F-o-r-e-f-a-t-h-e-r-s. Meine Finger huschen wie aufgescheuchte Ameisen über die Tastatur, während mein Blick am Bildschirm klebt. In der Dunkelheit des Arbeitszimmers leuchtet das helle Licht der geladenen Seite wie eine Verheißung; wäre ich religiöser und ginge nicht nur zur Christmette in die Kirche, um mich dort vor allem auf die Ausgabe der Oblaten zu freuen, würde ich es göttlich nennen.
Vorhin – meine Augenlider waren schon fast zugefallen – ertönte im nächtlichen Werbefernsehen, zwischen Grizzlybären, die auf Matratzen hüpften, um deren Festigkeit zu belegen, und Küchengeräten, die nicht nur Lebensmittel in Scheiben schnitten, eine sanft-sonore Männerstimme: „Finden Sie mit uns heraus, wer Ihre Vorfahren sind.“ Begleitet von sprudelnden Klavierklängen wuchs im Bild ein kunstvoll geschwungener Stammbaum, an dessen Ästen die Porträts und Namen von Personen aus verschiedenen Jahrhunderten erschienen.
Der Gedanke, die Geschichte meiner Familie zu ergründen, faszinierte mich sofort. Dahinter stand weniger das Interesse an Fakten als vielmehr der Wunsch nach Inspiration. Vielleicht könnten mir die Biografien und Talente meiner Ahnen eine Richtung weisen, in die es sich zu entwickeln lohnte. Vielleicht könnte ich so die Leere füllen, die ich neuerdings empfinde und deren Ursprung ich nicht genau bestimmen kann.
Kommt sie durch meinen Job? Seit mehr als einem Vierteljahrhundert umgeben mich Akten, die das Leben anderer auf Zahlen reduzieren. Ich führe ständig die gleichen Gespräche über ähnliche Versicherungsprodukte, mit wiederkehrenden Verkaufsargumenten, und trage dabei stets faltenfreie Seidenstickerhemden über meiner Hühnerbrust. Nur die Unfallstatistiken, die ich meinen Kunden mit sorgenvoller Miene präsentiere, tausche ich alle drei Jahre aus.
Hat mich der Auszug meiner Kinder verstimmt? Sie sind gleichzeitig gegangen, und ich spüre deutlich, wie sehr sie für mich ein wohliges Hintergrundrauschen – oder besser gesagt: Vordergrundrauschen – waren. Ihr Lachen, ihre Schritte im Flur, die Gewissheit, regelmäßig um Rat gefragt zu werden. Hinzu kommen sehnsuchtsvolle Erinnerungen an meine Jugend, die immer häufiger aufblitzen: die erste Nachtwanderung mit Freunden auf den Brocken, die wochenlange Wiederbelebung des alten BMW R65 und meine Imitationen des jungen King of Rock’n’Roll beim Elvis-Festival in Bad Nauheim, die zumindest ich selbst für legendär halte.
Es klopft an der Tür. Etwas zu laut und zu unerwartet für diese Uhrzeit. Ich zucke zusammen. David, mein Schwiegersohn, steckt den Kopf herein. Er und meine Tochter übernachten für ein paar Tage bei uns, da ihre Wohnung einen Wasserrohrbruch erlitten hat.
„Weißt du, wo meine Zahnbürste ist?“
Bei dieser akustischen Störung bleibt es nicht. Sein Blick wandert zu meinem Computer, er schleicht in meine Gefilde. Ich mag es nicht, wenn Menschen mit einem bestimmten Anliegen auf mich zukommen, nur um dann ihrer plötzlichen Neugier auf etwas ganz anderes freien Lauf zu lassen, besonders wenn sie dabei die Privatsphäre verletzen.
Ich setze mich aufrecht, um den Monitor zu verdecken, doch David improvisiert, wechselt geschmeidig den Einfallswinkel, dreht einen Bogen um mich. Durch seine ungebührliche Annäherung kann ich seinen Atem wahrnehmen – die Frage nach der Zahnbürste war zweifellos berechtigt. Daneben fällt mir sein schmuddeliges Pyjama-Oberteil ins Auge, das wie eine verwitterte Landkarte seiner ungehörigsten Träume anmutet.
„Wenn du deine Bürste nicht findest, nimm dir eine aus der Dreierpackung, die wir gestern gekauft haben. Sie liegt in der rechten Schublade im Badschrank. Nimm am besten die mit den Schimpansenköpfen am Griff, dann weiß ich Bescheid“, erwidere ich, in der Hoffnung, er würde den Raum nun verlassen.
David reagiert nicht. Er scheint magisch angezogen von dem, was er auf dem Screen sieht. Schließlich schießt es in einem clownesken Tonfall aus ihm heraus: „Ahnenforschung!?“
Ich gebe mich trotz meines inneren Brodelns geschlagen, wohlwissend, er hätte mich mit anrüchigeren Internetseiten ertappen können. „Glückwunsch, richtig gelesen. Wieso fragst du?“
David starrt immer noch ungläubig auf die Seite, als hätte er eine neue skurrile Tierart entdeckt. Schließlich tapert er in eine Ecke des Raums, zieht hinter dem Schrank einen Campingstuhl hervor, kehrt zurück, klappt ihn auf und setzt sich Schenkel an Schenkel neben mich. Er wendet sich zu mir, seine Augen weiten sich, seine Stirn legt sich in Sorgenfalten, als wolle er ein Geständnis ablegen, ein Geständnis von der Schwere dieser fortgeschrittenen Stunde.
„Robert“, sagt er in einem ungewohnt nachdenklichen Ton, „ich habe meine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt. Mein Vater war schon sehr alt, als ich geboren wurde, und starb, als ich fünf war. Er hatte durch die Arbeit in der Zeche eine verstaubte Lunge.“
Ich halte inne, beschließe, keine weiteren Erläuterungen einzufordern.
„Warte“, sage ich mitfühlend, ohne meine Strenge vollständig abzulegen.
Ich klicke auf den PayPal-Button, um die Stammbaum-Funktion freizuschalten, und drehe David den Bildschirm zu. Sein Züge erweichen.
Er tippt seinen Namen sowie Geburtsdatum und -ort ein und klickt auf: „Ahnenbaum erstellen“. Davids Familiengeschichte entfaltet sich Ast um Ast. Ich gewähre David Zeit, sich zurechtzufinden. Seine Pupillen flackern von Name zu Name. Am Rand des Stammbaums steht, dass die Daten etwa aus Kirchenbüchern, Standesamtsregistern, Steuerlisten und privaten Archiven stammten. Bei einigen Vorfahren werden lediglich Vorname, Nachname, Geburts- und Sterbedaten angezeigt, bei anderen zusätzlich Heiratsdaten, Berufe, Wohnorte – und sogar Bilder.
Davids Blick bleibt nur bei wenigen Ahnen länger hängen, manchmal ein knappes Nicken, manchmal ein langgezogenes „Mhm“. Mich erstaunt die seriöse Miene seiner Vorfahren, die größtenteils ehrenwerte Berufe ausübten, vom Konditor bis zum Zollbeamten. Nicht schlecht für jemanden, der aktuell gegen Geld die Autos älterer Damen durch die Waschstraße fährt. Doch auch Scheidungen häufen sich, und fast genauso oft taucht Ostfriesland bei den Geburtsregionen auf. Das könnte ein Hinweis auf seine verlangsamte Leitung sein. Wobei ich weiß, dass diese hobbypsychologische Analyse mich nicht mal für einen Experteneinspieler bei Frauke Ludowig qualifizieren würde.
David scrollt weiter, tiefer in seine Geschichte hinein, bis er plötzlich die Augen zusammenkneift und auf den Bildschirm zeigt. „Guck dir den Typen mal an: Zillo Zeisenvaart. Diese dichten, welligen Haare, in krassestem Walnussbraun. Und dieser Blick aus seinen geschminkten Augen, als würde er in dich eindringen.“
Ich gebe es ungerne zu, aber auch mich bannt diese Erscheinung sofort: Ein schiefer Zylinder aus maronenfarbenem Filz mit einer breiten Krempe, die sich wie ein Flügel zu den Seiten ausbreitet. Darauf sind getrocknete schwarze Lilien verteilt.
David deutet auf einen Link unter dem Bild. „Schau mal, es gibt einen Wikipedia-Artikel über ihn. Robert, ich bin der Sohn eines Promis!“
„David, halt die Klappe. Willst du die anderen mit so einer hirnrissigen Info wecken? Erstens kannst du nicht der Sohn eines im Jahr 1812 Geborenen sein, und zweitens passt ‚Scharlatan‘ wohl besser zu dieser Gestalt als ‚Promi‘. Was dann wiederum ganz ausgezeichnet mit dir kongruiert.“
„Kongru … was?“
„Schluss jetzt – ich warte schon lange genug“, sage ich und nehme seine Hand von der Maus.
„Schau dir noch den Wikipedia-Eintrag an, dann lass ich mir meinen Stammbaum anzeigen, und danach gehen wir ins Bett.“ Ich klicke auf den Link.
„Ein vor allem in der niederländischen Provinz Limburg bekannter Künstler des Symbolismus“, „Nachkommen mit einer Vielzahl von Frauen“, „Sein Geburtshaus in Maastricht ist heute ein Museum“. David beugt sich näher zum Monitor.
Nach etwa zwei Minuten atme ich genervt auf. „Fertig?“
„Neidisch, was? Dann lese ich halt morgen weiter“, murmelt David.
Ich schweige, lade Davids Stammbaum herunter und positioniere den Cursor im Suchfeld. Es soll jetzt endlich um mich gehen.
War es überheblich zu hoffen, dass meine Vorfahren etwas Spektakuläres hinterlassen hatten? Etwas, das mich emporheben könnte aus dem Staub und der Monotonie meines Alltags? Vielleicht ein Erfinder, ein Visionär, jemand, der Geschichte schrieb. Jemand, dessen Ideen mich inspirieren würden, oder wenigstens den Funken für ein eigenes Projekt entfachen könnten.
Das Fallbeil des Zeigefingers trifft die Maustaste: Das Tribunal über meine Vergangenheit beginnt. Ich halte den Atem an und lasse die Namen auf mich wirken. Um den Jahrhundertwechsel herum formiert sich in einer der väterlichen Linien eine Bierbrauer-Dynastie im Raum Aschaffenburg. Ich nicke wohlwollend: Die Haltung, Hopfen und Malz mit Hingabe zu behandeln, hat es bis in die Gegenwart geschafft, in mein Wochenend-Wertefundament.
Etwas weiter unten: Gottfried Taxing – Mitglied des bayerischen Landtags von 1862 bis 1866. Verantwortlich für die Einführung moderner Steuererhebungsmethoden in weiten Teilen Nordfrankens. „Ein echter Innovator“, kommentiere ich und belege David mit einem selbstgewissen Blick. Doch dann die Fußnote: Trat nach einem Skandal zurück, bei dem er eine steuerfinanzierte Kutsche, die für offizielle Anlässe bestimmt war, privat nutzte. Ich räuspere mich verlegen. „Leicht schizophren, der Kollege“, sagt David.
