, dezente Dreistigkeit, Dominanz zeigen.

Er stand auf, lief langsam zum Tisch mit den zwei Frauen. "Hey, darf ich mich setzen?", fragte er. Verdutzt schauten ihn die Frauen an und nickten.

Um ein Gespräch beginnen zu können, verwies er auf den vor wenigen Minuten vorbeigefahrenen Raddampfer. Er gehöre zu den ältesten dieser Art in der Welt.

Er fragte die beiden Frauen, ob sie den historischen Hintergrund des Schillergartens kennen würden. Er informierte, dass im Gangbereich der Gaststätte eine Tafel hänge, die erkläre, wie das Fachwerkhaus zu seinem Namen gekommen sei. Er deklamierte. Friedrich Schiller sei 1785 während seiner Wanderungen vom Körnerschen Weinberghäuschen in die Umgebung hier immer eingekehrt. Er habe dabei die Gastwirtstochter Justine Segedin kennengelernt. Er habe sie Gustel genannt. In Wallensteins Lager seiner Wallenstein-Trilogie habe er sie verewigt:

Was? Der Blitz!

Das ist ja die Gustel von Blasewitz.


Mit den Frauen wollte sich kein rechtes Gespräch entwickeln. Eigentlich hatten sie ihre eigenen Themen. Das von ihm angehimmelte weibliche Wesen stand auf und ließ wissen, dass sie sich die Tafel ansehen wolle.

Florian schaute ihr nach und taxierte ihre Körperhaltung, den aufrechten Gang, ihre Nackenpartie, die Kurven, die schwungvoll geformten Beine. Sie war ein wenig hochbeinig, nicht breit in den Hüften. Im Profil schien sie ihm etwas kantig zu sein. Er schloss kurzzeitig die Augen und stellte sie sich wieder frontseitig vor. Die am Tisch verbliebene Frau fragte, ob er zuhause einsam gewesen sei, weil er allein hier sitze.

Nach kurzer Zeit klingelte das Handy der anderen Frau. Sie nahm entgegen. Aus ihrer Mimik konnte er eine gewisse Überraschung ablesen. Durch eine momentane Ruhe im Garten hörte er Wortfetzen vom Handy: akademischer Schlauschwätzer - wir gehen.

Die Frau stand auf, verabschiedete sich. Er saß allein am Tisch. Innerlich enttäuscht.

Florian war von Natur aus zurückhaltend, gehemmt, unsicher. Als Schüler verehrte er in seiner Kindheit und Jugendzeit ein Mädchen, das er meist nur von weitem ansah und bewunderte. Nach dem Unterricht gingen sie eine kurze Wegstrecke gemeinsam. Sie ging durch den Garten zum Wohnhaus, er stand am Zaun und sah ihr noch lange nach. Sie winkte kurz. Zu längeren Gesprächen konnte er sich nicht durchringen. Wenn er zum Einkaufen geschickt wurde, führte sein Weg meist an dem Garten vorbei. Wenn sie dort mit dem Hund spielte, blieb er am Zaun stehen.

Als Pubertierender schrieb er seine Gedanken lieber in Geheimbriefen mit geheimen Substanzen auf. Wie die Römerinnen im Altertum habe er zuerst mit Milch, dann auch mit Essig, Zitronen- oder Zwiebelsaft geschrieben. Wenn er in den Schulpausen ihr die Zettelchen zugesteckt habe, sei auf dem Papier nichts zu sehen gewesen. So sei die Diskretion gewahrt geblieben, falls ihn andere beobachtet hätten und vielleicht den Inhalt erfahren wollten. Erst beim Erhitzen sei die Schrift lesbar geworden, das habe er ihr leise zugerufen. Später habe er Chemikalien verwendet, die erst nach dem Besprühen mit einer anderen Substanz farbig wurden. Vorerst war die Schrift nicht lesbar. Aber mit speziellen Methoden, die er ihr verriet, konnte die Angebetete den Text sichtbar machen. Er konnte bei ihr nicht landen. Sie verfiel den Sprüchen eines älteren Draufgängers.

Er hatte Perioden, in denen er mit seinem Äußeren Eindruck auf Frauen machen wollte. Eine Zeit lang verfiel er in Retro-Look und drückte sich in seine langen Haare Wasserwellen, wie sie Elvis Presley trug. Er vollzog damals einen kurzzeitigen Sprung in die Naivität. Beim Rock n´ Roll auf der Tanzfläche befielen ihn ekstatische Zuckungen. Er wusste, dass er nicht das bieten konnte, was Elvis in den Frauen anregte, wie Elvis Glanz in den Augen junger Frauen erzeugte. Eine geraume Zeit setzte er beim Flanieren auf der Straße einen Texas-Hut auf.

Nun als Student wohnte Florian im Wohnheim mit Hubert in einem Zimmer. Dieser war durch und durch ein Heißsporn. Er prahlte oft mit seinem zurückliegenden Leben im Bauwagen, es sei oft recht lustig und ausgelassen zugegangen, sie hätten diesen Frohsinn und die Ungehemmtheit mit einer beträchtlichen Zahl Frauen geteilt. In den Frauen sah Hubert ein Spielobjekt. Er hatte eine sehr gute Meinung von sich selbst, er war ein ausgeprägter Narzisst und sein wundervolles Ich wollte er mit vielen Frauen teilen. Er brauchte die Frauen, um sein männliches Über-Ich, sein aufgeblähtes Selbstwertgefühl zu bestätigen und so sein Image zu pflegen. Hierfür kam ihm eine langhaarige Brünette mit Modelfigur, die wie eine Klette an ihm zu hängen schien, sehr entgegen. Bei ihr traf die Feststellung Virginia Woolfs voll zu, dass die zornigen Männer…die Frau nur als Spiegel brauchen, in dem der Mann in mythischer doppelter Größe widergespiegelt wird und seine Bestätigung erfährt. Ihr gegenüber konnte Hubert Macht ausüben und Anerkennung erhalten. Um aber seine übersteigerten Größenfantasien ausleben zu können, benötigte er permanent One-Night-Stands mit anderen weiblichen Körpern.

Florian war vom Wesen her verschlossen, zugeknöpft, in sexuellen Fragen unerfahren. Ihm widerstrebte solch eine Haltung. Im Inneren war er vielleicht auch neidisch, denn diese Art Erfolge konnte er nicht vorweisen. So hatte er für die Ratschläge Huberts im Kontakt zu Frauen durchaus ein offenes Ohr, um seine Schüchternheit überwinden zu können. Zwar wolle er gegenüber weiblichen Wesen keine Dominanz zeigen, er war für Selbstbestimmung. Aber ein couragiertes, energisches, schneidiges Auftreten könne er sich schon angewöhnen. Das wolle er lernen.

Bei warmem Wetter legte sich Hubert gern auf der Rasenfläche am Haus ins Gras und las. Er verschlang förmlich die Romane französischer Schriftsteller, sei es von Balzac, Stendhal, Hugo, Duma, Zola und anderen. Florian wurde neugierig. Mit den Hinweisen von Hubert lernte er ebenfalls, diese Literatur zu schätzen. In den Erntezeiten für Obst stromerten beide in den Abendstunden durch Obstplantagen und trugen beutelweise Äpfel in ihre Unterkunft und stapelten die Früchte in Kartons unter den Betten. Auch Weißkohl von den Feldern ernteten sie und bereiteten daraus Sauerkraut. Schon im alten Griechenland und bei den Römern war die gesäuerte Zubereitung beliebt. Und in Deutschland gilt es als Nationalgericht, weshalb nach dem Krieg die Amerikaner für die Deutschen schnell die Bezeichnung Krauts parat hatten. Das Kraut wurde fein geschnitten, mit Salz und Kümmel vermengt und in einem großen Plastikeimer fest gestampft, abgedeckt, beschwert und der Milchsäuregärung überlassen. In den drei bis vier Wochen der Reifung entwickelte sich ein penetranter Geruch im Raum. Die Insassen gewöhnten sich daran, aber andere hielten sich am liebsten die Nase zu, wenn sie das Zimmer betraten. Kurz bevor das gesäuerte Kraut aufgebraucht war, wurde die Prozedur wiederholt.

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Florian studierte Chemie in Dresden an der Universität. Im altehrwürdigen, in den zwanziger Jahren im Stil der Reformarchitektur erbauten dreiflügeligen Försterbau mit hohen Satteldächern hörte er die Vorlesungen und experimentierte in den Praktikumssälen.

Schon nach wenigen Wochen wurde ihm seine Rot-Grün-Schwäche zum Verhängnis, weil er in der Maßanalyse das Verschwinden der Rotfärbung zu zeitig wahrnahm und so den Gehalt des Reagens, den chemischen Wirkungswert, falsch bestimmte und schlechte Bewertungen erhielt. Er merkte, dass er zu wenig von dem zu bestimmenden Stoff fand. Also ließ er andere Kommilitonen am Endpunkt mit in den Erlenmeyerkolben schauen. Sie gaben Signal, wenn sie den Umschlag erkannten. Folglich konnte er seinen Analysenwert mit einem Korrekturfaktor multiplizieren und den richtigen Gehalt ermitteln.

Im anorganischen Praktikum erfuhr er nun auch den theoretischen Hintergrund für seine als Junge angewandte Geheimtinte, als er Geheimbriefe für das in seiner Pubertät verehrte Mädchen mit Blutlaugensalz-Lösung oder mit gelöstem Rhodanid, das er in Haarwuchsmitteln fand, schrieb. Das Geschriebene war vorerst unsichtbar. Nach Besprühen mit Eisensalz-Lösung erhielt man eine blaue bzw. tiefrote Schrift. Bei dieser blauen Farbe erinnerte er sich im Praktikum wieder an die Familie Treibel in Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel, die große Unternehmen zur Produktion von Berliner Blaubesaß, das in der Farbenindustrie verarbeitet wurde.

Die Melancholie der herbstlichen Abende an der Elbe klang ab, es wurde Winter. Die Farben in der Natur waren verschwunden, sie wechselten von bunt zu fahl, zu kalt und matt, Eis und Schnee gaben den Bäumen ein anderes Aussehen. Das Licht über den Dächern der Stadt, am Fluss änderte sich, der Einfallswinkel war anders. Abends wurde die Silhouette der Brühlschen Terrasse, der Hofkirche, der Semper Oper angestrahlt, von der Elbe aus ein imposanter Anblick, somit wurde das fehlende Licht des kurzen Tages aufgewertet.

Florian konnte vom Wohnheim zu Fuß zur Uni gehen, vorbei an Bäumen mit Raureif, über glatte Fußwege. Am zweiten Februar, dem Lichtmesstag, schneite es den ganzen Tag. Florian entsann sich an die Bauernregel seines Großvaters Wenn’s an Lichtmess stürmt und schneit, ist der Frühling nicht mehr weit. Für Florians Großvater war Lichtmess der Beginn des Bauernjahres. Dieser Tag wurde mit einem Festessen begangen. Die Weihnachtszeit ging zu Ende, das keimende Leben und die Fastnachtszeit begann.

Der Fasching wurde in Dresden nicht besonders zelebriert. Aber es gab verschiedene Tanzveranstaltungen. Der Festball an der Universität wurde meist gemeinsam von den technischen Richtungen und den medizinischen Kliniken ausgerichtet. Florian war unentschlossen, tolle Tage unbefangen zu begehen. Als er sich endlich innerlich durchringen konnte, daran teilnehmen zu wollen, waren die sehr gefragten Karten bereits vergeben. Er entschied sich für einen Faschingsball im Schillergarten.

Als Kostüm hatte er einen Jutesack hergerichtet, in den er zwei Armlöcher geschnitten hatte. Mit einem dicken Strick um den Bauch konnte er als Ordensbruder auftreten. Während eines Tanzes sah er plötzlich abseits die junge Frau, die er vor Monaten im Garten des Schillergartens in Augenschein genommen hatte, wieder, nun im Indianerkostüm. In der Tanzpause suchte er nach ihr, er fand sie, sprach sie couragiert an und gab einen Drink an der Bar aus. Er schaute in ihre rehbraunen Augen. Aber ehe sie zu einem Gespräch kamen, wurde sie von einem anderen Mann zum Tanz aufgefordert. Wie ein begossener Pudel schaute er nach. An diesem Abend konnte er die Indianerfrau nicht wieder ausfindig machen.