Ich gehe auch mütterlicherseits weiter zurück in der Geschichte. Interessanterweise führt mich die Spur ins heutige Saarland, dann ein Stück nach Norden, entlang des Rheins, der sich zwischen dem Hunsrück und dem Taunus schlängelt – eine malerische Weinregion. Namen wie Cochem und Boppard tauchen auf, anschließend erreichen wir die flachen Ebenen des Niederrheins, bevor wir in Aachen landen. Und dann – kracht der dritte Ast der achten Abzweigung des Stammbaums wie ein Sattelschlepper in mein Vorderhirn. Ich starre auf den Bildschirm, unfähig, die Bedeutung dieses Eintrags zu begreifen, innerlich sträubend, die Konturen dieser abstrus-sakralen Gestalt noch einmal nachzufahren. „Diese verdammten Algorithmen. Das muss ein Fehler sein.“
Mein Puls beschleunigt sich, als ich David anschaue, der mit den Fingern die Lehne des Klappstuhls fest umgreift und die Augen zusammenzwickt, als kämpfe er gegen einen Schmerz an, während er gleichzeitig die Mundwinkel schalkhaft nach oben zieht. Ich beuge mich vor und mustere jede Ecke, jede Biegung jedes einzelnen Buchstabens: Zillo Zeisenvaart.
Keine Wissenden oder Erhabenen strahlen aus meinem Stammbaum hervor, nein, stattdessen werde ich mit der abgründigen Realität konfrontiert, dass mein Schwiegersohn und ich über einen exzentrischen Lebemann des frühen 19. Jahrhunderts verbunden sein sollen. Wie bereits erwähnt, konnte dieser Vagabund seine Finger nicht bei sich behalten. Daher steht Zillo in meinem Stammbaum eine andere Frau zur Seite als in Davids.
Ich zwinge mich, tiefer durchzuatmen. Rational betrachtet ... acht Generationen. Mein Urgroßvater, dann dessen Vater, dann der davor – Generation für Generation, bis Zillo. Mehr als 200 Jahre. Der Gedanke ist wie eine Notbremse gegen die aufwallende Scham in meiner Brust. Die Spuren, die ein Mensch hinterlässt, verwischen mit der Zeit, werden verdünnt, bis sie im Nichts verschwinden. Rein genetisch hat Zillo mit David und mir so viel zu tun wie ein Tropfen Tinte mit einem Fluss.
David – wie sollte es anders sein – findet die vollendeten Tatsachen irgendwie abgefahren. „Robert, wir könnten ... oh Mann, wir könnten in Maastricht das Museum besuchen! Verstehst du? Unsere Familiengeschichte live erleben!“ Er springt von seinem Stuhl auf und beginnt, in meinem Arbeitszimmer hektisch auf und abzulaufen. „Das müssen wir feiern!“ „Feiern!?“, wiederhole ich. „Das bleibt gefälligst unser Geheimnis. Wir sollten die Stammbäume löschen, bevor sie jemand anderes sieht.“
„Hör zu, Robert“, sagt er plötzlich. „Wir können das nicht einfach unter den Teppich kehren. Und wer weiß, vielleicht finden wir in dem Museum etwas über Zillo heraus, das … keine Ahnung, das unsere Sicht auf ihn ändert, und auf … uns.“ Ich will protestieren, doch Davids Enthusiasmus hat etwas seltsam Ansteckendes. Neugier regt sich in mir, widerwillig, geh zurück. So widerwillig, dass ich uns erst mal die Therapie namens Schlaf verordne.
Die nächsten Tage: Geheimhaltung. Konspirative Treffen mit David. Und dann kam es doch, wie es kommen musste. Ich konnte ihn nicht aufhalten, und vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Schließlich ging es darum, mich auf Neues, Unerwartetes einzulassen. Genau das war doch das Ziel meiner biografischen Reise. Auch wenn sie nun eine unerwartete Wendung nahm.
Samstag, nach dem – aus Davids Sicht – Sensationsfund im Netz. Die anderen denken, wir wären auf dem Weg zu einem Mehrgenerationen-Musikfestival. Stattdessen steht Maastricht auf dem Plan – Zillos Museum. Ich fahre. Und bin ironischerweise in einem viel verträumteren Zustand als meine Begleitung. Der gedankliche Sprung vom Versicherungsfachmann zum pinselschwingenden Vagabunden wirft in mir immer noch Fragen auf. Wacker halte ich meinen Kopf über der Oberfläche des Sumpfs der Absurdität, in den wir mit jedem Kilometer tiefer sinken. Und David? Er sitzt mit einem verschmitzten Grinsen auf dem Beifahrersitz, als würde er gerade ein Praktikum als Geheimagent beginnen.
Wir passieren Wiesen, Felder und die märchenhaften Vennlandschaften. Wie in einem klassischen Käsewerbespot ziehen kleine, hübsche Dörfer mit altmodischen Bauern- und Fachwerkhäusern an uns vorbei. Sie weichen nach einiger Zeit einem urbanen Vorort mit modernen Gebäuden – wir nähern uns Maastricht. Unsere Route führt uns ins historische Viertel Wyck, das laut Reiseführer für seine engen, malerischen Gassen, für seine Boutiquen, Cafés und Galerien bekannt ist. Es strahlt eine kreative, bohemienhafte Atmosphäre aus. Klar, wo sollte König Zauselbart auch sonst gelebt haben?
Ein scharfes Geräusch auf den letzten Metern – David schnarcht. Also erblicke nur ich ein größeres Haus aus dunkelrotem Backstein, dessen Fassade von Jahrhunderten satter Maaswinde poliert scheint. Die hohen, schlanken Fenster reihen sich wie aufmerksame Augen aneinander, eingefasst von tiefgrünen Klappläden. Über der schweren Eichenholztür wölbt sich ein Schriftband: „Zeisenvaarthuis“. Ein Erker mit filigranem Schnitzwerk ragt keck über das Kopfsteinpflaster, als wolle er sich in die Gespräche der Passanten einmischen. Auf einem französischen Balkon im zweiten Stock stecken auf den äußeren Pfosten zwei Zylinder. Woher kenne ich diese schiefen Dinger bloß? Achja … mein Stammbaum.
Ich parke – und drehe Davids geschmackvolle Musik auf: „Blood and glitter. Sweet and bitter. We're so happy we could dieeeee.“ David schreckt auf. „Raus jetzt! Zillo wartet.“ Wir steigen aus, David gemächlicher als ich, gehen zur Eingangstür und klingeln. Eine Frau, die wie eine geistige Enkelin von Zillo wirkt, öffnet uns. Sie trägt eine knallorangene Bob-Perücke, eine übergroße, eckige Sonnenbrille und ein cremefarbenes, glänzendes Jacket. An ihrem Handgelenk hängen dicke Armreife in Form von Salamandern; der mondäne Duft, der sie umweht, verquickt New York mit Recklinghausen.
„Oh, herrlich, Besuch aus Deutschland! Das habe ich am Kennzeichen gesehen. Willkommen im Hause Zeisenvaart“, sagt sie mit einer Stimme, die mehr verspricht als reine Informationsübermittlung. Sie stellt sich als Hilda Zeisenvaart vor – eine Nachfahrin des legendären Zillo. Ihre Augen funkeln neugierig, während sie uns mustert. Sie packt ihre Hand auf Davids Schulter. „Na, wen haben wir denn da?“ David, in seiner typischen unbedachten Art, platzt sofort mit der Sprache heraus: „Ich bin auch ein Nachkomme von Zillo!“ „Du verwegener Schlingel, das kann ich mir gut vorstellen, bei deinem unbändigen Bart, deiner Schwertkette und den schwarzen Fingernägeln.“ Hilda lacht herrisch. „Ganz im Gegensatz zu deiner Begleitung.“ Sie tätschelt meine Backe. Frisch rasiert, denke ich, na und?
Hilda nimmt zwei Gästebücher von der Empfangstheke. „Eines ist für die normalen Gäste, das andere für Zillos Nachfahren. Ihr müsst wissen, er hat fast mehr Frauengeschichten hinterlassen als Kunst.“ Sie schnaubt vergnügt in den Raum. Das ist bereits zu uns durchgedrungen, denke ich, und rolle mit den Augen. Das Ahnen-Gästebuch hält sie David unter die Nase, das andere mir. „Nein, nein, wir müssen beide in diesem unterschreiben“, weist David hin. Herzlichen Dank, ab jetzt haben provokante Anspielungen freie Bahn.
Hilda mustert mich mit einem schiefen, stummen Lächeln, von den Haarspitzen bis zu den Zehen. „Sie sind auch einer von Zillos Enkeln?“ „Nun, nach 200 Jahren würde ich mich nicht mehr als Enkel bezeichnen.“ Sie legt wieder ihr schiefes Lächeln auf und reicht mir dann das Ahnen-Gästebuch, in das David kurz zuvor in schwungvollen Buchstaben seinen Namen und daneben eine Skizze eines Zylinders gekritzelt hat. Als ich meinen Namen neben seinen setze, erfasst mich ein Gefühl, als würde ich barfuß einen Schritt in frisches Gras tun, ohne zu wissen, worauf ich trete.
Hilda legt das Gästebuch zurück, führt uns in einen Raum mit frühen Werken von Zeisenvaart. Stramm positioniert sie sich vor uns und hebt resolut die Hand. „Hier sehen wir, wie alles begann.“ Sie referiert, wie Zillo sich von traditionellen Landschaften löste, sich von Lichteffekten faszinieren ließ und schließlich immer tiefer in dunklere, symbolträchtige Motive eintauchte. Vor uns hängt „Der Nachtsucher“ – eine verhüllte Gestalt, die mit einer Laterne in der Hand durch eine düstere Moorlandschaft schleicht. „Robert, er erinnert mich an dich, wenn du im Nachthemd die Toilettentür suchst“, flüstert David mir zu. Ich verpasse ihm einen eleganten Stoß in die Rippen.
Wir gehen zu einem Bild, das mich die Stirn runzeln lässt. Vor meinen Augen entfaltet sich ein opulentes Gelage: Ein langer Tisch, vollgestellt mit Wildbraten, halb geleerten Pokalen und verstreuten Trauben. Edelmänner mit trunkenen Gesichtern lümmeln in tiefen Sesseln, eine Dame mit entblößter Schulter wirft einem Geiger ein kokettes Lächeln zu. „Das ist keine Kunst, das ist eine Orgie mit Farbspritzern“, sage ich. Hilda lacht laut und schüttelt den Kopf. „Ach, mein Lieber, Kunst ist keine Frage der Kultiviertheit, sondern des Fühlens. Sie haben Schwierigkeiten, loszulassen – Ihnen fehlt das unsittliche Feuer!“ Ein sprachloses Staunen überkommt mich.
David kommentiert das Gemälde, als habe er kürzlich ein Seminar bei Anselm Kiefer besucht. „Schaut, dieser Pinselstrich – fast impressionistisch, oder? Und die Art, wie er mit Goldtönen Akzente setzt – das hat was von Gustav Klimt!“ „Hast du vorab gegoogelt, um jetzt brillieren zu können?“, frage ich. Hilda mischt sich ein – und weiß es wieder besser. „Zillo hatte eine eigene Art, Licht ins Dunkel zu bringen. Gustav Klimt erwähnt ihn in einem Zitat als Inspiration.“ Ich blicke verwundert von ihr zu David, er grinst stolz wie ein Pfau.
„Da hättest du auch drauf kommen können – einen Klimt hast du doch im Arbeitszimmer hängen, Robert“, sagt er. „Aber doch kein Original“, entgegne ich. „Ach? Ich wusste gar nicht, dass Ikea die Kopien künstlerisch erweitert. Scheinbar hatte ich vergessen, dass an deinem ‚Baum des Lebens‘ Köttbullar wachsen.“ Hilda prustet vor Begeisterung und trompetet mich an: „Ihr Schwiegersohn scheint Ihnen in Sachen Kunstkompetenz mächtig überlegen zu sein.“ Ich hebe irritiert die Brauen. Zum Glück sind wir die einzigen Gäste.
Wir schlendern weiter durch das Museum. Vitrinen zeigen alte Accessoires aus jener Zeit: ein kunstvoll gravierter Silberkamm, ein ledergebundener Schreibkalender mit akribisch geführten Notizen, ein filigran besticktes Halstuch, das einst Zillos Mutter gehörte. „Zillos Eltern waren höhere Beamte“, bemerkt Hilda beiläufig. Ich bekomme eine vage Vorstellung davon, wie diese Familie gelebt haben muss. Ob es wohl Kämpfe gab zwischen dem kleinen, schrägen Zillo und seinen Eltern?
Eines der Bilder zieht meine Aufmerksamkeit besonders auf sich: Zillo selbst, umgeben von sieben Kindern, die er mit einem liebevollen Blick betrachtet. In seinen Augen liegt eine tiefe Zuneigung – und eine unübersehbare Traurigkeit. „Zwei seiner Kinder haben es nicht geschafft. Sie sind an der Schwindsucht gestorben. Er wollte ihnen mit diesem Bild ein Denkmal setzen“, sagt Hilda leise. Aus seinem Tagebuch geht hervor, dass ihn die Einsamkeit – immer wieder als Sonderling abgestempelt – in zahlreiche Affären trieb. Mit seinen vielen Nachkommen blieb er, so gut es ging, in Kontakt, doch Frieden fand er nie. Unweigerlich muss ich an meine eigenen Kinder denken, die nicht mehr bei mir wohnen. Aber immerhin – sie leben.
„Und nun habe ich noch etwas ganz Besonderes für euch.“ Hilda senkt die Stimme. „Was ich euch jetzt zeige, ist exklusiv für Zillos Nachkommen zugänglich.“ Sie geleitet uns eine enge Treppe hinab in den Museumskeller. Unten betreten wir einen schmalen, spärlich beleuchteten Gang, dessen Decke mir fast den Kopf streift. Der Putz an den Wänden ist brüchig und stellenweise von Spinnennetzresten überzogen. Wir passieren eine massive, mit Eisen beschlagene Eichenholztür und steuern auf eine weitere zu.
„Und jetzt haltet den Atem an, meine Freunde“, sagt Hilda. Sie drückt die Klinke herunter, öffnet die Tür und betätigt einen Schalter. Vor uns entfaltet sich ein Raum, der an einen Ballsaal erinnert. Ein Kronleuchter taucht die Szenerie in warmes Licht, das sich auf bronzenen Streifen bricht, die die Wände säumen. Auf mehreren Ebenen hängen dutzende Bilder – unterschiedlich groß, mit vielfältigen Motiven und Farben.
Hilda lässt uns Zeit zu staunen, dann neigt sie den Kopf zu uns und flüstert mit feierlicher Bedeutungsschwere: „Jedes Bild stammt von einer anderen Hand, doch alle wurden von Nachkommen Zillos gemalt. Während seiner letzten Stunden – er litt an Typhus – verfasste Zillo ein Schreiben. Sollte ihm je ein Museum gewidmet sein, sollten seine Nachfahren darin die Möglichkeit erhalten, sich durch Kunst einander und sich selbst näherzukommen.“
Sie legt ihre Hände übereinander und presst sie an ihre Brust. „Sie sollten ihrem Kern begegnen, indem sie das malen, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist, was sie wahrhaft bewegt. Seit nunmehr 120 Jahren – so lange gibt es dieses Haus – folgen sie seiner Vision, gestalten ihre Werke im Nebenraum und stellen sie hier aus. Von vielen erhalte ich noch Jahre später Nachrichten, wie sehr das Malen des Bildes sie geprägt und geöffnet hat.“
Ich verschaffe mir einen Überblick. Neben den Bildern hängen kleine Schildchen mit den Namen der jeweiligen „Künstler“, dem Entstehungsjahr und dem Titel. Die ästhetische Raffinesse variiert erheblich – wenn ich dieses Urteil aus vollkommen unberufenem Munde sprechen darf. Ich nähere mich einem Exemplar namens „Fischerfreuden“: eine naiv gemalte Forelle mit überdimensionierten Augen und Kiemen, die sich in ungleichmäßigen, teils hügeligen Bögen über ihren Körper ziehen. „Hubert war Fischer auf Ameland, im Norden der Niederlande“, erklärt Hilda. „Er liebte die Einsamkeit, fuhr weit hinaus – und fand dort seinen Seelenfrieden.“
Ich gehe weiter. Auf manchen Bildern entdecke ich Musikinstrumente: eine Geige, eine Posaune. Andere zeigen Kirchen oder Ställe. Mich schauen viele Gesichter an – einzeln und in Gruppen. Kein Wunder. Was ist für uns so wesentlich wie die Verbindung zu anderen Menschen? Entsprechend lauten die Titel – „Deckungsgleich“ oder „Danke dir“, aber auch „Frage an dich“. Scheinbar trägt der Schöpfer dieses Werkes ein ungelöstes Anliegen in sich oder erhofft sich gar einen transzendenten Kontakt. Es ist, als würden Stimmen aus den Wänden dringen – ein geisterhaftes und zugleich berührendes Szenario. KRIEGSBILDER
David streckt den Arm nach mir aus, obwohl ich außerhalb seiner Reichweite stehe. Seine Wange zittert leicht. „Robert“, sagt er schüchtern und ungläubig, „hier steht der Name meines Vaters“. Er zeigt auf das Schildchen neben dem Bild vor ihm: „Klaus Rothkamp“. Ich trete näher. Das Gemälde bannt mich, es besteht aus zahllosen Farbflächen, die von einem satten Rot in ein Anthrazit und schließlich in ein tiefes Schwarz verlaufen, bis in der Mitte eine Art Supernova mit narzissengelbem Zentrum und fliederfarbenen Schleiern erscheint. „Wie zerronnen, so gewonnen“, wurde es getauft.
David schweigt und betrachtet das Bild. Anschließend wendet er sich Hilda zu: „Können Sie sich an den Mann erinnern, der das gemalt hat?“ „Ja, sehr gut sogar“, sagt Hilda. „Es ist zwar schon einige Jahre her, aber ich erinnere mich noch, dass er erzählte, kurz vor seinem Besuch Vater geworden zu sein. Es war sein erstes Kind, ein sehr spätes. Er litt an einer Krankheit, die seine Lunge stark belastete. Seine Stimme war rau, er röchelte mehr, als dass er sprach. Und dieser Mann pflegte auch noch seine schwerkranke Mutter. An all diesen Umständen zerbrach schließlich seine Fernbeziehung. Was für eine Geschichte.“
David nickt schwermütig. „Das hat meine Mutter immer nur aus ihrer Sicht erzählt – zu viel Streit, zu wenig Aufmerksamkeit für sie.“ Er schaut erneut auf das Bild, als wolle er es entschlüsseln. „Vielleicht hatten beide recht“, sage ich leise. Hilda legt für einen Moment tröstend ihre Hand auf Davids Schulter. „Kennen Sie auch eine Irmtraud und einen Paul Rothkamp?“, fragt David. Es waren seine Großeltern väterlicherseits, die im Ahnenstammbaum bereits als verstorben eingetragen waren. Hilda runzelt die Stirn. „Irmtraud, ja, so hieß glaube ich seine Mutter, aber ich habe sie nie kennengelernt. Einen Paul kenne ich nicht.“
In diesem Moment wird mir plötzlich bewusst, dass sich aus meiner eigenen näheren Verwandtschaft niemand verewigt hat. Meine Eltern leben noch, sie wohnen zwei Ortschaften weiter. Doch von Davids verwegenem Vorfahren, das heißt: unserem verwegenen Vorfahren, weiß meine Mutter, die ebenfalls mit Zillo verwandt ist, vermutlich nichts – woher auch? Sie hat nichts mit der hiesigen Region zu tun. Sie nutzt kein Internet. Und selbst wenn sie es wüsste – wahrscheinlich würde sie sich eher von Zillo fernhalten. Eigentlich schade, ich meine: diese Eindrücke, dieser Raum, ein wahres Panoptikum. Faszinierend, was Menschen alles als bedeutend erachten …
„Wenn ihr möchtet, könnt ihr nun auch ein Bild malen“, sagt Hilda. In ihrer Stimme liegt ein unüberhörbarer Nachdruck. Noch während die Worte verhallen, ist sie bereits in Bewegung, schreitet entschlossen zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke dreht sie sich noch einmal um, hebt die Augenbrauen. Uns ist klar: Wir müssen folgen. Durch den schmalen Flur gelangen wir zur mittleren Tür. Hilda lächelt mit einem Hauch von Verschwörung, drückt die Klinke hinunter und tritt zur Seite, um uns einzulassen.
Vor uns öffnet sich ein kleines, uriges Atelier. Der Raum ist durchzogen von einem sanften, gleichmäßigen Licht, das sich über die Gegenstände legt und sich mit dem erdigen Duft von Leinöl vermengt. Umrahmt von Regalen, in denen sich Skizzenbücher türmen, breitet sich auf einem langen Tisch ein geordnetes Chaos aus: Tontöpfe voller Pinsel, trübe Gläser, metallene Terpentindosen, eine Kiste mit Farbtuben und farbverschmierte Paletten. „Einige dieser Pinsel hat Zillo selbst schon benutzt“, sagt Hilda mit Stolz in der Stimme. Zwei handliche Staffeleien tragen unberührte Leinwände, die still und erwartungsvoll dem entgegenharren, was kommen mag.
Der Stuhl, auf den ich mich setzen soll, fällt mir sofort ins Auge. Er ist schlicht und beinahe bäuerlich gearbeitet. Auf der Rückenlehne prangt ein eingeschnitztes Motiv: ein Bündel wilder Blumen, deren Stängel und Blüten ungeordnet in alle Richtungen ausstreben – als sei nicht Präzision das Ziel gewesen, sondern die reine Freude an der Bewegung. Ich beuge mich hinunter und lasse die Finger über das eingekerbte Holz gleiten. „Setzt euch“, sagt Hilda, während sie einige Farbtuben auf dem Tisch zurechtrückt.
Hinter mir öffnet sich eine Schublade, es rumpelt leise. Dann das Kratzen eines Streichholzes, das Knistern kleiner Flammen, die sich gierig an Dochten festsetzen. „Nur im Schein der Kerzen, meinte Zillo, könne man die Wahrheit erkennen.“ So habe er oft gearbeitet. Bedächtig stellt sie die Stumpen im Raum auf, während sie uns die Ölmalerei näherbringt – und knipst anschließend das Licht aus.
Bevor sie hinausgeht, lehnt sie sich mit gespielter Dramatik gegen die Tür und greift nach dem Schlüsselbund an ihrer Jacke. „Zillo wollte außerdem, dass alle, die hier malen, ein halbes Jahr in diesem Verließ miteinander verbringen. Nur so könne wahre Verbindung entstehen. Und deshalb schließe ich euch jetzt ein!“ Beklemmung verdickt meine Kehle. David schluckt.