Nach Monaten, als er gerade im vorderen Teil des vollbesetzten Busses den Zelleschen Weg entlangfuhr, sah er diese Frau mit den rehbraunen Augen an der hinteren Tür. Blitzschnell realisierte er, dass sie wahrscheinlich bald aussteigen würde. Drängelnd, intensiv mit den Ellenbogen arbeitend, manchen Fahrgästen auf die Füße tretend, bahnte er sich den Weg durch die dicht stehenden Menschen. Mit wenigen Worten begann er einen zögerlichen Kontaktdialog. Sie sah ihn mit einem behutsamen, etwas spitzbübischen, leicht verschmitzten, teils ernsten Lächeln an. Ihre Haare hatte sie wirkungsvoll zu einem Knoten hochgesteckt. Er schaute sie länger als einen Augenblick an, sie wich seinem Blick nicht aus. Diese Sprache der Augen löste in ihm ein Glücksgefühl aus, ja faszinierte ihn. Diese Frau wolle er näher kennenlernen, sie errege sein Interesse. Wie weit würde sie im Bus mitfahren, wann würde sie aussteigen. Er kramte in seinen Jackentaschen nach einem Zettel. Als der Bus zum Halten an der nächsten Haltestelle ansetzte, kritzelte er mit einem Bleistiftstummel, den er meist in seinen Jacken mit sich trug, schnell seine Adresse auf den zerknitterten Zettel. Wenn sie Lust habe, mit ihm ins Theater zu gehen, bat er sie, könne sie ihm ein Signal geben. Er drückte ihr schnell den Zettel in die Hand, und schon stieg sie an der folgenden Haltestelle aus, um in einen Fernbus ins Vorgebirge umzusteigen. Sie hatte ihm noch gesagt, in welchem Ort sie arbeite, ihre Wohnadresse erfuhr er nicht. Nachdem sie ausgestiegen war, wurde ihm bewusst, dass er mit ihr hätte aussteigen, sie zu einem Kaffee einladen können. Aber er war in solchen, ihm scheinbar komplizierten Abfolgen von Ereignissen nicht geübt.

Er wartete mehrere Wochen auf ein Zeichen von ihr, aber er erhielt keine Nachricht. Er war sehr traurig gestimmt. Was könnte er tun, um sie wiederzusehen?

Er recherchierte im Internet nach Betrieben, Gaststätten, Institutionen, Schulen in diesem Ort. Aber wonach solle er fragen - nach einer jungen Frau mit hochgesteckten dunklen Haaren? Würde sie in der Verwaltung arbeiten? Mehrmals in der Woche unterbrach er nachmittags Praktika und fuhr mit dem Fahrrad in die Landgemeinde, in der die von ihm bewunderte Frau arbeitete. Stets durchfuhr er den Ort. Ihm war klar, sein Unternehmen hing total vom Zufall ab. Es gab keinen kausalen Zusammenhang, sie an diesem Tag zu treffen. Seine Aktion hatte einen mystischen Anstrich. Er fühlte sich wie beim Roulette, würde die Kugel die bestimmte Zahl treffen, würde er dieser Frau begegnen? Es hing nicht von seinem Willen ab. Er konnte die Einflussfaktoren nicht steuern. Aber er wollte den Zufall suchen, er wollte der Spielball in der Hand imaginärer Mächte sein.

Die vielen Versuche misslangen, er hatte kein Glück, er begegnete der Frau, von der er schwärmte, nicht.

Häufig besuchte er Vorstellungen im Schauspielhaus, also des Großen Hauses oder im Kleinen Haus. Die sinfonische Musik, die Orchestermusik, gefiel ihm im zunehmenden Maße besser. Gegenüber dem Musikdrama hatte Florian Vorbehalte, besonders der weiblichen Stimme konnte er nichts abgewinnen, weil er nicht verstand, was gesungen wurde. Beim Besuch von Wagners Meistersinger nahm Florian das Textbuch der Oper mit in die Vorstellung. Zwar blätterte er vorsichtig – aber anscheinend doch nicht ganz geräuschlos die Seiten um, so dass sich manche Besucher nach ihm umdrehten.

Aber sein Vorsatz war, das Musiktheater für sich zu erschließen. So saß er an einem Tag im Großen Haus in der Vorstellungspause der Strauss-Oper Die schweigsame Frau verschlossen, finster und unzugänglich dreinschauend, in einer Ecke des Theaterfoyers. Zwei Frauen nahmen neben ihm Platz. Eine von beiden richtete einige Worte an ihn. Ohne aufzuschauen, nuschelte er etwas vor sich hin, gab murmelnd, einsilbig, leicht zugeknöpft eine Antwort, die wahrscheinlich niemand verstand. Er hörte nur, wie Worte zwischen den Frauen gewechselt wurden - der schweigsame, strenge Sebastian sitze in der Ecke. Erst da blickte er auf, die Stimme kam ihm bekannt vor. Er entdeckte die Frau, die er schon seit Monaten suchte. Sie hatte es darauf ankommen lassen, dass er das erste Wort an sie richtete. Aber sein kühles, verschlossenes reserviertes Verhalten im vorherigen Moment brachte ihm für lange Zeit in ihrem Freundinnenkreis den Spitznamen strenger Sebastian ein. Florian war innerlich aufgeregt, glücklich. Er heftete seinen Blick an die Augen dieser Frau – länger als einen Atemzug. Er war fasziniert. Gern hätte er sie jetzt umarmt, geherzt – aber das ging bei einer ersten Begegnung wohl nicht. Also blieb es beim Händedruck. Sie kamen ins Gespräch. Er erfuhr ihren Namen und wo sie wohnte. Sie verabredeten sich an einem Wochenende, gemeinsam einen Tag zu verbringen.

An dem Tag holte er sie am Försterplatz vom Bus ab, sie gingen am Volkspark vorbei, den schmalen Wiesenweg, den Moreauweg hinauf zum Moreaudenkmal.

Auf der Räcknitzhöhe wurde in den Kämpfen am 27. August 1813 der Revolutionsgeneral Victor Moreau verletzt. Als er im Kampf gegen Napoleon auf der Räcknitzhöhe mit dem Zaren von Rußland sprach, zerschmetterte ihm eine Kanonenkugel die Beine. Notdürftig wurde er im Gutshof Altpestitz verarztet und anschließend ins Hauptquartier im Schloss Nöthnitz gebracht. Beide Beine mussten amputiert werden. Er starb wenige Tage darauf an den Folgen. Der Leichnam wurde nach St. Petersburg gebracht. Die beiden Beine ruhen unter dem für ihn errichteten Moreaudenkmal auf der Räcknitzhöhe. Eine Tafel am Denkmal erinnert an das Geschehen: Moreau - der Held – fiel hier an der Seite (Zar) Alexanders. 27. August 1813.

Florian und Sandra bestaunten die prächtig gewachsenen Moreau-Eichen um das Denkmal.

Sie gingen weiter den Hügel hinauf zur Bismarcksäule, die zwar 1946 in Friedensturm umbenannt wurde, aber in der Bevölkerung noch unter der Bezeichnung Bismarckturm bekannt war.

Und nun wolle sie auf die Steinquader klettern. Ob er ihr helfe, fragte Sandra, als sie am Fuß des Turmes standen. Florian half Sandra, die meterhohe Sandsteinumrandung des Turmes zu ersteigen.

Zur Einweihung der Säule an einer Sommersonnenwende sei in der oben aufliegenden Feuerschale ein großes, weitsichtbares Feuer gezündet worden. Damals habe es ein Friedensfeuer gegeben, schilderte Sandra.

Dies sei ein Hohn. Genau hier vor diesem Turm hätten dann Dresdner Studenten im Mai Dreiunddreißig eine üble Bücherverbrennung inszeniert, sagte Florian.

Dieser Turm sei als Kulisse missbraucht worden. Ursprünglich hätten Studenten den Bau erwirkt. Quasi durch den Bismarckmythos um neunzehnhundert infiziert,

Die Umrandung aus dem verwitterten Sandstein war so breit, dass man gut darauf entlang balancieren konnte. Vorsichtig trippelten sie bis zu der Seite des Turmes, von der sie die Stadt gut überblicken konnten. Die Silhouette der historischen Gebäude war gut auszumachen, teilweise wurden die Gebäude aber von Hochhäusern verdeckt. Die Sonne hatte fast den Horizont erreicht, langsam zog eine Wolke vorbei, die sie teilweise überdeckte. Am Himmel war ein beeindruckendes Farbspiel zu entdecken. Am unteren Rand der Wolke leuchteten gelblich rote Schleier hervor, oben waren bläulich violette Farbtöne zu erkennen.

Eine untergehende Sonne zu betrachten, sei immer ein Erlebnis. Das rühre am Gemüt, mache innerlich heiter, sagte Sandra.

Florian umfasste Sandras Schulter, die neben ihm mit dem Rücken zum Turm stand. Er fragte nach ihrer Familie. Sie wohne seit ihrer Geburt im Vorgebirge, antwortete sie. Sie fragte, was er so bisher getrieben habe.

Er sei bisher nicht gerade sesshaft gewesen. Mit vierzehn Jahren sei er in die Fremde geschickt worden. Er habe in seiner Kindheit und Jugend kein geborgenes Familienklima, kein intaktes Familienleben erlebt. Im Abendstudium habe er neben der Berufstätigkeit das Abitur erworben.

Nachdenklich spazierten sie weiter über den Berg hinab ins Tal zur Moreauschänke, einem Dreiseithof in Kleinpestitz. Diese oberhalb des Kaitzbachtales gelegene Dorfgaststätte in Kleinpestitz sei in vergangenen Jahren die Stammkneipe der Dresdner Studentenschaft Dresdensia gewesen, referierte Florian die Geschichte der Schänke, die ihm von älteren Kommilitonen erzählt worden sei. Obwohl damals, zu Zeiten vor der gesellschaftlichen Umwälzung, von der Obrigkeit unerwünscht, seien hier burschenschaftliche Traditionen der Studenten gepflegt worden. Die Bierkordel sei eine Erfindung ostdeutscher Studenten gewesen. In der Gaststube hätten Gemälde und Stiche der Schlacht bei Dresden 1813 die Wände geziert. Es seien Doktorfeiern veranstaltet worden. Die frisch gebackenen Doktoren haben in einer zweiten Doktorprüfung mit humoristischem Anstrich bestimmte Fertigkeiten, sportliches Geschick oder andere Kompetenzen unter Beweis stellen müssen. So sei manchem Prüfling die Aufgabe gestellt worden, aus dem Stegreif Kuchen zu backen, lebende Karpfen zu töten und zu Karpfen blau zuzubereiten, ein anderer Kandidat, der in seiner Freizeit im Elbsandsteingebirge kletterte, habe eine viele Meter hohe glatte Wand zu erklimmen und zu überwinden gehabt.

Florian habe auch von Bierpromotionen gehört, in denen in spaßhafter Weise die echte Promotion karikiert und spritzig-humorvolle Abhandlungen von den Anwärtern vorgetragen worden seien. Sie seien feucht geprüft worden. In Gegenwart und unter Vorsitz des Dekans habe der Bewerber so viel Bier trinken müssen, wie man ihm vortrank. Zum Abschluss habe er den Titel Doktor cerevisiae- Doktor des Bieres erhalten. Das Zeichen seiner Würde D.C. sei ins Stammbuch eingetragen worden.

Florian und Sandra fuhren mit Bus und Bahn zur Stadtmitte.

Sie kamen überein, zur Plattform des Rathausturmes emporzugehen, um die Aussicht zu genießen. Sie stiegen den doppelläufigen Aufgang mit seinem barocken Schwung und den vielen Putten nach oben. Elan und Sportlichkeit demonstrieren wollend, jagte Florian angeberisch im Eiltempo nach oben.