Hilda tritt aus dem Raum und dreht den Schlüssel langsam, bis er mit einem eindringlichen Klick in die Verriegelung fällt. Sekunden vergehen ... acht, neun. Dann dreht sich der Schlüssel erneut; Hilda steckt ihren Schädel herein und lacht ausgelassen. „Nur ein Spaß. Ich komme in einer Stunde zurück. Malt nun, was euch im Innersten berührt, und nur das!“ Mit einem fröhlichen Klirren ihrer Salamanderarmreife verschwindet sie. „Dieses durchgeknallte Huhn“, murmle ich.
David beginnt, seine Farben vorzubereiten. Ich jedoch blicke etwas verloren an mir herab, mustere meine Hände, den groben Stoff meiner Hose, den Stuhl unter mir. Mit den Fingerspitzen fahre ich über die Lehne. Ich überlege, lausche in mich hinein. Zögerlich greife ich nach einem breitborstigen Pinsel, tauche ihn in ein helles Braun und ziehe die erste Linie. Unsicher. Suchend. Ich schüttle den Kopf, stehe auf, drehe mich um und betrachte den Stuhl – den Schwung der Lehne, die Maserung des Holzes. Dann setze ich mich wieder und zeichne weiter, wage mich an die feineren Pinsel. Strich für Strich, Form für Form. Immer wieder drehe ich mich um, neige den Körper, um die Details zu erfassen.
David wirft mir skeptische Blicke zu, versucht mühsam ein Grinsen zu unterdrücken, während seine Augen aufmerksam meinen Möbelstück-Expeditionen folgen. Doch in seinem Ausdruck schwingt auch Respekt mit. Ich schaue manchmal zu ihm hinüber, zu seinem Bild. Wie er den Pinsel führt – sicher, fast tänzerisch, als folge er einer Melodie, die nur er hören kann. Seine Linien sind präzise, er scheint ein Gesicht zu malen. Ich beobachte, wie er Farben mischt, zögere einen Moment – und tue es ihm gleich. Ich bleibe ruhig, bei mir. Ich weiß, dass ich kein großer Künstler bin. Aber ich gebe mein Bestes, und das reicht. Als wir fast fertig sind, legt David seinen Pinsel beiseite und sieht mich fragend an: „Sag mal, warum malst du eigentlich diesen Stuhl?“
Ich blicke auf mein Bild, auf die einfachen, liebevollen Züge. „Weißt du“, sage ich, „so unbequem er auch ist – er erinnert mich an den Stuhl, auf dem ich als Kind gesessen habe. In meinem Zimmer im Haus meiner Eltern. Stundenlang habe ich im Atlas geblättert, bin durch bunte, ferne Länder gestolpert. In den Asterix-Comics habe ich mich unter die Römer gemischt, Cleopatra zu Füßen gelegen. In Panini-Alben habe ich die Bilder von Günther Netzer und anderen begnadeten Kickern eingeklebt und die Zahl ihrer Spieleinsätze auswendig gelernt. Diese unbefangene Entdeckungslust hatte ich damals. Und dieses Gefühl habe ich jetzt auch – vielleicht nicht in dieser Reinheit, aber…“
Ich halte inne, spüre, wie die Worte in mir nachklingen. David schweigt, doch aus seinem Blick spricht Verständnis. In diesem Moment kehrt Hilda mit mehreren Bilderrahmen unter dem Arm zurück. „Entschuldigen Sie, könnten wir noch fünf Minuten haben?“, frage ich. „Jaja, natürlich, nehmen Sie sich die Zeit“, antwortet sie. Ich lege meinen Pinsel nieder und drehe mich zu David. „Darf ich dein Bild sehen?“ Er nickt und schiebt es mir hinüber.
Und was soll ich sagen – ich sehe mir selbst ins Gesicht. Unvermittelt ringe ich damit, diesem Spiegel standzuhalten. Meine Blicke huschen zum flackernden Kerzenschein um uns, ehe sie zu meinem Abbild zurückkehren. Ich mustere meine Konturen, verfolge ein Spiel aus Licht und Schatten, das David mit beunruhigender Präzision eingefangen hat. Mein Ausdruck wirkt ruhig, fast gelöst. Wie vermag ein Mensch einen anderen so vollkommen zu lesen? Ich schwanke zwischen Scham und Rührung. Ach, und auf meinem Kopf – beinahe hätte ich es verschwiegen – sitzt Zillos Zylinder: maronenfarben, leicht geknickt, doch aufrecht genug, um Würde auszustrahlen. Und dazu: die charakteristischen schwarzen Lilien.
„Ich wollte nur sagen: Danke“, murmelt David, kaum hörbar. „Danke, dass du mich mitgenommen hast. Dass du da bist. Dass ich das erleben durfte. Zillo, die Botschaft meines Vaters, das Malen.“ Ein paar Sekunden lang bleibt alles still, als müsste auch die Luft um uns begreifen, was gerade passiert. Ich finde erst langsam Worte, oder versuche es zumindest. „David, ich bin wirklich be –“
Jemand knipst das Licht an… Hilda. Ihr Erscheinen durchschneidet die Stimmung wie ein Riss im Traum, durch den die Wirklichkeit hereinbricht. „Haben die beiden Herren nun ausreichend Kreativität aus Körper und Geist geholt?“, ruft sie mit gespielt strengem Ton und läuft in die Mitte des Raums. „Ich hätte hier einige Rahmen im Angebot.“ Sie legt die Auswahl auf den Tisch, drängt sich zwischen uns, beugt sich vor und betrachtet unsere Bilder. Bei meinem Stuhlbild verzieht sie das Gesicht; nach einem Moment folgt schließlich ein mildes Lächeln. „Na gut. Sie werden schon wissen, warum.“
Als ihr Blick auf Davids Bild fällt, verändert sich ihre Miene. Ihre Augen weiten sich, die Lippen formen ein lautloses Wow. „Weißt du eigentlich, dass du ein Naturtalent bist?“, sagt sie fast ehrfürchtig. „Du solltest dich an Kunstschulen bewerben.“ David sieht sie an, ungläubig. „Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen. Ich bin gut vernetzt“, fügt sie hinzu und zwinkert. David senkt den Blick, verlegen. „Meinen Sie das ernst?“ „Und wie“, sagt Hilda. „Zillo hätte den Zylinder vor dir gezogen“, bestätige ich. Davids Schultern heben sich – richten sich, ganz sacht, zum ersten Mal seit langer Zeit auf.
Hilda erklärt, dass unsere Schöpfungen nun ein paar Tage zum Trocknen brauchen und fragt uns, wo sie anschließend hängen sollen. „Hier drinnen. Neben dem Schrank. Dann schaut man direkt darauf beim Malen“, sage ich. „Na, ausnahmsweise gestatte ich Ihnen das“, sagt sie und reicht mir ein längliches Pappkärtchen und einen dünnen Filzstift. „Titel, bitte.“ Ich halte kurz inne, begutachte das Bild, spüre meinen Gedanken nach. Schließlich setze ich an: „Nicht nur Stuhl, auch Tür.“
David bittet uns, ihm in den Raum mit den Ahnenbildern zu folgen. Er geht ohne Zögern zu einer bestimmten Stelle und zeichnet mit dem Zeigefinger ein imaginäres Quadrat an die Wand – eine Unterarmlänge entfernt vom Bild seines Vaters. „Hier soll mein Bild hängen“, sagt er. „Heißen soll es ‚Querverbindungen‘ – quer komplett klein geschrieben, VERBINDUNGEN groß.“ Er drückt das ihm überreichte Stück Pappe an die Wand, schreibt den Titel darauf und gibt es Hilda zurück. Danach stehen wir einen Moment einfach nur da, andächtig, wir vor einem Grab. Fast unmerklich senkt David den Kopf – ein kaum wahrnehmbares Nicken, nicht für uns, sondern für sich. Schweigend gehen wir zurück in den Malraum. Ich wähle einen schmalen, schlichten Rahmen – dafür in Gold. David entscheidet sich für auberginegefärbtes Holz, etwas breiter, mit ornamentalen Schwüngen.
Beim Verlassen des Kellers knarren die Dielen unter unseren Schritten, als bewegten wir uns durch weichgewordene Zeit. Aus dem kühlen Gemäuer treten wir hinauf in den warmen Glanz des Nachmittags. David fährt sich durch den Bart, ich ziehe mir das Jackett glatt. „Das war sicher nicht das letzte Mal, dass wir hier waren“, sage ich. David blinzelt überrascht. „Ja?“ „Durchaus“, erwidere ich und halte seinem Blick stand. Hilda schließt David mit der Selbstverständlichkeit einer exzentrischen Patentante in die Arme. Mir streckt sie die Hand entgegen: ein fester Druck, trocken, ehrlich. „Es war mir eine gewaltige Freude mit euch“, sagt sie. „Ich glaube, ich kann euch guten Gewissens nach Deutschland zurückschicken.“
Sie öffnet uns die Tür, und sofort prasseln die Farben Maastrichts auf uns ein: die steinernen Gassen, flankiert von Fensterkästen voller leuchtender Petunien. Nach diesem intensiven Besuch tut es gut, bei einem kleinen Spaziergang den Kopf freizubekommen – etwas anderes zu sehen, andere Gedanken zuzulassen. Wir schlendern über den Bogen der Sint Servaasbrug ins Zentrum. Vorbei an Straßencafés, wo Gäste Limburgse Vlaai mit Kirschen unter zartem Teiggitter genießen. Am Ufer spiegeln sich bunte Boote sanft im ruhigen Maaswasser. Auf dem Vrijthof erklingen Jazzklänge und das Lachen von Straßenkünstlern vor der ehrwürdigen Kulisse von St.-Servatius-Basilika und Theater.
Zurück am Museum. Wir steigen ins Auto. David stellt die Rückenlehne nach hinten. Ich schalte den Blinker. Dann ist sie da: die Heimfahrt. Wenig später rollen wir über die Ausfallstraßen der Stadt, vorbei an Häusern, die wieder nüchterner werden. Maastricht weicht zurück, Zentimeter für Zentimeter. Die Landschaft öffnet sich. Felder, Alleen, Autobahnschilder. Ein paar Sonnenstrahlen zu viel für diese Stunde.
Wir fahren schweigend. Nicht dieses angespannte Schweigen, das nach Worten ruft, sondern ein warmes. Ich beobachte, wie die Schatten der Bäume sich über die Motorhaube legen, flackernd, rhythmisch, wie eine Morsebotschaft, die man nicht entschlüsseln muss. Kurz vor der Auffahrt zur Autobahn vibriert mein Handy in der Mittelablage. Ich werfe einen Blick hinunter. „Frau Dr. Neidhard“, zeigt das Display.
Ich nehme die Kurve etwas langsamer als nötig. Ein Gedanke blitzt auf – ich könnte sie einfach ignorieren, wegdrücken. Aber ich schüttle innerlich den Kopf und drehe mich – ganz real – zu David. „Nimm ruhig ab. Das geht schon klar.“ David wirft mir einen fragenden Blick zu. Einen kurzen Moment später nimmt er das Smartphone in die Hand und tippt auf Annehmen.
„N'abend, ich bin der Schwiegersohn von Robert Taxing, er kann grad nicht … Hände am Lenker.“ Eine dumpfe Stimme dringt durch das Gehäuse. Dann wieder David: „Ja, ja, sprechen Sie, er hat's mir erlaubt.“ Wieder eine Pause. „Ob ich eingeweiht bin?“ Ich merke, wie David stutzt und darüber nachdenkt, was sie meinen könnte und was eine schlaue Antwort darauf wäre. Er nimmt sein ganzes Stimmvolumen zusammen: „Ja, natürlich, natürlich, wir haben im Prinzip keine Geheimnisse voreinander.“ Die Anruferin spricht weiter, ruhig, professionell, was ich höre, fast zu normal für das, was es in mir auslöst.
David wendet sich mir zu. „Ähm … Sie hätte am Montag um 17 Uhr einen Termin frei und würde gerne wissen, ob du ihn wahrnehmen willst.“ Ich blinzle kurz in die Sonne. „Sag ihr … sag ihr, ich gebe ihr spätestens morgen Vormittag Bescheid.“ David nickt, murmelt es ins Handy und verabschiedet sich höflich. Er legt das Telefon zurück in die Ablage. Einige Sekunden liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft. Bis David sich traut: „Du willst … Therapie machen?“
Ich nicke. Und dann, nach einem Atemzug: „Ich hab mich zuletzt oft schlecht gefühlt. Nächtelang wachgelegen, als würde mein Kopf von einem Strom heimgesucht. Ich musste manchmal zwei-, dreimal nachts raus, bin in die Küche gegangen, um durch das Fenster in den Garten zu schauen, ob jemand dort sein Unwesen treibt, gar in unser Haus eindringt, aber gleichzeitig hab ich da Bilder gesehen von meinen Kindern früher, beim Schaukeln, ein ganz komisches Szenario.“ Ich lächle schief.
„Angela hab ich immer gesagt, ich muss auf die Toilette. Sie meint inzwischen, ich sollte mal zum Urologen. Aber eigentlich … wollte ich nur überprüfen, ob das Gefühl stimmt – dieses nagende Gefühl, dass vielleicht nichts mehr da ist. Oder dass doch etwas da ist. Irgendwie unheimlich, verwirrend, bedrückend.“ Ich atme langsam aus. „Irgendwann hab ich mich selbst in der Fensterspiegelung dabei beobachtet, wie ich einfach nur dastand, wie ein Sicherheitsdienst ohne Auftrag. Und dann hab ich mich gefragt: Wenn das keiner sieht – passiert es dann überhaupt? Schwer zu erklären. Jedenfalls wurde es mir zu viel, und ich dachte mir, ich wende mich mal an jemanden vom Fach.“
David schweigt, und ich kann es ihm nicht verdenken, nicht zu verstehen, was ich da gerade gesagt habe, denn mir fehlen selbst klare Beschreibungen und Gründe für das alles. Dann legt er eine Hand auf meinen Unterarm. Vorsichtig, aber ohne Zögern. Ich wehre mich nicht.
(Epilog – einige Tage später)
Samstagmorgen. Praller Sonnenschein ergießt sich durch das Fenster meines Arbeitszimmers und tupft helle Flecken auf den Boden. Die Luft duftet nach frisch gemähtem Gras. Vermutlich das Odeur des Nachbarrasens. Ich selbst war heute nicht in der Verfassung, mich der röhrenden Brutalität dieses Motors auszusetzen. Stattdessen habe ich innerlich zu einem Besen gegriffen, um in meinem Kopf etwas Ordnung zu schaffen – und sitze nun, still in mich gekehrt, vor Handy und Computer.
Immer wieder wandert mein Blick vom kleinen Bildschirm zum großen und wieder zurück, begleitet von gelegentlichem Tippen. Plötzlich höre ich Schritte auf der Treppe, ein leichtes Klopfen. „Robert?“ Es ist David. Er steckt den Kopf zur Tür herein. „Hast du noch Briefmarken?“ Ich drehe mich um. „Wofür brauchst du sie denn?“ Er tritt näher, einen dicken Umschlag in der Hand. „Ich habe eine Mappe zusammengestellt. Früher gemalte Sachen und ein paar neue Bilder. Hilda hat mir Kontakte von Kunstschulen geschickt. Sie schreibt sogar eine Empfehlung für mich.“
Er sieht mich an, ein wenig scheu, ein wenig stolz. Ich nicke anerkennend. „Das ist großartig, David. Wirklich.“ Mit einem Grinsen füge ich hinzu: „Ich hoffe, da sind nicht aus Versehen ein paar Werke von mir dazwischengeraten. Sonst nehmen sie dich höchstens in der Vorschule.“ Er lacht. „Nur zwei. Maximal.“ Ich zeige auf die kleine Schublade im Schreibtisch. „Da findest du die Marken.“ Er bedankt sich, kommt näher. Während er kramt, wandert sein Blick auf meinen Handybildschirm. „Was machst du da eigentlich? Was sind das für Namen?“
„Es sind die Namen aus dem Gästebuch im Zillo-Museum. Ich habe sie abfotografiert. Als ich das Buch in der Hand hielt, spürte ich ein seltsames, sanftes Ziehen in meinem Magen. Also habe ich, naja … die Seiten heimlich fotografiert, als du mit Hilda allein warst.“ Er stutzt einen Moment, seine Augen verengen sich leicht, ein flüchtiger Ausdruck von Überraschung. Dann nickt er langsam. „Und jetzt bist du neugierig, wer all die anderen sind. Unsere ‚Familie‘, wenn man so will. Ich verstehe das gut. In den letzten Tagen habe ich mich auch noch mal intensiver mit meinem Stammbaum beschäftigt, mir Namen, Gesichter und Biografien angeschaut. Zillo hat ja zunächst alles überstrahlt – dieser Ganove.“
Ich zögere kurz, dann füge ich hinzu: „Mehr noch – ich überlege, ob man ein jährliches Treffen organisieren könnte. Alle Nachfahren, die im Museum waren. Es wäre sicher inspirierend. Eine Gemeinschaft.“ David schweigt. Ich sehe, dass ihn der Gedanke berührt. Dann fällt sein Blick auf den Stuhl, auf dem ich sitze. „Moment mal, der … der sieht doch aus wie der im Museum, auf dem du gesessen hast.“
Ich streiche mit der Hand über die schlichte Lehne und lächle. „Er stammt aus meinen Kindertagen und sieht ihm verblüffend ähnlich. Ich habe ihn bei meinen Eltern vom Dachboden geholt. Ich sagte ihnen, ich nehme alles Brennholz, das ich kriegen kann. Die Sachen stehen ja sonst nur rum.“ Ich schweige einen Moment. „Aber von Zeisenvaart habe ich ihnen nicht erzählt. Noch nicht. Vielleicht aus Angst, es würde ihr Bild von mir verändern. Oder sie würden sich unbehaglich fühlen. Weißt du … sie sind schon alt.“
David nickt. Er sieht wieder auf das Display. „Und – was hast du jetzt konkret vor?“ Ich lehne mich zurück. „Erst mal will ich einige Namen recherchieren. Geschichten entdecken. Vielleicht einfach Briefe schreiben.“ Dann sehe ich ihn an. „Vielleicht könntest du irgendwann die Einladungskarten gestalten, Motive malen. Du kannst sowas doch hervorragend.“ „Oh … echt? Klar, gern.“ Seine Augen leuchten.
„Und – wie läuft es mit deiner Therapie?“, fragt er behutsam. Ich atme tief durch. „Ich habe noch nicht entschieden. Vielleicht löst sich gerade schon etwas. Vielleicht brauche ich noch ein bisschen Zeit, um alles richtig einzuschätzen. So etwas beginnt man nicht leichtfertig.“ Er legt seine Hand auf meine Schulter. „Übrigens: Ich möchte jetzt runtergehen, den anderen die Geschichte erzählen. Und ich würde dich gerne dabeihaben“, sagt er. „Die wundern sich sowieso schon, warum wir plötzlich so häufig miteinander abhängen.“
Ich bleibe noch einen Moment sitzen, blicke auf den Bildschirm, sehe nur Licht. Draußen streicht der Wind unaufdringlich durch die Baumkronen. Schließlich stehe ich auf. David klopft mir kurz auf den Rücken; eine Bewegung, die einiges trägt. Gemeinsam gehen wir zur Tür hinaus, die knarzenden Stufen hinunter. Ich versuche, leise zu treten; wenn das Herz schneller schlägt, versucht der Mensch instinktiv, alles Akustische zu dämpfen, als könne das auch das Innere beruhigen.
Unten drückt David die Klinke. Die Tür geht auf. Dahinter: Karaffen, Gläser, Gesichter, noch unbeschrieben wie ein begonnener Tag. Für einen Moment bleibe ich stehen. David dreht sich zu mir um, seine Augen blitzen – halb frech, halb feierlich. Er tritt durch die Tür. Ich atme ein, dann trete ich ihm nach, und verlasse mit dem nächsten Schritt seinen Schatten.
ENDE
Vorhin – meine Augenlider waren schon fast zugefallen – ertönte im nächtlichen Werbefernsehen, zwischen Grizzlybären, die auf Matratzen hüpften, um deren Festigkeit zu belegen, und Küchengeräten, die nicht nur Lebensmittel in Scheiben schnitten, eine sanft-sonore Männerstimme: „Finden Sie mit uns heraus, wer Ihre Vorfahren sind.“ Begleitet von sprudelnden Klavierklängen wuchs im Bild ein kunstvoll geschwungener Stammbaum, an dessen Ästen die Porträts und Namen von Personen aus verschiedenen Jahrhunderten erschienen.
Der Gedanke, die Geschichte meiner Familie zu ergründen, faszinierte mich sofort. Dahinter stand weniger das Interesse an Fakten als vielmehr der Wunsch nach Inspiration. Vielleicht könnten mir die Biografien und Talente meiner Ahnen eine Richtung weisen, in die es sich zu entwickeln lohnte. Vielleicht könnte ich so die Leere füllen, die ich neuerdings empfinde und deren Ursprung ich nicht genau bestimmen kann.
Kommt sie durch meinen Job? Seit mehr als einem Vierteljahrhundert umgeben mich Akten, die das Leben anderer auf Zahlen reduzieren. Ich führe ständig die gleichen Gespräche über ähnliche Versicherungsprodukte, mit wiederkehrenden Verkaufsargumenten, und trage dabei stets faltenfreie Seidenstickerhemden über meiner Hühnerbrust. Nur die Unfallstatistiken, die ich meinen Kunden mit sorgenvoller Miene präsentiere, tausche ich alle drei Jahre aus.
Hat mich der Auszug meiner Kinder verstimmt? Sie sind gleichzeitig gegangen, und ich spüre deutlich, wie sehr sie für mich ein wohliges Hintergrundrauschen – oder besser gesagt: Vordergrundrauschen – waren. Ihr Lachen, ihre Schritte im Flur, die Gewissheit, regelmäßig um Rat gefragt zu werden. Hinzu kommen sehnsuchtsvolle Erinnerungen an meine Jugend, die immer häufiger aufblitzen: die erste Nachtwanderung mit Freunden auf den Brocken, die wochenlange Wiederbelebung des alten BMW R65 und meine Imitationen des jungen King of Rock’n’Roll beim Elvis-Festival in Bad Nauheim, die zumindest ich selbst für legendär halte.