In der Bombennacht des 13. zum 14. Februar 1945 wurde der Turm total zerstört, aber der Goldene Rathausmann, der seine rechte Hand übers Land erstreckt und so Schutz verkünden soll, war zwar in dieser Nacht von Splittern durchbohrt worden, aber er blieb auf seiner Position.

Oben waren Sandra und Florian den sechzehn überlebensgroßen Sandsteinfiguren, die sechzehn Tugenden, wie Liebe, Hoffnung, Treue, Mut, Beharrlichkeit, Weisheit, Güte, Wahrheit und andere darstellen, ganz nah.

Sandra und Florian genossen den klaren Blick bis in die Sächsische Schweiz. Sie hielten ihre Nase in alle Windrichtungen. Sie blickten auf den alten Stadtkern und auf die Neustadt, vieles war nach der Zerstörung wieder aufgebaut worden.

Die Bomber hatten damals fast die gesamte Innenstadt ausgelöscht - riesige Flächen ausgebrannter Wohnungen und Geschäftsgebäude. Diese Stadt habe keine kriegsstrategische Bedeutung gehabt, sagte Sandra.

Dies sei eine berechtigte Frage – weshalb diese Zerstörung all der wertvollen, schönen, weltbekannten Kulturgütern?

Sie fragte Florian aus innerer Empörung heraus, warum diese architektonischen Kostbarkeiten vernichtet worden seien? Aufgebracht fragte sie erneut nach dem Warum.

Es sei nicht so einfach, gleich eine passende Erklärung zu finden, meinte Florian. Aber sie könnten gemeinsam überlegen.

Er fühlte sich als philosophisch Denkender angesprochen. Er wollte ihr gegenüber brillieren und vielleicht Bewunderung hervorrufen. Innerlich angestachelt, begann er, ein Gedankenspiel zu konstruieren. Kunst, Kultur und so auch Kunstwerke, Musik, Malerei würden das Sinnliche, den inneren Sinn des Menschen, die Gefühlsregungen, die Psyche, die Seele ansprechen. ... In vielen Religionen werde die Seele als unsterblich angesehen. Und da setzten die obersten Bestimmer dieser Länder, aus denen die Bomber kamen, an. Sie wollten die Seele des deutschen Volkes treffen. Sie wollten somit quasi das Volk, seine Identität vernichten. Sie wollten das Volk sterben lassen, in dem sie es seiner Seele beraubten – ohne es physisch insgesamt zu beseitigen.

Sie schauten noch lange schweigend auf das Zentrum. Sandra gab ihren nachsinnenden Gedanken freien Lauf. Sie sehe beim Blick auf die City immer wieder die Bilder der Vergangenheit, der zerstörten Altstadt, das zerbombte Gerippe, die einzelnen Knochen der Stadt, die Ruinen, die leere Welt. Sie habe die Kriegsbilder von Otto Dix im Albertinum vor Augen, wo ihr der Atem stockte.

Und was das Fatale sei. In jüngster Zeit wiederhole sich das unheilbringende Feuerwerk aus dem offenen, ungeschützten Himmel in manchen Teilen der Welt, besonders der östlichen. Der Himmel leuchte dabei, dann brenne die Erde.

Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sanft, einfühlsam streichelte er ihre Hand. Er drehte seinen Kopf und versuchte, in die Nähe ihrer Lippen zu kommen. Sie drehte ihren Kopf weg.

Sie dachte über ihn nach. Gedankensplitter kreisten. Was ist er für ein Mensch? Er war ihr sympathisch. Leicht narzisstisch. Aber anscheinend fleißig, zielstrebig. Könne er auf Dauer ein fürsorglicher, feinfühliger, liebevoller Partner sein. Schnell verwarf sie solche Gedanken. Sie kenne ihn doch überhaupt nicht. Wie er sagte, habe er nie eine vertrauensvolle familiäre Beziehung erlebt. Vielleicht werde er nur von Eigenliebe getrieben, vielleicht würde Egoismus seine Handlungen bestimmen. Fragen und wieder Fragen?

Sie verließen die Aussichtsplattform mit den Tugendstatuen. Zuletzt noch mal ein Blick auf die Statue der Güte, die man von Fotos kannte und für diese als Vordergrund diente.

Unten wieder angekommen, schlenderten sie zum Busbahnhof und Sandra fuhr ins Vorgebirge zurück. Für das darauffolgende Wochenende hatten sie einen Theaterbesuch geplant.

3

An dem Tag sollte Florian sie vom Bus abholen. Er hatte sich verspätet. Sie wartete schon längere Zeit und lief unruhig umher. Sie fühlte sich wie abgestellt. Als er dann auftauchte, entschuldigte er sich kurz förmlich. Sie musste ihren Unmut loswerden, dass sie sich wie nicht beachtet, nicht wertgeschätzt fühle. In ihrem Beruf als Lehrerin müsse sie immer pünktlich sein, sie könne eine Schulklasse nicht warten lassen. Es sei eine Frage der Höflichkeit und Achtung, pünktlich zu sein - eben eine Grundregel. Im ersten Moment versprach er kleinlaut, sich zu bessern. Gleichzeitig dachte er an den Rat seines Zimmerkumpans. Also widersprach er rechthaberisch. Er sei doch noch in der Spanne des akademischen Viertels aufgetaucht. Nach Studentenbrauch sei dies pünktlich. Sandra entgegnete, dass man zu einer Verabredung punktgenau käme. Pünktlich heiße ja, auf die Minute genau. Sein schlaues akademisches Geschwätz könne er für sich behalten.

Gemeinsam gingen sie zum Großen Haus und schauten sich Georg Büchners Woyzeck an. Nach der Vorstellung hing für kurze Zeit jeder seinen Gedanken nach während sie zum Altmarkt-Keller pilgerten. Sie schlängelten sich im Gastraum mit dem massiven historischen Kreuzgewölbe an den klobigen Pfeilern vorbei. Dabei fielen ihre Blicke auf die dunkelgerahmten Bilder mit Malereien der Silhouetten Dresdens aus vergangenen Jahrhunderten.

Hinter einer Säule platzierten sie sich an einem Zweier-Tisch. Die Eindrücke der Vorstellung bewegten Florian. Er fragte Sandra, was sie meine, ob Woyzeck ein soziales Drama, eine Proletariertragödie sei? Ob Woyzeck die Umstände zum Mörder werden ließen?

Vielleicht sei es mehr ein Eifersuchtsdrama. Eine Art Volksballade, wie sie häufig in der Literatur zu finden sei.

Zur Erzählung mit der Erbsendiät habe er eine historische Begebenheit gelesen, sagte Florian. Der Gießener Chemiker Justus von Liebig habe ein Erbsbrei-Experiment durchgeführt. Er habe billige Speisen für Notzeiten und für Soldaten kreieren wollen. Drei Monate lang haben Testpersonen täglich Erbsbrei essen müssen. Nach einiger Zeit seien bei den Probanden psychische Störungen aufgetreten. Sie haben unter Halluzinationen gelitten und die Kontrolle über ihre Muskeln verloren.

Florian deklamierte, dass es eine Vergiftung durch eine im Übermaß zugeführte Aminosäure gewesen sei, die nicht in Eiweißstoffen vorkomme und sich im Körper angereichert habe.

Also sei Woyzeck nicht für seine Tat verantwortlich gewesen, stellte Sandra in den Raum.

Sie kamen überein, dass die Handlung wohl unterschiedlich interpretiert werden könne.

In der weiteren Unterhaltung war Florian zurückhaltend und vielleicht etwas befangen, er war nicht sonderlich redselig – ganz im Gegenteil, er war etwas verschlossen, er hatte nie geübt, Konversation mit jungen Frauen zu führen. Aber dafür redete Sandra wie ein Wasserfall. Sie unterhielten sich über Badeurlaube. Ostsee, Zelten, Mittelmeer. Sandra berichtete von Sonnenuntergängen an der Ostsee. Die Sonnenaufgänge habe sie in ihrem Zelt immer verschlafen.

Die Zeit rann. Sandra musste zum Bus. Florian zahlte.

Auf der Straße drehten sie sich noch mal um und blickten die dem Barock nachempfundene Fassade mit den zwei Skulpturengruppen über dem Portal an. Sandra drängte, sie mögen sich beeilen, ihr letzter Bus ins Vorgebirge führe bald. Es sei zeitlich knapp. Aber Florian hatte keine Eile. Er wollte noch dem Eselreiter am Eingang zum Ratskeller die große Zehe streicheln. Sandra erregte sich innerlich, sie müsse dringend den Nachtbus erreichen, es sei der letzte. Florian spielte seine Macholaune aus. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, den Esel zu berühren. In diesem Moment wollte er seine narzisstischen Anwandlungen durchsetzen.

Gemächlich liefen sie an der Kreuzkirche vorbei. Sandra schon mehrere Schritte vorneweg. Er verweilte kurz am Eingang zum Ratskeller, wo der Eselreiter auf dem zusammengebrochenen Esel saß. Im Volksmund hieß es, der Esel symbolisiere die Steuerlast, unter der man zusammenbreche. Die Zehe glänzte vom vielen Berühren. Florian praktizierte ebenfalls diesen Brauch. Sandra eilte bereits den Külzring entlang. Auf der Prager Straße mussten sie rennen. Am Busbahnhof sprang Sandra auf die Stufe des Busses, drehte sich noch einmal um und schleuderte Florian entgegen, dass sie solche Aktionen stark hasse. Er konnte nur noch die Hand zum Abschiedsgruß heben. Die Tür des Busses schloss. Der Bus fuhr in die Dunkelheit.

Danach merkte Florian, dass sie keinen weiteren Treff ausgemacht hatten. Sollen diese ersten Begegnungen alles gewesen sein?

Kurze Zeit darauf begannen die Ferien. Er fuhr mit Kumpanen nach Bulgarien. Sandra würde an der Ostsee zelten, hatte sie angekündigt.

So vergingen einige Wochen.

In immer kürzeren Abständen flammten die Gedanken an Sandra in ihm auf. Er wollte sie wiedersehen. Wartete sie schon auf eine Nachricht von ihm? Er wusste es nicht. Der Mann müsse wohl der Initiator sein. Also wolle er seine Gedanken und Empfindungen schriftlich ausdrücken. Das fiel ihm leichter als zu reden. Was solle er schreiben? Soll es ein Liebesbrief sein? Aber wer schriebe heutzutage noch ausführliche Briefe und dazu noch Liebesbriefe? Und dies per Hand? Gedanken werden doch blitzschnell auf dem Smartphone ausgetauscht. Sei er von gestern?

Liebe: Schillernder Begriff? Starkes Gefühl? Sinnliche Empfindung? Außerordentliches Glücksgefühl?

In dem Moment fragte er sich, kann man Empfindungen in ein Wort pressen? Er dachte immer, Liebe müsse man zeigen – in dem Miteinander, in den Handlungen.

Er mochte Sandra. Er fand sie sehr sympathisch. Ihr Blick hatte ihn gefesselt. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Er hatte das Verlangen, sie in seine Arme zu schließen. Ja, er war verliebt. Keine ungezähmte Verzückung. Kein unbekümmertes Verlangen nach Auskosten der Triebe. Keine überlaufenden Sinnenfreuden. Er ersehnte ihre Zärtlichkeit. Er wünschte sich ihre Gegenwart.

Ein übersteigerter Gefühlsrausch war Florian fremd. Ihn überfiel kein Wirbelsturm der Leidenschaft.

Ihm ging es im übertragenen Sinn nicht wie Phaeton, dem Sohn des Sonnengottes Helios aus der griechischen Mythologie. Das Motiv des Sturzes des Phaetons wurde nicht nur in der Kunst aufgegriffen, die Psychologen vergleichen die Verliebtheit gern mit den mächtigen Pferden des Sonnenwagens. Der Sonnengott Helios war dem intensiven Bitten seines Sohnes Phaeton nachgekommen und hatte erlaubt, dass Phaeton einen Tag den Sonnenwagen lenken dürfe. Die Pferde – hier als Gleichnis für die Verliebtheit – waren stark, wild, ungestüm. Phaeton überschätzte seine Kräfte, ... er konnte den Sonnenwagen nicht führen, die Pferde nicht bändigen, ... das Gespann geriet außer Kontrolle und riss Phaeton ins Verderben. Die Psychologen wollen sagen, dass der Gefühlsüberschwang der Verliebtheit den Menschen in seiner Existenz gefährden kann.