Es klopft an der Tür. Etwas zu laut und zu unerwartet für diese Uhrzeit. Ich zucke zusammen. David, mein Schwiegersohn, steckt den Kopf herein. Er und meine Tochter übernachten für ein paar Tage bei uns, da ihre Wohnung einen Wasserrohrbruch erlitten hat.
„Weißt du, wo meine Zahnbürste ist?“
Bei dieser akustischen Störung bleibt es nicht. Sein Blick wandert zu meinem Computer, er schleicht in meine Gefilde. Ich mag es nicht, wenn Menschen mit einem bestimmten Anliegen auf mich zukommen, nur um dann ihrer plötzlichen Neugier auf etwas ganz anderes freien Lauf zu lassen, besonders wenn sie dabei die Privatsphäre verletzen.
Ich setze mich aufrecht, um den Monitor zu verdecken, doch David improvisiert, wechselt geschmeidig den Einfallswinkel, dreht einen Bogen um mich. Durch seine ungebührliche Annäherung kann ich seinen Atem wahrnehmen – die Frage nach der Zahnbürste war zweifellos berechtigt. Daneben fällt mir sein schmuddeliges Pyjama-Oberteil ins Auge, das wie eine verwitterte Landkarte seiner ungehörigsten Träume anmutet.
„Wenn du deine Bürste nicht findest, nimm dir eine aus der Dreierpackung, die wir gestern gekauft haben. Sie liegt in der rechten Schublade im Badschrank. Nimm am besten die mit den Schimpansenköpfen am Griff, dann weiß ich Bescheid“, erwidere ich, in der Hoffnung, er würde den Raum nun verlassen.
David reagiert nicht. Er scheint magisch angezogen von dem, was er auf dem Screen sieht. Schließlich schießt es in einem clownesken Tonfall aus ihm heraus: „Ahnenforschung!?“
Ich gebe mich trotz meines inneren Brodelns geschlagen, wohlwissend, er hätte mich mit anrüchigeren Internetseiten ertappen können. „Glückwunsch, richtig gelesen. Wieso fragst du?“
David starrt immer noch ungläubig auf die Seite, als hätte er eine neue skurrile Tierart entdeckt. Schließlich tapert er in eine Ecke des Raums, zieht hinter dem Schrank einen Campingstuhl hervor, kehrt zurück, klappt ihn auf und setzt sich Schenkel an Schenkel neben mich. Er wendet sich zu mir, seine Augen weiten sich, seine Stirn legt sich in Sorgenfalten, als wolle er ein Geständnis ablegen, ein Geständnis von der Schwere dieser fortgeschrittenen Stunde.
„Robert“, sagt er in einem ungewohnt nachdenklichen Ton, „ich habe meine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt. Mein Vater war schon sehr alt, als ich geboren wurde, und starb, als ich fünf war. Er hatte durch die Arbeit in der Zeche eine verstaubte Lunge.“
Ich halte inne, beschließe, keine weiteren Erläuterungen einzufordern.
„Warte“, sage ich mitfühlend, ohne meine Strenge vollständig abzulegen.
Ich klicke auf den PayPal-Button, um die Stammbaum-Funktion freizuschalten, und drehe David den Bildschirm zu. Sein Züge erweichen.
Er tippt seinen Namen sowie Geburtsdatum und -ort ein und klickt auf: „Ahnenbaum erstellen“. Davids Familiengeschichte entfaltet sich Ast um Ast. Ich gewähre David Zeit, sich zurechtzufinden. Seine Pupillen flackern von Name zu Name. Am Rand des Stammbaums steht, dass die Daten etwa aus Kirchenbüchern, Standesamtsregistern, Steuerlisten und privaten Archiven stammten. Bei einigen Vorfahren werden lediglich Vorname, Nachname, Geburts- und Sterbedaten angezeigt, bei anderen zusätzlich Heiratsdaten, Berufe, Wohnorte – und sogar Bilder.
Davids Blick bleibt nur bei wenigen Ahnen länger hängen, manchmal ein knappes Nicken, manchmal ein langgezogenes „Mhm“. Mich erstaunt die seriöse Miene seiner Vorfahren, die größtenteils ehrenwerte Berufe ausübten, vom Konditor bis zum Zollbeamten. Nicht schlecht für jemanden, der aktuell gegen Geld die Autos älterer Damen durch die Waschstraße fährt. Doch auch Scheidungen häufen sich, und fast genauso oft taucht Ostfriesland bei den Geburtsregionen auf. Das könnte ein Hinweis auf seine verlangsamte Leitung sein. Wobei ich weiß, dass diese hobbypsychologische Analyse mich nicht mal für einen Experteneinspieler bei Frauke Ludowig qualifizieren würde.
David scrollt weiter, tiefer in seine Geschichte hinein, bis er plötzlich die Augen zusammenkneift und auf den Bildschirm zeigt. „Guck dir den Typen mal an: Zillo Zeisenvaart. Diese dichten, welligen Haare, in krassestem Walnussbraun. Und dieser Blick aus seinen geschminkten Augen, als würde er in dich eindringen.“
Ich gebe es ungerne zu, aber auch mich bannt diese Erscheinung sofort: Ein schiefer Zylinder aus maronenfarbenem Filz mit einer breiten Krempe, die sich wie ein Flügel zu den Seiten ausbreitet. Darauf sind getrocknete schwarze Lilien verteilt.
David deutet auf einen Link unter dem Bild. „Schau mal, es gibt einen Wikipedia-Artikel über ihn. Robert, ich bin der Sohn eines Promis!“
„David, halt die Klappe. Willst du die anderen mit so einer hirnrissigen Info wecken? Erstens kannst du nicht der Sohn eines im Jahr 1812 Geborenen sein, und zweitens passt ‚Scharlatan‘ wohl besser zu dieser Gestalt als ‚Promi‘. Was dann wiederum ganz ausgezeichnet mit dir kongruiert.“
„Kongru … was?“
„Schluss jetzt – ich warte schon lange genug“, sage ich und nehme seine Hand von der Maus.
„Schau dir noch den Wikipedia-Eintrag an, dann lass ich mir meinen Stammbaum anzeigen, und danach gehen wir ins Bett.“ Ich klicke auf den Link.
„Ein vor allem in der niederländischen Provinz Limburg bekannter Künstler des Symbolismus“, „Nachkommen mit einer Vielzahl von Frauen“, „Sein Geburtshaus in Maastricht ist heute ein Museum“. David beugt sich näher zum Monitor.
Nach etwa zwei Minuten atme ich genervt auf. „Fertig?“
„Neidisch, was? Dann lese ich halt morgen weiter“, murmelt David.
Ich schweige, lade Davids Stammbaum herunter und positioniere den Cursor im Suchfeld. Es soll jetzt endlich um mich gehen.
War es überheblich zu hoffen, dass meine Vorfahren etwas Spektakuläres hinterlassen hatten? Etwas, das mich emporheben könnte aus dem Staub und der Monotonie meines Alltags? Vielleicht ein Erfinder, ein Visionär, jemand, der Geschichte schrieb. Jemand, dessen Ideen mich inspirieren würden, oder wenigstens den Funken für ein eigenes Projekt entfachen könnten.
Das Fallbeil des Zeigefingers trifft die Maustaste: Das Tribunal über meine Vergangenheit beginnt. Ich halte den Atem an und lasse die Namen auf mich wirken. Um den Jahrhundertwechsel herum formiert sich in einer der väterlichen Linien eine Bierbrauer-Dynastie im Raum Aschaffenburg. Ich nicke wohlwollend: Die Haltung, Hopfen und Malz mit Hingabe zu behandeln, hat es bis in die Gegenwart geschafft, in mein Wochenend-Wertefundament.
Etwas weiter unten: Gottfried Taxing – Mitglied des bayerischen Landtags von 1862 bis 1866. Verantwortlich für die Einführung moderner Steuererhebungsmethoden in weiten Teilen Nordfrankens. „Ein echter Innovator“, kommentiere ich und belege David mit einem selbstgewissen Blick. Doch dann die Fußnote: Trat nach einem Skandal zurück, bei dem er eine steuerfinanzierte Kutsche, die für offizielle Anlässe bestimmt war, privat nutzte. Ich räuspere mich verlegen. „Leicht schizophren, der Kollege“, sagt David.
Ich gehe auch mütterlicherseits weiter zurück in der Geschichte. Interessanterweise führt mich die Spur ins heutige Saarland, dann ein Stück nach Norden, entlang des Rheins, der sich zwischen dem Hunsrück und dem Taunus schlängelt – eine malerische Weinregion. Namen wie Cochem und Boppard tauchen auf, anschließend erreichen wir die flachen Ebenen des Niederrheins, bevor wir in Aachen landen. Und dann – kracht der dritte Ast der achten Abzweigung des Stammbaums wie ein Sattelschlepper in mein Vorderhirn. Ich starre auf den Bildschirm, unfähig, die Bedeutung dieses Eintrags zu begreifen, innerlich sträubend, die Konturen dieser abstrus-sakralen Gestalt noch einmal nachzufahren. „Diese verdammten Algorithmen. Das muss ein Fehler sein.“
Mein Puls beschleunigt sich, als ich David anschaue, der mit den Fingern die Lehne des Klappstuhls fest umgreift und die Augen zusammenzwickt, als kämpfe er gegen einen Schmerz an, während er gleichzeitig die Mundwinkel schalkhaft nach oben zieht. Ich beuge mich vor und mustere jede Ecke, jede Biegung jedes einzelnen Buchstabens: Zillo Zeisenvaart.
Keine Wissenden oder Erhabenen strahlen aus meinem Stammbaum hervor, nein, stattdessen werde ich mit der abgründigen Realität konfrontiert, dass mein Schwiegersohn und ich über einen exzentrischen Lebemann des frühen 19. Jahrhunderts verbunden sein sollen. Wie bereits erwähnt, konnte dieser Vagabund seine Finger nicht bei sich behalten. Daher steht Zillo in meinem Stammbaum eine andere Frau zur Seite als in Davids.
Ich zwinge mich, tiefer durchzuatmen. Rational betrachtet ... acht Generationen. Mein Urgroßvater, dann dessen Vater, dann der davor – Generation für Generation, bis Zillo. Mehr als 200 Jahre. Der Gedanke ist wie eine Notbremse gegen die aufwallende Scham in meiner Brust. Die Spuren, die ein Mensch hinterlässt, verwischen mit der Zeit, werden verdünnt, bis sie im Nichts verschwinden. Rein genetisch hat Zillo mit David und mir so viel zu tun wie ein Tropfen Tinte mit einem Fluss.
David – wie sollte es anders sein – findet die vollendeten Tatsachen irgendwie abgefahren. „Robert, wir könnten ... oh Mann, wir könnten in Maastricht das Museum besuchen! Verstehst du? Unsere Familiengeschichte live erleben!“ Er springt von seinem Stuhl auf und beginnt, in meinem Arbeitszimmer hektisch auf und abzulaufen. „Das müssen wir feiern!“ „Feiern!?“, wiederhole ich. „Das bleibt gefälligst unser Geheimnis. Wir sollten die Stammbäume löschen, bevor sie jemand anderes sieht.“
„Hör zu, Robert“, sagt er plötzlich. „Wir können das nicht einfach unter den Teppich kehren. Und wer weiß, vielleicht finden wir in dem Museum etwas über Zillo heraus, das … keine Ahnung, das unsere Sicht auf ihn ändert, und auf … uns.“ Ich will protestieren, doch Davids Enthusiasmus hat etwas seltsam Ansteckendes. Neugier regt sich in mir, widerwillig, geh zurück. So widerwillig, dass ich uns erst mal die Therapie namens Schlaf verordne.
Die nächsten Tage: Geheimhaltung. Konspirative Treffen mit David. Und dann kam es doch, wie es kommen musste. Ich konnte ihn nicht aufhalten, und vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Schließlich ging es darum, mich auf Neues, Unerwartetes einzulassen. Genau das war doch das Ziel meiner biografischen Reise. Auch wenn sie nun eine unerwartete Wendung nahm.
Samstag, nach dem – aus Davids Sicht – Sensationsfund im Netz. Die anderen denken, wir wären auf dem Weg zu einem Mehrgenerationen-Musikfestival. Stattdessen steht Maastricht auf dem Plan – Zillos Museum. Ich fahre. Und bin ironischerweise in einem viel verträumteren Zustand als meine Begleitung. Der gedankliche Sprung vom Versicherungsfachmann zum pinselschwingenden Vagabunden wirft in mir immer noch Fragen auf. Wacker halte ich meinen Kopf über der Oberfläche des Sumpfs der Absurdität, in den wir mit jedem Kilometer tiefer sinken. Und David? Er sitzt mit einem verschmitzten Grinsen auf dem Beifahrersitz, als würde er gerade ein Praktikum als Geheimagent beginnen.
Wir passieren Wiesen, Felder und die märchenhaften Vennlandschaften. Wie in einem klassischen Käsewerbespot ziehen kleine, hübsche Dörfer mit altmodischen Bauern- und Fachwerkhäusern an uns vorbei. Sie weichen nach einiger Zeit einem urbanen Vorort mit modernen Gebäuden – wir nähern uns Maastricht. Unsere Route führt uns ins historische Viertel Wyck, das laut Reiseführer für seine engen, malerischen Gassen, für seine Boutiquen, Cafés und Galerien bekannt ist. Es strahlt eine kreative, bohemienhafte Atmosphäre aus. Klar, wo sollte König Zauselbart auch sonst gelebt haben?
Ein scharfes Geräusch auf den letzten Metern – David schnarcht. Also erblicke nur ich ein größeres Haus aus dunkelrotem Backstein, dessen Fassade von Jahrhunderten satter Maaswinde poliert scheint. Die hohen, schlanken Fenster reihen sich wie aufmerksame Augen aneinander, eingefasst von tiefgrünen Klappläden. Über der schweren Eichenholztür wölbt sich ein Schriftband: „Zeisenvaarthuis“. Ein Erker mit filigranem Schnitzwerk ragt keck über das Kopfsteinpflaster, als wolle er sich in die Gespräche der Passanten einmischen. Auf einem französischen Balkon im zweiten Stock stecken auf den äußeren Pfosten zwei Zylinder. Woher kenne ich diese schiefen Dinger bloß? Achja … mein Stammbaum.
Ich parke – und drehe Davids geschmackvolle Musik auf: „Blood and glitter. Sweet and bitter. We're so happy we could dieeeee.“ David schreckt auf. „Raus jetzt! Zillo wartet.“ Wir steigen aus, David gemächlicher als ich, gehen zur Eingangstür und klingeln. Eine Frau, die wie eine geistige Enkelin von Zillo wirkt, öffnet uns. Sie trägt eine knallorangene Bob-Perücke, eine übergroße, eckige Sonnenbrille und ein cremefarbenes, glänzendes Jacket. An ihrem Handgelenk hängen dicke Armreife in Form von Salamandern; der mondäne Duft, der sie umweht, verquickt New York mit Recklinghausen.
„Oh, herrlich, Besuch aus Deutschland! Das habe ich am Kennzeichen gesehen. Willkommen im Hause Zeisenvaart“, sagt sie mit einer Stimme, die mehr verspricht als reine Informationsübermittlung. Sie stellt sich als Hilda Zeisenvaart vor – eine Nachfahrin des legendären Zillo. Ihre Augen funkeln neugierig, während sie uns mustert. Sie packt ihre Hand auf Davids Schulter. „Na, wen haben wir denn da?“ David, in seiner typischen unbedachten Art, platzt sofort mit der Sprache heraus: „Ich bin auch ein Nachkomme von Zillo!“ „Du verwegener Schlingel, das kann ich mir gut vorstellen, bei deinem unbändigen Bart, deiner Schwertkette und den schwarzen Fingernägeln.“ Hilda lacht herrisch. „Ganz im Gegensatz zu deiner Begleitung.“ Sie tätschelt meine Backe. Frisch rasiert, denke ich, na und?
Hilda nimmt zwei Gästebücher von der Empfangstheke. „Eines ist für die normalen Gäste, das andere für Zillos Nachfahren. Ihr müsst wissen, er hat fast mehr Frauengeschichten hinterlassen als Kunst.“ Sie schnaubt vergnügt in den Raum. Das ist bereits zu uns durchgedrungen, denke ich, und rolle mit den Augen. Das Ahnen-Gästebuch hält sie David unter die Nase, das andere mir. „Nein, nein, wir müssen beide in diesem unterschreiben“, weist David hin. Herzlichen Dank, ab jetzt haben provokante Anspielungen freie Bahn.
Hilda mustert mich mit einem schiefen, stummen Lächeln, von den Haarspitzen bis zu den Zehen. „Sie sind auch einer von Zillos Enkeln?“ „Nun, nach 200 Jahren würde ich mich nicht mehr als Enkel bezeichnen.“ Sie legt wieder ihr schiefes Lächeln auf und reicht mir dann das Ahnen-Gästebuch, in das David kurz zuvor in schwungvollen Buchstaben seinen Namen und daneben eine Skizze eines Zylinders gekritzelt hat. Als ich meinen Namen neben seinen setze, erfasst mich ein Gefühl, als würde ich barfuß einen Schritt in frisches Gras tun, ohne zu wissen, worauf ich trete.
Hilda legt das Gästebuch zurück, führt uns in einen Raum mit frühen Werken von Zeisenvaart. Stramm positioniert sie sich vor uns und hebt resolut die Hand. „Hier sehen wir, wie alles begann.“ Sie referiert, wie Zillo sich von traditionellen Landschaften löste, sich von Lichteffekten faszinieren ließ und schließlich immer tiefer in dunklere, symbolträchtige Motive eintauchte. Vor uns hängt „Der Nachtsucher“ – eine verhüllte Gestalt, die mit einer Laterne in der Hand durch eine düstere Moorlandschaft schleicht. „Robert, er erinnert mich an dich, wenn du im Nachthemd die Toilettentür suchst“, flüstert David mir zu. Ich verpasse ihm einen eleganten Stoß in die Rippen.
Wir gehen zu einem Bild, das mich die Stirn runzeln lässt. Vor meinen Augen entfaltet sich ein opulentes Gelage: Ein langer Tisch, vollgestellt mit Wildbraten, halb geleerten Pokalen und verstreuten Trauben. Edelmänner mit trunkenen Gesichtern lümmeln in tiefen Sesseln, eine Dame mit entblößter Schulter wirft einem Geiger ein kokettes Lächeln zu. „Das ist keine Kunst, das ist eine Orgie mit Farbspritzern“, sage ich. Hilda lacht laut und schüttelt den Kopf. „Ach, mein Lieber, Kunst ist keine Frage der Kultiviertheit, sondern des Fühlens. Sie haben Schwierigkeiten, loszulassen – Ihnen fehlt das unsittliche Feuer!“ Ein sprachloses Staunen überkommt mich.
David kommentiert das Gemälde, als habe er kürzlich ein Seminar bei Anselm Kiefer besucht. „Schaut, dieser Pinselstrich – fast impressionistisch, oder? Und die Art, wie er mit Goldtönen Akzente setzt – das hat was von Gustav Klimt!“ „Hast du vorab gegoogelt, um jetzt brillieren zu können?“, frage ich. Hilda mischt sich ein – und weiß es wieder besser. „Zillo hatte eine eigene Art, Licht ins Dunkel zu bringen. Gustav Klimt erwähnt ihn in einem Zitat als Inspiration.“ Ich blicke verwundert von ihr zu David, er grinst stolz wie ein Pfau.
„Da hättest du auch drauf kommen können – einen Klimt hast du doch im Arbeitszimmer hängen, Robert“, sagt er. „Aber doch kein Original“, entgegne ich. „Ach? Ich wusste gar nicht, dass Ikea die Kopien künstlerisch erweitert. Scheinbar hatte ich vergessen, dass an deinem ‚Baum des Lebens‘ Köttbullar wachsen.“ Hilda prustet vor Begeisterung und trompetet mich an: „Ihr Schwiegersohn scheint Ihnen in Sachen Kunstkompetenz mächtig überlegen zu sein.“ Ich hebe irritiert die Brauen. Zum Glück sind wir die einzigen Gäste.
Wir schlendern weiter durch das Museum. Vitrinen zeigen alte Accessoires aus jener Zeit: ein kunstvoll gravierter Silberkamm, ein ledergebundener Schreibkalender mit akribisch geführten Notizen, ein filigran besticktes Halstuch, das einst Zillos Mutter gehörte. „Zillos Eltern waren höhere Beamte“, bemerkt Hilda beiläufig. Ich bekomme eine vage Vorstellung davon, wie diese Familie gelebt haben muss. Ob es wohl Kämpfe gab zwischen dem kleinen, schrägen Zillo und seinen Eltern?
Eines der Bilder zieht meine Aufmerksamkeit besonders auf sich: Zillo selbst, umgeben von sieben Kindern, die er mit einem liebevollen Blick betrachtet. In seinen Augen liegt eine tiefe Zuneigung – und eine unübersehbare Traurigkeit. „Zwei seiner Kinder haben es nicht geschafft. Sie sind an der Schwindsucht gestorben. Er wollte ihnen mit diesem Bild ein Denkmal setzen“, sagt Hilda leise. Aus seinem Tagebuch geht hervor, dass ihn die Einsamkeit – immer wieder als Sonderling abgestempelt – in zahlreiche Affären trieb. Mit seinen vielen Nachkommen blieb er, so gut es ging, in Kontakt, doch Frieden fand er nie. Unweigerlich muss ich an meine eigenen Kinder denken, die nicht mehr bei mir wohnen. Aber immerhin – sie leben.
„Und nun habe ich noch etwas ganz Besonderes für euch.“ Hilda senkt die Stimme. „Was ich euch jetzt zeige, ist exklusiv für Zillos Nachkommen zugänglich.“ Sie geleitet uns eine enge Treppe hinab in den Museumskeller. Unten betreten wir einen schmalen, spärlich beleuchteten Gang, dessen Decke mir fast den Kopf streift. Der Putz an den Wänden ist brüchig und stellenweise von Spinnennetzresten überzogen. Wir passieren eine massive, mit Eisen beschlagene Eichenholztür und steuern auf eine weitere zu.