Ja, er, Florian, war verliebt. In der Tat – er war in Sandra verliebt. Er war von ihr begeistert. Sie sprach sehr schnell, ihre oftmals spitzen Antworten faszinierten ihn. Er verspürte Zuneigung. Ihm schien, dass sie beide in vielem gleich dachten. Er hatte das Verlangen nach Gedankenaustausch und Berührung. Er verspürte ein kleines Glücksgefühl. Konnte er lieben? Nie hatte er Zuneigung und Geborgenheit erfahren. Seit seiner Kindheit fehlte ihm das Urvertrauen. Die Stiefmutter war kühl und rabiat, sie zeigte keine Empfindungen, sie ließ keine Nähe zu. Florians Gefühlswelt war nicht geordnet, deshalb sehnte er sich nach einer glücklichen Beziehung.

Als angehender, etwas vergeistigter Naturwissenschaftler ging ihm durch den Kopf, dass im Stadium der Verliebtheit bestimmte Botenstoffe, berauschende Glückshormone, Glücksbotenstoffe freigesetzt würden. Der Körper gewöhne sich mit der Zeit an die Dosis und der Glückszustand nehme schleichend ab, die ursprüngliche Stimmung nehme ab, sie verschwinde allmählich. Er wusste aus biochemischer Sicht, dass diese begrenzte Phase, der Zustand des Feuerfangens in eine andere Form, eben in Liebe übergehen müsse, in der andere Hormone frei würden, die sich bei Vertrautheit, bei inniger Bindung bildeten.

Er entsann sich an einen Spruch seiner Großmutter:

Die Liebe hat zwei Töchter: die Güte und die Geduld.

Sie predigte: Verliebtheit sei ein Zustand, Liebe eine Handlung, ein Willensakt, nämlich das Leben mit einem anderen zu teilen, Vertrauen zu ihm zu entwickeln, ihn zu achten und wertzuschätzen.

Liebesbriefe hatte er bisher noch nicht verfasst. Er ging zu seinem Bücherregal, blätterte in Romanen von Stendhal, las einige Abschnitte darin. Dieser Charmeur – Monsieur de Stendhal – wusste bestimmt, wie man Liebesbriefe verfasst. Stendhal konnte die in Dämmerstunden erfahrenen Zärtlichkeiten, Seelenfreuden und Empfindungen, die durch den Klang schöner Glocken verstärkt werden, sehr gut beschreiben. Florian las: Das große Glück, das die Liebe zu geben vermag, liegt im Händedruck der geliebten Frau. Florian überlegte, solche schwülstige, theatralische, romantische Gedanken äußerte in der Jetztzeit keiner mehr. Außerdem war er nur an naturwissenschaftliches Denken gewöhnt. Sachliche, kurze, prägnante Ausdrucksweise, ohne Umschweife auf den Kern der Sache kommen. Trotzdem bemühte er sich im Brief, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Er versuchte, seine Empfindungen in Worte zu fassen. Er ertappte sich, wie er in die romantische Schwärmerei abrutschte, er fügte philosophische Deutungen über die Sicht der Dinge ein und sinnierte über die Zukunft. Er konnte schwer zum Ende kommen.

Er möchte sie bald wiedersehen. Das Alleinsein belaste ihn stark.

Er schloss den Brief mit einem Versuch, seine Gedanken in Verse zu bringen. Kleine Gedichte könnten doch nicht unmodern sein. Selbst Pop-Musik werde mit kurzen Geschichten unterlegt: „Sehnsucht // Es wird Abend / die Sonne sinkt / bald leuchten die Sterne / Oh, wärest du da. // Du bist in der Ferne / Ich sitz und lieg / und träume von dir / ganz war mein Herz an deiner Seite // Viel Zärtlichkeit wollt ich dir geben / und sanftes Streicheln / auch zurück / in deiner Brust ein zartes Beben / strahlend braune Augen / welche Liebe, welch hohes Glück.“ Er unterbrach sein Reimen, suchte sein Bett auf, seine Gedanken kreisten weiter „... ein sanftes Lächeln um den Mund / welche Wonne / Oh welche Liebe in dieser Stund‘...“

Darüber schlief er ein.

4

Die Schule hatte wieder begonnen. Vorlesungen und Praktika wurden fortgesetzt. Sein Zimmerkumpan hatte angekündigt, zum Wochenende zu seinen Eltern zu fahren. Also nahm sich Florian vor, Sandra zum Tee einzuladen. Er hatte ja eine sturmfreie Bude. Sonst wurde er von Hubert gebeten, die Bude gegen das Entgelt eines Kneipenbesuches zu räumen, wenn dieser Besuch empfangen wollte.

Er putzte alle seine benötigten Küchenutensilien. Die Glaskanne bearbeitete er mit einem Schwamm, um die dunklen Umrandungen und Ablagerungen zu beseitigen. Kalkablagerungen an den Teegläsern entfernte er mit Zitronensäure, von der er als Chemiker immer einen Vorrat hatte. Er kaufte Dresdner Kuchenspezialitäten ein, neben Eierschecke, Bauernkuchen, Makronen auch Nussecken.

In der Gestaltung von Dates mit Frauen hatte Florian wenige Erfahrungen. Er war ungeübt. Aber er achtete Frauen und sah sie als gleichberechtigt an, wobei er egoistische Züge nicht immer unterdrücken konnte. Eine Portion Macho hatte er sich auf Empfehlung von Hubert antrainiert.

Für ihn waren Frauen genauso intelligent wie Männer, selbst wenn die schriftstellerischen Werke über die Jahrhunderte überwiegend von Männern verfasst worden waren.

Nach dem Putzen öffnete er das Fenster, ließ frische Luft herein, entblößte sich, kühlte seinen nackten Oberkörper und zog frische Kleidung an.

Er dachte an Sandra, wie sie sich zum Abschied lange geküsst hatten. Ihre unverkrampfte Bereitschaft, ihm zu widersprechen und Konversation über vielfältige Themen zu führen, fand er aufregend. Sie interessierte sich für Literatur, Kunst, internationale Politik ebenso wie für Umweltfragen. Sie fragte nicht, ob er schon dieses oder jenes Restaurant und die dort angebotenen extravaganten Speisen kenne.

Der Nachmittag war fortgeschritten. Er holte sie vom Bus ab. Sie trug eine taillierte Bluse und einen engen Rock. Er empfing sie mit einer Umarmung und erwähnte, dass sie gut aussähe, wofür sie sich bedankte. Im Gegensatz dazu fiel ihm auf, dass seine Jeans schlabberig und die Hosentaschen durch den Inhalt ausgebeult waren.

Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Wohnheim. im Zimmer angelangt, öffnete er das Fenster, um den maskulinen Geruch, ähnlich dem eines Stallburschen, ins Freie zu entlassen. Sie schaute sich um. Sie entdeckte im Regal Bücher französischer und russischer Belletristik. Beim Tee kamen sie auf russische Literatur zu sprechen. Sie schwärmte, dass ihr Anna Karenina ein großes Lesevergnügen bereitet habe. Die realistische, mit literarischer Kraft geschilderte Darstellung der Ehe- und Moralprobleme habe sie besonders berührt. Sie habe viele Parallelen zu Fontanes Effi Briest gesehen. Um diese Zeit hätten wohl mehrere Literaten die Ehebruchproblematik mit unterschiedlichem Ausgang aufgegriffen. Ihm ging durch den Kopf, dass ihre Gesprächsthemen wohl nicht zu einem Date passten.

Nach dem Tee hatte er den Drang, sie zart zu berühren. Nicht nur, dass er kaum Erfahrung hatte, wie er eine Frau zu intimen Handlungen bewegen könnte, hielt ihn irgendetwas ab. Ihm schien, als sei eine Berührung eine noch unpassende Beeinflussung. Er wollte sie nicht bedrängen. Er werde die Hoffnung auf erotische Erlebnisse auf später verlegen. Er beließ es bei der Fantasie. Auch war er mit sexuellen Techniken nicht vertraut. Er legte eine Platte des Jazzklarinettisten Mister Acker Bilk auf. Die Jazz-Dixieland-Klänge gefielen beiden sehr gut. Er umschlang ihre Schulter, schmiegte seinen Kopf an den ihren, schloss die Augen und weidete sich an dem Duft ihrer Haare. Ihre individuelle Duftnote rief in ihm Harmonie zu ihr hervor, es stellte sich Sinnlichkeit ein. Er empfand Geborgenheit. Durch den frühen Tod seiner Mutter hatte er keine mütterliche Fürsorge, keine Nähe, Sicherheit und Bindung erfahren. Jetzt entdeckte er die verbindende Kraft. Während ihr Duft nicht nur durch das offene Fenster in die Bläue der Nacht entströmte, sondern auch permanent ihre speziellen Duftmoleküle in seine Nase drangen, wurde er an die sensorische Analyse im Botanikseminar erinnert. Er musste nach dem Geruch verschiedene Gewürze, Trockenkräuter und Trockenobst unterscheiden und zuordnen. Die Geruchsschwellen bei Fenchel, Anis, Koriander, Kardamom, Zimt, Zitrone waren festzustellen.

In der Seminareinführung hatte er auch vieles über den Zusammenhang von Geruchssinn und Immunsystem erfahren. Wenn man nämlich wahrnehme, dass jemand schlecht röche, passten die Immunsysteme nicht zueinander, weil sie sich zu ähnlich seien. Das sei für unsere Fortpflanzung nicht gut. Unser Geruchssystem warne uns. Für eine Vererbung brauche man eine genetische Diversität, sage die Wissenschaft. Ihm ging durch den Kopf, dass er bisher auf soziale Düfte, auf soziale Informationen nicht geachtet habe. Nach seinem Bauchgefühl empfand er sich zu Sandra hingezogen. Also konnten sie sich riechen, wie es im Alltag heißt, sie scheinen kompatibel zu sein. Demnach passten sie zusammen. Einige Takte des Songs der Rammsteingruppe Du riechst so gut kursierten in seinem Hirn.

Im Seminar erfuhr er auch, dass Fleischesser unangenehmer und schärfer röchen als Vegetarier, die einen weichen, milden, attraktiven Geruch aussendeten. Er nahm sich vor, seinen Fleischkonsum einzuschränken.

Das Bild der Schlummernden Venus baute sich in seinen Gedanken auf. Sie hatten beide neulich lange vor Tizians Bild in der Gemäldegalerie Alte Meister gesessen und die realistische Darstellung bewundert, wie die unbekleidete Göttin der Schönheit mit geschlossenen Augen, ausgestreckt in blühender Landschaft lag. Er hatte in diesem Moment ebenso den Wunsch, mit Sandra auf einer Wiese, umgeben von blühenden Kräutern und Gräsern, zu liegen. Aber er war nicht testosterongetrieben, er wollte nicht die Befriedigung seines sexuellen Drangs als Siegeszug seines Geistes, als Triumph der strotzenden, überwältigenden Manneskraft sehen. Außerdem verstand er sich nicht auf Selbstinszenierung. Er wollte sein primitives Bedürfnis, einen Orgasmus zu erreichen, nicht voranstellen. Er sagte sich, dass sich ihr Sehnen nach Verbundenheit und Verschmelzung gemeinsam entwickeln müsse.

Florian wurde eingeladen, mit Sandra einen Samstag im Vorgebirge zu verbringen.

Am Vorabend des verabredeten Tages kam starker Wind auf, der Sturm heulte. Florian konnte es kaum erwarten, Sandra wiederzusehen. Er schlief unruhig. Am Morgen hatte sich der Sturm gelegt.

Kurzzeitig konnte er sich noch an Fetzen seines Morgentraums erinnern, wie er eine unheimlich lange Straße entlanglief und Sandra fest an der Hand hielt. Der Traum löste sich rasch auf. Mit den ins Bewusstsein zurückkehrenden, zugreifenden Gedanken floh er wie ein Hauch. Aber er war deutbar, wenn man lange genug darüber nachdachte.

Die heftig sich bewegende Wolkendecke am Himmel wich einem immer stärker hervortretenden Blau, je weiter der Tag voranschritt. Die Sonne bestimmte den Tag. Licht, Luft, Wärme.

Er fuhr mit dem Rad in die dörfliche Gemeinde, wo Sandra mit ihrer Mutter in einem kleinen ländlichen Haus wohnte.

Florian war innerlich aufgewühlt, als er Sandra an der Tür begrüßte. Alle Hemmungen überwindend, umarmte er sie einfach, fest und lange.

Beim gemeinsamen familiären Nachmittagskaffee, kredenzt in Weinlaubtassen, sprachen sie über den Maler Curt Querner, der am Morgen Sandras Tante besucht hatte. Danach schnappten Florian und Sandra ihre Räder. Sie fuhren über Feldwege, an Koppeln mit weidenden Kühen, an Gehöften von Kleinstbauern vorbei in den kleinen Ort Börnchen. Durch eine holprige Gasse schoben sie die Räder zum Haus von Sandras verehrten Maler. Vor einem niedrigen ländlichen Haus mit bäuerlichem Vorgarten und einem rustikalen Gartenzaun aus Rundholzstangen verweilten sie kurz. Das Haus Curt Querners.

Florian solle sich diese Gasse, diesen Zaun vor Querners Haus genau ansehen, das Bild einprägen, sagte Sandra bestimmend.

Er wunderte sich darüber.

Dann mühten sie sich die ansteigende Dorfstraße hinauf zum Lerchenberg. In der rustikal eingerichteten Berggaststätte rasteten sie kurz und bestellten die Spezialität: Landkäse, auch Harzer genannt. Auf den Steinstufen des Kellers wurde dieser hier einem Reifungsprozess unterzogen, bis der weiße Kern wie die äußere gelbe Schicht aussah und geschmeidig war. Die Bauersfrauen bereiteten daraus mit Pellkartoffeln ein fleischfreies Mittagessen.

Auf dem Höhenweg radelten sie Richtung Freital. An einer Feldscheune am Rand eines Getreidefeldes und einer Wiese mit hohem Gras stoppte Florian. Unweit grasten Kühe auf einer Weide. Er verwies auf den weiten Blick in die Landschaft und zog Sandra hinter die Scheune. Spontan schlang er seine Arme um ihren Oberkörper und küsste sie. Von dem Überfall überrascht, gab sie ein kicherndes Geräusch von sich und erwiderte den Kuss. Er drückte sich an sie. Seine Hose spannte sich. Er gab den Impuls an sie weiter. Bruchstücke des Songs Ein Bett im Kornfeld schwirrten durch seinen Kopf. Sein Körper reagierte auf seine Fantasien. Erotische Empfindungen überzogen ihn. Kurz bestaunten sie auf der Wiese all die vielen bunten, prächtig gewachsenen Kräuter und Wiesenblumen, die sie meist nur noch von Gebirgswiesen her kannten. Aber dann nahm er sie ins Schlepptau zu einer Stelle mit besonders hochgewachsenem Gras und zog sie in die horizontale Lage. Die hohen Halme verdeckten sie. Sie umarmten sich, ihre Lippen, ihre Zungenspitzen begegneten sich und vollzogen ein tänzerisches Spiel. Seine Hand schob sich unter ihr Shirt. Die Finger ertasteten sanft die Wölbungen. In rasanter Geschwindigkeit streiften sie alle Kleidungsstücke ab, um fest ihre Körper aneinanderdrücken und Liebesspiele beginnen zu können. Er umfuhr zart ihre Brüste, streichelte in kreisenden Bewegungen ihren Bauch, ihre Hüften, ihre Schenkel und fieberte seinen innigen geheimen Wünschen entgegen. Er schmiegte seine Lenden an ihre Oberschenkel, da vernahm er ein Surren, ein Brummen und einen Stich am Gesäß. Er zuckte zusammen, stieß Laute aus und schlug mit den Händen nach dem Ungeziefer. Er wusste, dass er von diesen Blutsaugern, die sich oft in der Nähe von Kuhweiden aufhielten, bevorzugt wurde. Sandra schien von diesen mit dem Mundwerkzeug saugenden Gliedertieren gemieden zu werden. Sie nahm die Bevorzugung Florians wohltuend hin. Spitzzüngig meinte sie: „Hat die besondere Zusammensetzung deiner Fettsäuren auf der Haut, haben deine Duftsignale wieder diese fliegenden und stechend-saugenden Ungeheuer angelockt. Und sie haben dich millimetertief wie mit einer Kanüle gepiesackt.“

Sie solle nicht spotten entgegnete er, tagelang werde er die Nachwirkungen noch spüren, große Flecken und Erhebungen würden sich wohl bilden.

In gebückter Haltung bewegte er sich zum Fahrrad und suchte im Rucksack nach dem bewährten Mittelchen, mit dem er sich großflächig einrieb, um weitere blutrünstige Monster fernzuhalten. Beide strebten nach körperlicher Vereinigung. Die Erregungsphase beider war unterbrochen. Es dauerte längere Zeit, bis sie wieder den Faden gefunden hatten. Sie änderten ihre Sprachmelodie, hauchten einige Worte, näherten sich wieder, suchten den körperlichen Kontakt. Er strich sanft über ihren Nacken, den Hals, die Schenkel und berührte mit dem Mund ihre Lippen und andere erotische Weichteile. Ihre Körper begegneten sich zum ersten Mal ganz nah, ohne durch Stoff getrennt zu sein. Sie fühlten sich gegenseitig angezogen. Ihr wechselseitiges Verlangen presste sie aneinander. Ihre Lustgefühle stiegen. In der freien Natur, zwischen duftenden Wiesenblumen und fliegenden Schmetterlingen empfanden sie einen speziellen Zauber, eine verlockende Wirkung. Das weitere Spiel schien einen besonderen Reiz zu entfalten. Bei beiden entfaltete sich das Verlangen, die Körper zu vereinen. Plötzlich, unerwartet bog seitlich an der Scheune ein Traktor mit Hänger ein, ein Bauer stieg aus und schien sich in Richtung der Kühe zu bewegen.

Hastig streiften sie ihre Kleidung über, begaben sich zu den Rädern und fuhren weiter nach Freital zum Museum Haus der Heimat.

In der Dauerausstellung war Sandra total aufgekratzt. Sie zog Florian förmlich zu Querners Bildern, die in drei Räumen ausgestellt wurden. Hier sehe er die Gasse und den Zaun aus Rundholzstangen. Dieses Motiv habe er wohl hundertmal aufgegriffen, aber stets wie neu geschaffen – eben malerische Vielfalt. Dieses markante Blau.

Und daneben eine Landschaft mit bestimmendem Braun, dazwischen leuchtendes Gelb-Orange. Dies gefiele Sandra sehr. Florian war vom Bild mit den alten Weiden am Bach zur Schneeschmelze, mit viel Blau, dazwischen aufflammendes Rot und etwas bedrohliches Schwarz begeistert. Einfach famos.

Sandra rief, hier sei der Bauer Rehn. Dieser hart arbeitende Bauer sei viele Mal sein Motiv gewesen.

Sandra erzählte, dass sie einige Male mit Querner gesprochen habe, wenn dieser bei ihrer Tante, die auch im Haus wohnte, zu Besuch war. Er habe geschildert, wie er mit seiner Nass-in-Nass-Malweise in kurzer Zeit mit Pinsel und Schwamm den Eindruck vom Motiv zu Papier bringen musste, ehe die Farben angetrocknet waren.

Sie kamen spät zurück. Es war bereits dämmrig. Florian wurde angeboten, im Haus zu übernachten. Er könne in Sandras Dachzimmer schlafen. Sandra werde bei ihrer Mutter nächtigen.

Als sich Florian dann in dem Jungfrauen-Zimmer umschaute, packte ihn die Neugierde. Er schob den Vorhang am Regal der Dachschräge zurück und entdeckte einen Karton mit Briefen. Er las einige. Die Grußformel mit dem Possessiv Dein in jüngsten Briefen machten ihn nachdenklich, ja eifersüchtig. Er fragte sich, ob Sandra einen Freund habe, von dem er nichts wisse. Nachsinnend schlief er ein.

Am folgenden Tag sprach er sie daraufhin an. Blitzartig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, ihre Züge versteinerten sich, innerliche Entrüstung drückten sich in ihrem Gesicht aus. Kurz sagte sie, das sei ein Briefkontakt – nichts weiter. Aber dann entlud sich ihre Verärgerung: Er sei in ihre Intimsphäre eingedrungen. Einfach so, ohne zu fragen.

Sie holte tief Luft.

Dies sei Vertrauensbruch. Das schocke sie enorm.

Er sei nur neugierig gewesen. So wie seine Stiefmutter ihre Neugierde befriedigt habe, wenn sie alle seine Schubkästen durchsuchte.

Sandra fühlte sich im Inneren verletzt. Ihre empfindsame, feinfühlige Seele hatte quasi eine Wunde erhalten. Ein brennender emotionaler Schmerz bohrte. Vertrauen war für sie ein edles Gefühl, ein hohes Gut. Redlichkeit und Loyalität bedeuteten ihr sehr viel. Nun hatte Florian diese Tugenden verletzt. Sie war enttäuscht.

Beschämt versuchte er, sich zu entschuldigen.

Sie unterbrach, er solle sein Rad nehmen und sofort zurück in sein Quartier fahren. Sie wolle jetzt allein sein.

Er verabschiedete sich förmlich.

Sie dachte längere Zeit über Florian nach. Wäre in ihrem beidseitigen Verhältnis Zuverlässigkeit, Zuversicht, Vertrauen zurückzugewinnen? Vertrauen in der Liebe, im Alltag, im Leben? Sie brauche Zeit, diese Frage für sich zu beantworten.

Tags darauf schrieb er und entschuldigte sich. Er erhielt keine Antwort. Auch folgende Briefe wurden nicht beantwortet.

5

Lange beschäftigte sich Florian mit seinem würdelosen Verhalten. Immer wieder schwirrten Schuldgefühle durch seinen Kopf. Sandra bedeute ihm sehr viel. Er wolle ihr Vertrauen erringen. Er möchte sein Leben an sie binden.

Nach weiterer Wartezeit, in der kein Signal von ihr kam, besorgte er Theaterkarten und fuhr mit dem Rad ins Vorgebirge. Beim hiesigen Gärtner wollte er Blumen kaufen. Ihm ging durch den Kopf, dass es Rosen mit ihrer tiefen Symbolkraft sein müssten. Sie symbolisierten nicht nur Liebe und Freude, in antiken Sagen wird die Rose als Überbleibsel der Morgenröte angesehen. Solchen Neubeginn wolle er ausdrücken. Kürzlich hatte er gelesen, dass auch in der mittelalterlichen Mystik, in der Alchemie die rote Rose als Symbol für den roten Stein, den Stein der Weisen, der die Menschen erleuchten könne, galt. Er kaufte tiefrote Rosen. Die Sorte Adenauer mit edlem Aussehen und intensivem Duft wurde ihm empfohlen. Der ehemalige westdeutsche Kanzler habe die Sorte gezüchtet.

Als er am Haus ankam, war alles verschlossen. Niemand zu Hause. Er setzte sich an einen Feldrand und schrieb seine Gedanken auf. Er flehte sie leidenschaftlich an, ihm eine Chance – quasi zur Bewährung – zu geben. Er habe sie sehr gern und werde sie stets schätzen und achten. Sie müssten sich intensiver kennenlernen. Er habe Karten für Lessings Nathan der Weise gekauft. Die Worte darin: - Ihr dürft mir doch auch wohl vertrauen, wer mich gern genauer kennen mochte – soll der Leitspruch für die Zukunft für sie beide sein. Er füllte eine Plastiktüte mit Regenwasser aus der Regentonne hinterm Haus, steckte die Rosen hinein, verknotete, legte seinen Brief und die Theaterkarte zwischen die Stängel und fuhr nach Dresden zurück.

Am Tag der Theatervorstellung fieberte er schon lange vor Beginn. Werde sie kommen? Zeitig, gleich nach Öffnen der Türen hatte er seinen Platz eingenommen. Immer wieder schaute er zur Tür. Pünktlich, lange vor dem ersten Klingeln steuerte sie auf den Platz neben ihm zu. Erfreut umarmte er sie langanhaltend. Leise flüsterte er in ihr Ohr: „Ich möcht‘ noch Goethes Wilhelm Meister sagen lassen: mein Vertrauen zu dir ist unerschütterlich – ich mag auch deines gewinnen und das ein Leben lang.“

Am Wochenende darauf liefen sie gemeinsam über den Altmarkt, am Kulturpalast vorbei, über den Theaterplatz zur Freitreppe der Brühlschen Terrasse, den man als Balkon Europas preist.

Während der jährlichen Musikfestspiele sangen auf dieser Treppe Chöre.

Beim Hinaufsteigen zählten Florian und Sandra die Stufen und kamen bei einundvierzig an. Dadurch waren sie abgelenkt und bemerkten die bronzene Figurengruppe Die vier Tageszeiten erst, als sie bereits oben verweilten.

Sie gingen zum Rietschel-Denkmal, das dem Begründer der Dresdner Bildhauerschule gewidmet war, und näherten sich von allen Seiten.

Am Geländer mit dem Blick auf die Elbe verfolgten sie die Abfahrt und das Anlegen der Raddampfer.

Sie schauten eine Zeit lang schweigend auf das gegenüberliegende Ufer. Er legte seinen Arm um ihre Taille, sie ihren Kopf an seine Brust und ließ sich streicheln – sanft, einfühlsam, behutsam.

Sie dachte über Florian nach. Bisher hatte sie Befürchtungen, ob er denn auf Dauer rücksichtsvoll, zärtlich liebenswürdig sein könne. Vielleicht kenne er nur Eigenliebe, vielleicht handele er nur zum eigenen Vorteil. Könne sie ihn ändern? Fragen und wieder Fragen? Wie könne sie eine sichere Antwort erhalten?

Wunsch und Irrtum, durch Wissen und Entschluss sichern. Sie sagte sich, der Boden unter ihr schwanke nicht mehr. Sie wolle ihn im Leben fest machen. Sie könne ihn verändern, wenn er Schwächen zeige.

Zum ersten Mal im Ernst fragte sie: „Florian, liebst du mich?“

„Ja, schon.“

In dem Moment fragte er sich, könne man Empfindungen in ein Wort pressen - was meine sie, meine sie nur das Gefühl, oder sehe sie hinter Liebe auch Entscheidung, Versprechen, enge Verbundenheit, Vertrauen? Er denke immer, Liebe zeige sich in dem Miteinander, in den Handlungen, in den Gefühlen, in dem Entschluss, seinen Lebensweg mit einem anderen Menschen zu teilen. Er wollte nicht gern darüber reden. In dieser Hinsicht war er wortkarg, zurückhaltend. Er sagte nicht mehrmals in der Woche, dass er sie liebe. Ja, er war wortarm. Er wusste nicht recht, wie er Gefühlseindrücke mit Worten beschreiben sollte.

Sandra wusste in dem Augenblick den Tonfall nicht so recht zu deuten. War es echte Bejahung? Stecke eine Nuance Unsicherheit hinter der Antwort? War es Zweifel?

Florians Liebe war ein sanftes, ruhiges Gefühl der Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu Sonja – kein Taifun der Leidenschaft.

Er beendete die sinnlichen Minuten. Sie gingen am Geländer weiter, bis sie den Fingerabdruck am Handlauf des Geländers fanden, der Legende nach soll er von August dem Starken stammen, der seine Stärke damit bewiesen haben soll, obwohl das Geländer erst im folgenden Jahrhundert errichtet wurde. Einige Schritte weiter blickten sie in den Studentenklub Bärenzwinger. An der Stirnseite des Albertinums blieben sie an der steinernen Treppe stehen und betrachteten längere Zeit das dort angebrachte Selbstbildnis Querners, das abends beleuchtet wurde.

Sie liefen zurück zum neobarocken, im Rokokostil erbauten Gebäude Café Sekundogenitur und kehrten ein. Mit ihrem Fensterplatz hatten sie einen Blick auf die Neustadt. In der Angebotskarte war auf der ersten Seite zu lesen, dass die weltberühmte Promenade ihren Namen nach dem sächsischen Premierminister Brühl, dem engsten Vertrauten des Königs, August der Starke, war, erhalten habe. Florian meinte, dass dieser Brühl durch eine extravagante Lebensführung und Verschwendungssucht aufgefallen sei. Er soll die Staatskasse schlecht verwaltet und ein riesiges Loch in den Geldbestand gerissen haben, es seien nach seinem Abgang viele Schulden geblieben.

Sandra und Florian saßen längere Zeit im Café und erzählten sich gegenseitig weitere Einzelheiten ihrer Lebensgeschichten. Meißner Wein heiterte sie auf. Sie sahen, dass bald die Sonne untergehen werde, also traten sie vor die Tür. Die gegenüberliegende Kreuzkirche erhielt von der Sonne am Horizont eine Umrahmung. Kurzzeitig zog eine Wolke vorbei. Am Himmel war ein beeindruckendes Farbspiel zu entdecken. Am unteren Rand der Wolke leuchteten gelblich rote Schleier hervor.

Ein Sonnenuntergang sei etwas Besonderes, er beeinflusse die Stimmung, mache innerlich heiter, sagte Sandra.

Florian umfasste Sonjas Taille und fragte etwas zaghaft und gestelzt: „Unter dem Eindruck dieses atmosphärischen Spiels möchte ich dich fragen, ... Sandra, ... wollen wir uns ein Heim einrichten?“

Ja, darüber könne man nachdenken, erwiderte sie freudig. Sie schauten schweigend weiter der untergehenden Sonne zu. Nach einigen Minuten fragte sie, ob er es ernst meine, er sei doch bisher nicht gerade sesshaft gewesen. Mit vierzehn Jahren sei er in die Fremde geschickt worden. In der Kindheit und Jugend habe er nie ein geborgenes Familienklima erlebt. Sie befürchte, dass er in Zukunft vorwiegend nur an sich denke.

Er möchte, dass sie sich ein gemeinsames Nest bauten, in dem sie sich zu Hause fühlen können, ... das ihnen Sicherheit und Geborgenheit gebe. ... Er werde sich große Mühe geben, ein liebevoller Partner zu sein, sagte Florian.

"Umarme mich, gib mir einen Kuss“, sagte Sandra.

Ganz gerührt, fasste Florian mit seinen beiden warmen Händen ihr Gesicht und küsste sie.

„Wir passen zusammen“, sagte er.

„Du hast genau die richtigen Hände für mich und den richtigen Mund. Halte mich immer fest in deinen Armen“, sagte Sandra.

Er schlang seine Arme um sie und schmiegte seine Wangen an ihre.

Sie beichtete ihm, dass sie nicht kochen könne. Sie habe immer ihren Vater bei Maurerarbeiten im Dorf unterstützen und Gras für die Ziege mähen müssen, sagte etwas unvermittelt Sandra.

Dann werde er kochen, sagte Florian.

Sie gingen zurück zu ihren Weingläsern, verfolgten durchs Fenster den Mond, der hinter einem dünnen Dunstschleier hervorkam. Später verließen sie das Café.

Schön, der Mond habe doch keinen Hof, sagte Sandra, da gebe es wohl auch morgen sonniges Wetter.

Der Mond verbreitete nun ein unreales, gespenstisches, missfarbenes Licht, wodurch sich die Himmelskuppe scharf von der Häusersilhouette abgrenzte. Wolkenfetzen versteckten ihn für kurze Zeit.

In solch einer Atmosphäre sei sicherlich Caspar David Friedrich stimuliert worden, das Elbufer zu malen.

Es stecke viel Melancholie in seinen Bildern, meinte Sandra.

Er sei aber auch ein Patriot gewesen, er sei gegen den eroberungssüchtigen Napoleon aufgetreten, er sei ein Franzosenhasser gewesen. Sein kleines Atelier sei zu einem Zentrum patriotischer Männer geworden. … Körner, Kleist, Clausen Dahl und andere haben sich dort getroffen, dozierte Florian.

Florian und Sandra trafen sich in den folgenden Wochen oft zu gemeinsamen Unternehmungen.

Ein Vortrag mit kleinem Konzert im Studentenklub Bärenzwinger an der Brühlschen Terrasse interessierte sie. Als Thema war russische Literatur angekündigt. Sandra erzählte Florian, dass sie als Schülerin in der Gemeindebibliothek geholfen habe. Wenn sie Bücher einzuordnen hatte, habe sie oft sehr lange in der Abteilung Russische Literatur verweilt. Sie habe die Bücher von Puschkin, Tolstoi, Gogol, Gorki und anderen ausgeliehen.

Im Studentenklub war Selbstbedienung. Als Florian mit Getränken zum Tisch kam, gesellten sich noch weitere Zuhörer dazu. Sie kamen ins Gespräch. Sie seien Architekturstudenten und helfen bei der Vorbereitung von Veranstaltungen in dieser Studentenkneipe, sagten die Hinzugekommenen. Sandra wollte wissen, ob früher im Bärenzwinger Bären gehalten wurden. Einer erläuterte, dass der Begriff aus dem Festungsbau abgeleitet sei und nichts mit Raubtieren zu tun habe. Es handele sich um einen Gang zwischen innerer Stadtmauer und äußerer Grabenmauer. Im Zweiten Weltkrieg sei das Gewölbe für den Luftschutz genutzt worden.

Nach dem Vortrag meinte Sandra, dass ihr in den Büchern Schuld und Sühne, Anna Karenina, Krieg und Frieden die ausführlichen Naturbeschreibungen und die eindrucksvollen Schilderungen zwischenmenschlicher Beziehungen sehr gefallen habe. Der Architekturstudent anerkannte das Durchstehvermögen, dass sie solche dicken Wälzer bewältigt habe. Sein Professor wünsche sich Kurzreferate zu den Büchern.

Ja, da könne er dann überall gut mitreden, warf Florian ein, ohne den Aufwand des langwierigen Lesens betreiben zu müssen.

Das Licht im Klub war gedämpft. Altmodische Lampen verliehen dem Gewölbe einen angenehmen Touch, es hatte den Charakter einer echten, urigen Kellerbar. Zwischen Vortrag und Lesung erklang dezente Jazzmusik, auch kurze musikalische Sätze russischer Klassiker waren zu hören. Sandra drehte ihr Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie hielt ihr Glas elegant am Stiel und trank einen Schluck. Sie strahlte unbekümmerte Souveränität aus. Kurz darauf sagte sie beiläufig, dass sich heutzutage eine traurige Tendenz abzeichne, weil nur noch wenige Menschen ein Buch in die Hand nähmen und lesen würden.

Ja, eine verkürzte Darstellung vieler Bücher als Fernsehfilm mache das Konsumieren von Literatur einfacher, meinte Florian.

Sandra schaute auf ihre Uhr, die Abfahrtszeit ihres Busses ins Vorgebirge rückte näher. Florian erinnerte sich an die Sprengkraft, die dem nächtlichen letzten Bus ins Vorgebirge innewohnte. Sie konnten ohne Eile zum Busbahnhof marschieren, wie es sich Sandra wünschte. Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss.

Nach mehreren Treffs in den folgenden Wochen verabredeten sie sich im Frühherbst während einer sonnigen Periode zu einer kleinen Wanderung durch den Großen Garten. Sie liefen die Hauptallee dieser größten Parkanlage Dresdens entlang, vorbei an Balestras Skulpturengruppe Die Zeit entführt die Schönheit vor dem Palais.

Vorbei an Flächen mit Rhododendron-Gewächsen spazierten sie zum Botanischen Garten. Da hatten sie längere Zeit viele interessante Pflanzen zu bestaunen.

Danach schritten sie die Querallee entlang. Sie verweilten am Carolasee und umliefen ihn. Die vielen Vögel zogen ihre Blicke an. Sie machten am Wasser Teichhühner, Schwäne, Brautenten aus. Entfernt hörten sie Spechte hämmern. Finken und Zeisige flogen zwischen den Bäumen. Als sie sich einige Minuten auf eine Bank am Seeufer setzten, bewunderten sie die Brautenten. Die Männchen trugen ein kontrastreiches, farbenfreudiges Prachtkleid. Das Gefieder wies grüne, violette, blaue, weiße Farblinien, Flächen und Streifungen auf. Schon im 17. Jahrhundert waren sie der Blickfang in Parks und in den königlichen Schlossgärten, sie gehörten zum königlichen Hof in Versailles.

Dann pilgerten Florian und Sandra zum Bahnhof Carolasee der Parkeisenbahn. Kinder und Jugendliche trainierten an der Liliputbahn im Großen Garten in Dienstkleidung Tätigkeiten als Zugschaffner, Aufsicht, Zugführer. Sie lasen an einer Tafel, dass bereits zur Hygieneausstellung 1930 die Bahn durch den Park fuhr. Während sie den Text überflogen, kam ein Zug mit einer Dampflok. Sie hatten gerade noch erfasst, dass diese schnaufenden Exemplare 1925 von Krauss-Maffei in München gefertigt worden waren. Viele Familien mit Kindern drängelten, um einen Sitzplatz zu ergattern. Sie fuhren den großen Rundkurs. Sandra fühlte sich in Kinderzeiten zurückversetzt, als sie häufig mit der Bahn durch den Park preschte, wie sie es damals empfand. Sie berichtete, dass es eine ähnliche Bahn im Wiener Prater gäbe. Am Bahnhof Karcherallee fielen relativ junge Parkeisenbahner auf, die wahrscheinlich nach bestandener Personalprüfung ihre ersten Einsätze absolvierten.

Sie arbeitete als Lehrerin gern mit Kindern. Einige Male im Jahr bereitete sie Kindergeburtstage und andere Feiern mit den Kindern vor. Die Mottos für die Feste ändern sich weiter. Kurzzeitig dachte sie an eigene Geburtstage zurück, da wurde Topfschlagen und Sackhüpfen gemacht. Kann sich wohl heute niemand mehr vorstellen. Auch durfte sie in den ersten Klassen noch junge weiße Mäuse, die ihr Vater aus dem Labor mitbrachte, mit in die Schule bringen. Als die Mäuse aber in das Erwachsenalter kamen, war der Gestank nicht mehr auszuhalten. Die Mäuse mussten zurück ins Labor.

Nach dem Rundkurs stiegen Florian und Sandra aus, liefen zur Torwirtschaft am Anfang der Hauptallee, wo reger Betrieb herrschte. Sie konsumierten den üblichen Nachmittagskaffee mit Dresdner Eierschecke und danach einen herzhaften Imbiss.

Danach fuhren sie mit der Straßenbahn in Richtung Wohnheim. Der Kumpel Florians war übers Wochenende abwesend. Als sie ausstiegen, wurden sie noch von der untergehenden Sonne angestrahlt. Sandra schirmte mit einer Hand die blendenden Sonnenstrahlen ab, wenn sie Florian ansehen wollte. Florian legte ihr eine Hand auf den Rücken. Beide waren heiterer Stimmung. Er merkte, dass er Sandra wirklich mochte. Ihre Geradlinigkeit imponierte ihm stark. Sie lächelte viel und schien sehr belesen. Sein Zimmer befand sich in der ersten Etage des Wohnheimes, unweit einer Gemeinschaftsküche. Im Gemüsefach des Kühlschrankes hatte er eine Flasche Wein deponiert, die er rasch holte. Dann öffnete er sein Zimmer. Er schaltete eine Tischlampe ein. Während Sandra im Regal die Buchrücken studierte, entkorkte er die Weinflasche und goss das Getränk in zwei Gläser. Die Flasche stellte er auf dem vorstehenden Unterteil des Regals ab und reichte Sandra ein Glas. Sie tranken einige Schlucke. Er legte eine Platte mit Musikrevuen Gershwins auf, anfangs erklangen Rhapsody in Blue und Ein Amerikaner in Paris.

Sie tranken vom Wein. Die Gläser leerten sich. Er musste nachgießen. Die Lippen beider näherten sich. Seine Hände bewegten sich um ihre Taille und schoben sich unter ihren Top. Ihr Rücken war gespannt und durchtrainiert. Nach dem Ertasten des BH-Verschlusses, öffnete er diesen und berührte ihre Brüste. Er nahm ihre Hände auf seinem Rücken wahr. Er öffnete die Jeans. Langsam glitten ihre Finger unter das Gummiband seiner Shorts und strichen am Bauch und Lende entlang. Er schob sie zum Bett. Als sie auf dem Rücken lag, entkleidet er sie. Während sie mit angezogenen Beinen, die von den Armen umschlungen wurden, lauernd, was wohl nun kommen mag – etwas schüchtern, aber auch etwas bittend, ja etwas scheu wie ein Reh, mit geringen hellwachen Blitzen in den braunen Augen, mit einem liebevollen, gewinnenden Blick, auf dem Bett saß, riss auch er seine Kleidung vom Leib. Das helle Licht der Schreibtischlampe verlieh dem Zimmer eine Büroatmosphäre. Er schaltete die Leuchte aus. Er setzte sich neben sie, berührte ihre Brüste, umarmte sie, küsste sie und schob sie auf den Rücken. Zart strich er längere Zeit über Bauch, Lende, Scham. Sanft massierende, kosende Bewegungen brachte sie zunehmend in sexuelle Erregung. Im Gefühlssog kamen sich ihre Körper näher. In üblicher Missionarstellung, ohne besondere Spielchen genossen sie die Zärtlichkeit, Berührung und Vereinigung. Das eigene Ich wurde vergessen. Nachdem Wellen der maximalen Erregung, des Hochgefühls über beide hinweggezogen waren, lagen sie sich noch längere Zeit in den Armen. In Florian machten sich Alltagsgedanken breit. Sie berührte seine Intimzone und wünschte Wiederholung. Sie sei glücklich, sagte sie.

Sie sprachen noch viele Aspekte ihrer beider Leben, besonders der zukünftigen Jahre an.

6

Das Jahr war vorangeschritten. Die Zeitdauer der dunklen Nächte verlängerte sich. Es war Nikolaustag. Florian holte Sandra vom Bus ab. Sie gingen zu seinem Studierzimmer. Eine kleine Deckenlampe erhellte den Raum nur spärlich. Er übergab ihr einen kleinen bunten, aus dicker Wolle gefertigten, prallgefüllten Strumpf. Es war ein Erinnerungsstück an seine Großmutter. Jedes Jahr erhielt er den immer wieder gefüllten Strumpf von ihr. Diesmal war er mit Lebkuchenspitzen aus Pulsnitz und einem kleinen geschnitzten Bergmann gefüllt. Diese kleine geschnitzte Figur sei auch der Schutzpatron der Apotheker, erläuterte Florian, und Bergmänner strebten nach dem Licht. Er möchte nun ein Heim, in dem es hell sei, in dem sie beide lebten und gerade zur Adventszeit viele Kerzen anzündeten. Adventskranz, Pyramide, Lichterbogen, eben viele Kerzen und rote Kerzen - da Rot für Liebe stehe. Er wolle viel Licht, das Halt vermittele und ein Zeichen für Hoffnung sei.

In Sandras Elternhaus sei doch viel Platz, sie lebe mit ihrer Mutter dort allein. Ob er dort einziehen dürfe, fragte er.

Auf dem Dorf gebe es ungeschriebene Gesetze, erwiderte sie. Dort herrsche Ordnung, habe ihre Mutter gesagt.

In der folgenden Zeit suchte Sandra immer wieder das Gespräch mit ihrer Mutter, bis diese einwilligte, dass Florian mit ins Haus ziehen könne. Sie sollten schon einen Termin für eine Hochzeit festlegen.

Sie bezogen im Haus zwei Zimmerchen auf dem Dachboden. Einen Abtritt gab es eine Etage tiefer. Die morgendlichen Reinigungsoperationen erfolgten in der Waschküche, zu der man über einen kleinen Hof gelangte. Hierfür wurde eine Gießkannenbrause auf den Wasserschlauch gesteckt, es wurde mit kaltem Wasser geduscht.

Vor dem Schlafengehen schauten sie gemeinsam durch das enge Fenster der Dachgaube, Wange an Wange. Sie hörten den Glockenschlag zur vollen Stunde von der unweit entfernten Kirchturmuhr. Sie schauten sich an, der Saum der Straßenbeleuchtung erfasste gerade noch ihrer beiden Gesichter. Er überstrich mit seinen Fingern ihr Gesicht, ihre Stirn und die Augenbrauen und schaute in ihre Augen. Diese Augen hatten ihn von Anfang an gefesselt. Sie mochte seine Zärtlichkeit. Sie fühlten sich beide wie unter einem gemeinsamen dünnen Netz.

Wenn es nachts heftig regnete, wurden sie oft vom Trommelwirbel des Regens, der auf das Dach niederging, geweckt. Manchmal traten sie ans Fenster und sogen die feuchte, gereinigte Luft ein. Sie hielten ihre Arme in den strömenden Regen, holten sie nass und abgekühlt wieder zurück und spritzten sich die Wassertropfen gegenseitig ins Gesicht. Im Gegenlicht der Straßenlampen sahen sie, wie die Wassertropfen an den Telefondrähten entlang rannen, immer im gleichen Abstand, in gleicher Geschwindigkeit. Der Regen rauschte weiter. Sie schliefen bei offenem Fenster.

Bei warmem Wetter drangen durchs Fenster häufig Fluginsekten mit stechend-saugenden Mundwerkzeugen ein, die in Zickzackbewegungen und nervenden, belästigenden, quälenden Summtönen der Duftfahne des Wirtes folgend, bis zur Quelle der Körperwärme vordrangen. Wenn es den blutsaugenden Zweiflüglern, den Mücken gelang, den Wirt im Schlaf zu überfallen und die Stechborstenbündel tief durch dessen Haut zu stoßen und Speichel zu injizieren, blieb die nachfolgende schmerzhafte Quaddelbildung in langer Erinnerung. Aufgrund der im Gehirn des Menschen gespeicherten Vorerfahrung konnte die Reaktion auf solche Attacken sehr impulsiv sein. Wie zu Zeiten der Steinzeitmenschen wurde man bei den hohen Flugtönen sofort aus dem Tiefschlaf gerissen. Während sich Sandra wimmernd unter der Bettdecke versteckte, schlug Florian wild um sich.

Nach solchen nächtlichen Erlebnissen wurde eine dichte Gardine angebracht, die abendlich mit Abwehrmitteln besprüht wurde.

In der Frostperiode waren morgens oft Schneewehen auf den Dielen. Bei starkem Frost fror der Atem an der Bettdecke.

Die Monate rasten dahin.

Sandras Mutter fragte wiederholt, ob Sandra und Florian endlich einen Termin für die Hochzeit festgelegt hätten. Freundinnen der Mutter hätten sich schon mehrmals erkundigt, wann denn die wilde Zeit des Zusammenlebens beendet sei und geordnete, dorfgemäße Verhältnisse einzögen.

Florian und Sandra waren beide in ihren beruflichen Alltag stark eingebunden. Florian hatte eine Reihe von Prüfungen zu absolvieren, die für das Vordiplom nötig waren. Während er den Stoff der naturwissenschaftlichen Fächer gut zu strukturieren und durch Schemata effektiv einprägsam zu gestalten wusste, fiel ihm das Erlernen von Fremdsprachen sehr schwer. Wenn er zu Hause die Lektionen durcharbeitete, musste er oft manche Vokabeln silbenweise vor sich hersagen und mehrmals wiederholen, ehe er sie flüssig aussprechen konnte.

Sandra hatte häufig bis abends mit der Kontrolle von Klassenarbeiten und den Unterrichtsvorbereitungen zu tun.

So waren beide abends oft erschöpft.

Sie hatten keine Freunde auf dem Dorf, die sie vielleicht besuchen oder einladen konnten. Eine Kollegin Sandras, die sie vom Studium kannte und die im Ort tätig war, stellte sich zwar häufig ein, manchmal täglich. Sie kam regelmäßig zur Abendbrotzeit. Schnell war ersichtlich, dass sie immer auf eine gute Abendmahlzeit erpicht war. Daraufhin gab es bei Sandra und Florian täglich abends Quark, bis die Kollegin die Frequenz des Kommens merklich verringerte. Als sie die eintönige Verkostung ansprach, erwiderte Sandra, dass es beim verehrten Maler Querner auch immer Quark und Milch gegeben habe. Sandra wusste aber auch, dass dies nur in der Zeit der Fall war, als Querner kaum Bilder verkaufte. Als er dann mit dem Nationalpreis ausgezeichnet worden war, änderte sich die Speiseart und es wurden Spezialitäten aus Delikatessgeschäften und auch alkoholische Getränke auf den Tisch gebracht.

Außer Spaziergängen in die Umgebung gab es auf dem Dorf keine weiteren Zerstreuungen. Auf ihren Bummel durch die Natur redeten sie nicht viel. Florian wusste, dass sein Schweigen wohl Missstimmung signalisierte. Er war häufig knurrig und grantig.

Sie entsann sich an frühere Zeiten, an ihre ersten Begegnungen. Sie empfand ihn toll. Er hörte ihr zu. Er ging auf sie ein. Er war charmant und witzig. Zwar strich er seine Intelligenz etwas heraus, aber er war empathisch und einfühlsam. Jetzt begann er, sie zu maßregeln und zu bevormunden. Dinge lagen oft nicht am gewohnten Platz. Wollte sie sich mit alten Freundinnen treffen, sagte er ihr, dass dies für sie als Familie nicht wichtig sei. Er hingegen ging abends aus und sie bekam nicht mit, wann er nach Hause gekommen war.

Zum Himmelfahrtstag verkündete er ihr, dass er mit Kumpanen losziehen werde. Weshalb er nicht mit ihr darüber geredet habe, wollte sie wissen. Sie würde ihn nicht vor vollendete Tatsachen stellen. Sie würde Pläne immer mit ihm besprechen. Es sei eine Frage der Höflichkeit und Rücksichtnahme. Florian meinte, er könne zu seinen Kumpels nicht sagen, dass er erst seine Partnerin um Erlaubnis bitten müsse. Da fühle er sich unfrei, da habe er nicht die Freiheit, unabhängig zu handeln, da fühle er sich als Untergebener. Er ließ Sandra allein, obwohl sie für den Abend Theaterkarten hatten. Sie könne ja mit ihrer Freundin die Vorstellung besuchen, sagte er.

Florian war mit den gemeinsamen Liebeshandlungen nicht zufrieden. Es schien ihm eintönig. Er wünschte sich mehr. Vielleicht war er abends auch nur zu müde, oder es gingen ihm andere Probleme durch den Kopf. Er fühlte sich oft unbefriedigt. Ihm fiel es aber schwer, über Sex zu reden. Bei diesem Thema war er schweigsam, verschlossen. Zwar konnte er allgemein theoretisch und naturwissenschaftlich über das Thema reden. Aber ganz konkret Probleme anzusprechen, darüber zu reden, was sich gut anfühlte, was er sich wünschte, Bitten zu äußern: ‚berühr mich so‘, ‚kannst du dies tun‘, hatte er als peinlich empfunden. Er wollte keine Befehle erteilen. Er wollte sich nur seinen Empfindungen, seinem Sinnenrausch hingeben. Er war der Meinung, dass eine Partnerin ein Gespür dafür besitzen müsse, was seiner Befriedigung entspreche. Natürlich würden ihn orale Berührungen stimulieren. Er hatte nicht den Mumm, ihren Blicken zu begegnen, in ihre rehbraunen Augen zu schauen und Instruktionen zu geben, welche Art körperlicher Kommunikation er wünsche. Vielleicht, wie sie ihren Mund formen, welchen Druck ihre Lippen ausüben, welche stimulierenden Bewegungen die Finger ausführen sollten.

Nach einem Akt schwiegen sie meist. Er dämmerte weg.

Er war in letzter Zeit generell wortkarg, maulfaul und übelgelaunt. Unterschwellig deutete sich eine Krise in ihrer Beziehung an. Bei einem Glas Wein äußerte Sandra, dass sie das Gefühl habe, es sei manches anders – mit ihm, mit ihnen. Sie habe ständig gewartet, dass Florian etwas sage. Falls es ein Problem gäbe, fände sie es löblich, wenn er es einfach sage. Aber er wollte nicht reden. Er lenkte das beabsichtigte Gespräch auf ein anderes Thema. Frauen haben eher das Bedürfnis, ein Problem anzusprechen, zu erläutern, zu klären, geduldig Ursachen zu erforschen. Männer halten den Mund. Für Florian war eine Kommunikation wie ein Drahtseilakt. Er musste mit den unterschiedlichen Bedürfnissen nach Intimität und Unabhängigkeit jonglieren. Sandra sah Gespräche als Ausdruck gegenseitiger Verbundenheit an.

In der Universität war Semesterball angekündigt. Er wollte wieder einmal allein zum Schwof gehen. In den vergangenen Monaten fühlte er sich vom studentischen Leben ausgeschlossen. Also fuhr er an diesem Tag nicht zu Sandra. Er blieb einfach in der Hochschule, ohne sie in Kenntnis zu setzen.

In mehreren Sälen der Mensa gab es Live-Musik. Er zog von einer Tanzfläche zur anderen. Er traf auch andere Kommilitonen. Mit einem flotten Weib tanzte er schmissig und in vielen Varianten. Er amüsierte sich prächtig. Nach fortgeschrittener Stunde nahm er sich vor, die Tanzwütige zu fragen, ob er sie nach Hause bringen dürfe. Er versprach sich noch eine lustvolle Zeit. Es bauten sich aber in ihm Zweifel über sein Vorhaben auf. Also fuhr er in den Morgenstunden mit dem Taxi zurück zu Sandra.

An einem Wochenende verabschiedete er sich formlos. Er fahre zum Klassentreffen. Als er nach zwei Tagen Abwesenheit wieder erschien, fragte Sandra, wo er gewesen sei. Zum Klassentreffen, habe er doch gesagt. Empört wies sie auf den Brief auf seinem Schreibtisch hin. Das Klassentreffen sei erst in zwei Wochen. Sie schrie, dass er sie anlüge. Wo er wirklich gewesen sei, fragte sie. Er blieb stumm. Wortlos drehte er sich um und verließ den Raum.

In den folgenden Wochen setzte sich seine wortschwache Zeit fort.

Als an einem Samstag Sandra ihre Freundin in der Stadt besuchte, lag Florian auf dem Bett im Bodenzimmer. Er starrte zur schrägen Decke des Raumes. Einem Traumbild gleich, kam es ihm vor, als falle die Decke auf ihn. Er fragte sich, ob das nun sein Leben sei. Er fühlte sich eingesperrt, in seiner Freiheit eingeschränkt. Er suchte ein Blatt Papier und schrieb, an Sandra adressiert, er fahre nach Dresden, er habe ein Problem, er fühle sich eingeengt, er brauche für längere Zeit freie, frische Luft.

Er holte sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr davon. Im Beutler Park in Dresden stellte er sein Rad an einen Baum und setzte sich auf eine Bank. Es war kühl, die Bank war kalt. Er sank in sich zusammen. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Er fühlte sich schlecht. Er habe nie aufgehört, Sandra gern zu haben. Das verwirrte ihn. Die alarmierende Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er wohl nicht beziehungsfähig sei. Er habe anscheinend nicht die Fähigkeit, mit einem anderen Menschen zusammen zu leben. Er habe nichts an ihr zu kritisieren. Sie sei ein liebes Frauchen. Im Gegenteil, sie habe ihn mit lieben Hinweisen auf manche Schwächen aufmerksam gemacht. Er sah Sandra vor sich und dachte an die vielen glücklichen Momente.

Er beschloss, Ulla, eine Kommilitonin, anzurufen, mit der er oft strittige Debatten führte, mit der er kumpelhaft reden konnte. Im Praktikum experimentierte sie neben ihm. Ulla war kritisch, sie hatte ein klares Urteilsvermögen. Sie sprach Probleme direkt und offen an. Sie hatte ihm schon manchen Ratschlag gegeben.

Sie meldete sich am Apparat: „Hallo Florian, berichte, was bedrückt dich?“

Er beichtete, dass er sich ohne ein persönliches Wort, nur mit wenigen Zeilen von Sandra entfernt habe. Er sei geflüchtet. Es sei schwer zu erklären. Wahrscheinlich habe ihn die Beziehung eingeengt.

Einengen sei nicht gut, sagte sie.

Er habe an Sandra nichts auszusetzen. Aber die körperliche Anziehungskraft habe nachgelassen. Das Abflauen seines Begehrens gehe nicht mit nachlassenden Gefühlen für sie als Mensch konform. Er fühle sich schuldig. Er glaube, dass er nichts getan habe, die Beziehung dauerhaft zu stabilisieren. Er wolle eben immer sein separates Ich. Er habe nicht an das Wir gedacht. Sie habe ihm gezeigt, was er an einer Frau zu schätzen habe, er habe es nicht angenommen und nicht danach gehandelt. In den letzten Monaten habe er sich eingeengt gefühlt.

Nachdem er mit seiner Selbstkritik am Ende war, legte Ulla im scharfen Tonfall los. Er sei ein eigenbrötlerischer Egoist, der nur an seine Gefühle denke. In einer Beziehung müsse man auch stets an den Partner denken. Er überschaue zwar die theoretischen Zusammenhänge recht gut, wenn es um die Botenstoffe im Stadium der Verliebtheit gehe. Er wisse zwar über die sich ändernden Signalstoffe in der Phase echter Liebe und Vertrautheit Bescheid. Aber in der praktischen Umsetzung sei er ein totaler Versager. Er wisse schon, dass der Aufbau einer dauerhaften Beziehung Willenskraft, bewusstes Tun erfordere.

Er knurrte etwas, das als Zustimmung gelten konnte. Nach einer kurzen Pause fragte sie:

„Liebst du sie?“

Er nickte, sie konnte es natürlich nicht sehen. Also wiederholte sie:

„Liebst du sie?“

„Ja. Ja, ich liebe sie.“

„Du weißt, was am Eingang des Tempels Orakel von Delphi steht: Erkenne dich selbst. Also befrage deine Innenwelt, dort findest du die Auflösung deiner Probleme. Ordne deine Einstellung. Nimm Kontakt zu Sandra auf, vereinbare einen persönlichen Treff. Findet gemeinsam heraus, was passiert ist, wie ihr beide euch den Morgen vorstellt, wie ihr eure Zukunft gestalten wollt.“

Wie ein Fragezeichen, den Kopf geneigt, zusammengesunken saß Florian auf der Bank. Er fühlte sich als begossener Pudel. Er brauchte einige Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Er musste Worte aus den verlassenen Regionen seines Hirns suchen, die er dann in Sprache umzusetzen hatte. Er legte sich auf die Rasenfläche und schaute in den Himmel. Wolken zogen im raschen Tempo vorbei. Er beobachtete zwei Wolken, die getrennt voneinander näherkamen. Eine Wolke hatte viele Ausbuchtungen, in der Vorstellung vielleicht als Ecken und Kanten bezeichnet. Sie näherten sich einander an. Langsam verschwanden die Ausbuchtungen, die Wolke glättete sich. In seinem Fantasiegebilde kam nicht nur der Wunsch, sondern der Wille, seine, die gemeinsame Beziehung störenden Unebenheiten, seine Anwandlungen, zu beseitigen.

Der Spruch vom Dichter der Liebe, Ovid, gab ihm Zuversicht:

Die Hoffnung ist es,

die die Liebe nährt.


Ob ihm Sandra dabei helfen werde?

Florian griff zum Handy und rief aus dem Speicher Sandras Nummer auf.
 
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