„Und jetzt haltet den Atem an, meine Freunde“, sagt Hilda. Sie drückt die Klinke herunter, öffnet die Tür und betätigt einen Schalter. Vor uns entfaltet sich ein Raum, der an einen Ballsaal erinnert. Ein Kronleuchter taucht die Szenerie in warmes Licht, das sich auf bronzenen Streifen bricht, die die Wände säumen. Auf mehreren Ebenen hängen dutzende Bilder – unterschiedlich groß, mit vielfältigen Motiven und Farben.
Hilda lässt uns Zeit zu staunen, dann neigt sie den Kopf zu uns und flüstert mit feierlicher Bedeutungsschwere: „Jedes Bild stammt von einer anderen Hand, doch alle wurden von Nachkommen Zillos gemalt. Während seiner letzten Stunden – er litt an Typhus – verfasste Zillo ein Schreiben. Sollte ihm je ein Museum gewidmet sein, sollten seine Nachfahren darin die Möglichkeit erhalten, sich durch Kunst einander und sich selbst näherzukommen.“
Sie legt ihre Hände übereinander und presst sie an ihre Brust. „Sie sollten ihrem Kern begegnen, indem sie das malen, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist, was sie wahrhaft bewegt. Seit nunmehr 120 Jahren – so lange gibt es dieses Haus – folgen sie seiner Vision, gestalten ihre Werke im Nebenraum und stellen sie hier aus. Von vielen erhalte ich noch Jahre später Nachrichten, wie sehr das Malen des Bildes sie geprägt und geöffnet hat.“
Ich verschaffe mir einen Überblick. Neben den Bildern hängen kleine Schildchen mit den Namen der jeweiligen „Künstler“, dem Entstehungsjahr und dem Titel. Die ästhetische Raffinesse variiert erheblich – wenn ich dieses Urteil aus vollkommen unberufenem Munde sprechen darf. Ich nähere mich einem Exemplar namens „Fischerfreuden“: eine naiv gemalte Forelle mit überdimensionierten Augen und Kiemen, die sich in ungleichmäßigen, teils hügeligen Bögen über ihren Körper ziehen. „Hubert war Fischer auf Ameland, im Norden der Niederlande“, erklärt Hilda. „Er liebte die Einsamkeit, fuhr weit hinaus – und fand dort seinen Seelenfrieden.“
Ich gehe weiter. Auf manchen Bildern entdecke ich Musikinstrumente: eine Geige, eine Posaune. Andere zeigen Kirchen oder Ställe. Mich schauen viele Gesichter an – einzeln und in Gruppen. Kein Wunder. Was ist für uns so wesentlich wie die Verbindung zu anderen Menschen? Entsprechend lauten die Titel – „Deckungsgleich“ oder „Danke dir“, aber auch „Frage an dich“. Scheinbar trägt der Schöpfer dieses Werkes ein ungelöstes Anliegen in sich oder erhofft sich gar einen transzendenten Kontakt. Es ist, als würden Stimmen aus den Wänden dringen – ein geisterhaftes und zugleich berührendes Szenario. KRIEGSBILDER
David streckt den Arm nach mir aus, obwohl ich außerhalb seiner Reichweite stehe. Seine Wange zittert leicht. „Robert“, sagt er schüchtern und ungläubig, „hier steht der Name meines Vaters“. Er zeigt auf das Schildchen neben dem Bild vor ihm: „Klaus Rothkamp“. Ich trete näher. Das Gemälde bannt mich, es besteht aus zahllosen Farbflächen, die von einem satten Rot in ein Anthrazit und schließlich in ein tiefes Schwarz verlaufen, bis in der Mitte eine Art Supernova mit narzissengelbem Zentrum und fliederfarbenen Schleiern erscheint. „Wie zerronnen, so gewonnen“, wurde es getauft.
David schweigt und betrachtet das Bild. Anschließend wendet er sich Hilda zu: „Können Sie sich an den Mann erinnern, der das gemalt hat?“ „Ja, sehr gut sogar“, sagt Hilda. „Es ist zwar schon einige Jahre her, aber ich erinnere mich noch, dass er erzählte, kurz vor seinem Besuch Vater geworden zu sein. Es war sein erstes Kind, ein sehr spätes. Er litt an einer Krankheit, die seine Lunge stark belastete. Seine Stimme war rau, er röchelte mehr, als dass er sprach. Und dieser Mann pflegte auch noch seine schwerkranke Mutter. An all diesen Umständen zerbrach schließlich seine Fernbeziehung. Was für eine Geschichte.“
David nickt schwermütig. „Das hat meine Mutter immer nur aus ihrer Sicht erzählt – zu viel Streit, zu wenig Aufmerksamkeit für sie.“ Er schaut erneut auf das Bild, als wolle er es entschlüsseln. „Vielleicht hatten beide recht“, sage ich leise. Hilda legt für einen Moment tröstend ihre Hand auf Davids Schulter. „Kennen Sie auch eine Irmtraud und einen Paul Rothkamp?“, fragt David. Es waren seine Großeltern väterlicherseits, die im Ahnenstammbaum bereits als verstorben eingetragen waren. Hilda runzelt die Stirn. „Irmtraud, ja, so hieß glaube ich seine Mutter, aber ich habe sie nie kennengelernt. Einen Paul kenne ich nicht.“
In diesem Moment wird mir plötzlich bewusst, dass sich aus meiner eigenen näheren Verwandtschaft niemand verewigt hat. Meine Eltern leben noch, sie wohnen zwei Ortschaften weiter. Doch von Davids verwegenem Vorfahren, das heißt: unserem verwegenen Vorfahren, weiß meine Mutter, die ebenfalls mit Zillo verwandt ist, vermutlich nichts – woher auch? Sie hat nichts mit der hiesigen Region zu tun. Sie nutzt kein Internet. Und selbst wenn sie es wüsste – wahrscheinlich würde sie sich eher von Zillo fernhalten. Eigentlich schade, ich meine: diese Eindrücke, dieser Raum, ein wahres Panoptikum. Faszinierend, was Menschen alles als bedeutend erachten …
„Wenn ihr möchtet, könnt ihr nun auch ein Bild malen“, sagt Hilda. In ihrer Stimme liegt ein unüberhörbarer Nachdruck. Noch während die Worte verhallen, ist sie bereits in Bewegung, schreitet entschlossen zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke dreht sie sich noch einmal um, hebt die Augenbrauen. Uns ist klar: Wir müssen folgen. Durch den schmalen Flur gelangen wir zur mittleren Tür. Hilda lächelt mit einem Hauch von Verschwörung, drückt die Klinke hinunter und tritt zur Seite, um uns einzulassen.
Vor uns öffnet sich ein kleines, uriges Atelier. Der Raum ist durchzogen von einem sanften, gleichmäßigen Licht, das sich über die Gegenstände legt und sich mit dem erdigen Duft von Leinöl vermengt. Umrahmt von Regalen, in denen sich Skizzenbücher türmen, breitet sich auf einem langen Tisch ein geordnetes Chaos aus: Tontöpfe voller Pinsel, trübe Gläser, metallene Terpentindosen, eine Kiste mit Farbtuben und farbverschmierte Paletten. „Einige dieser Pinsel hat Zillo selbst schon benutzt“, sagt Hilda mit Stolz in der Stimme. Zwei handliche Staffeleien tragen unberührte Leinwände, die still und erwartungsvoll dem entgegenharren, was kommen mag.
Der Stuhl, auf den ich mich setzen soll, fällt mir sofort ins Auge. Er ist schlicht und beinahe bäuerlich gearbeitet. Auf der Rückenlehne prangt ein eingeschnitztes Motiv: ein Bündel wilder Blumen, deren Stängel und Blüten ungeordnet in alle Richtungen ausstreben – als sei nicht Präzision das Ziel gewesen, sondern die reine Freude an der Bewegung. Ich beuge mich hinunter und lasse die Finger über das eingekerbte Holz gleiten. „Setzt euch“, sagt Hilda, während sie einige Farbtuben auf dem Tisch zurechtrückt.
Hinter mir öffnet sich eine Schublade, es rumpelt leise. Dann das Kratzen eines Streichholzes, das Knistern kleiner Flammen, die sich gierig an Dochten festsetzen. „Nur im Schein der Kerzen, meinte Zillo, könne man die Wahrheit erkennen.“ So habe er oft gearbeitet. Bedächtig stellt sie die Stumpen im Raum auf, während sie uns die Ölmalerei näherbringt – und knipst anschließend das Licht aus.
Bevor sie hinausgeht, lehnt sie sich mit gespielter Dramatik gegen die Tür und greift nach dem Schlüsselbund an ihrer Jacke. „Zillo wollte außerdem, dass alle, die hier malen, ein halbes Jahr in diesem Verließ miteinander verbringen. Nur so könne wahre Verbindung entstehen. Und deshalb schließe ich euch jetzt ein!“ Beklemmung verdickt meine Kehle. David schluckt.
Hilda tritt aus dem Raum und dreht den Schlüssel langsam, bis er mit einem eindringlichen Klick in die Verriegelung fällt. Sekunden vergehen ... acht, neun. Dann dreht sich der Schlüssel erneut; Hilda steckt ihren Schädel herein und lacht ausgelassen. „Nur ein Spaß. Ich komme in einer Stunde zurück. Malt nun, was euch im Innersten berührt, und nur das!“ Mit einem fröhlichen Klirren ihrer Salamanderarmreife verschwindet sie. „Dieses durchgeknallte Huhn“, murmle ich.
David beginnt, seine Farben vorzubereiten. Ich jedoch blicke etwas verloren an mir herab, mustere meine Hände, den groben Stoff meiner Hose, den Stuhl unter mir. Mit den Fingerspitzen fahre ich über die Lehne. Ich überlege, lausche in mich hinein. Zögerlich greife ich nach einem breitborstigen Pinsel, tauche ihn in ein helles Braun und ziehe die erste Linie. Unsicher. Suchend. Ich schüttle den Kopf, stehe auf, drehe mich um und betrachte den Stuhl – den Schwung der Lehne, die Maserung des Holzes. Dann setze ich mich wieder und zeichne weiter, wage mich an die feineren Pinsel. Strich für Strich, Form für Form. Immer wieder drehe ich mich um, neige den Körper, um die Details zu erfassen.
David wirft mir skeptische Blicke zu, versucht mühsam ein Grinsen zu unterdrücken, während seine Augen aufmerksam meinen Möbelstück-Expeditionen folgen. Doch in seinem Ausdruck schwingt auch Respekt mit. Ich schaue manchmal zu ihm hinüber, zu seinem Bild. Wie er den Pinsel führt – sicher, fast tänzerisch, als folge er einer Melodie, die nur er hören kann. Seine Linien sind präzise, er scheint ein Gesicht zu malen. Ich beobachte, wie er Farben mischt, zögere einen Moment – und tue es ihm gleich. Ich bleibe ruhig, bei mir. Ich weiß, dass ich kein großer Künstler bin. Aber ich gebe mein Bestes, und das reicht. Als wir fast fertig sind, legt David seinen Pinsel beiseite und sieht mich fragend an: „Sag mal, warum malst du eigentlich diesen Stuhl?“
Ich blicke auf mein Bild, auf die einfachen, liebevollen Züge. „Weißt du“, sage ich, „so unbequem er auch ist – er erinnert mich an den Stuhl, auf dem ich als Kind gesessen habe. In meinem Zimmer im Haus meiner Eltern. Stundenlang habe ich im Atlas geblättert, bin durch bunte, ferne Länder gestolpert. In den Asterix-Comics habe ich mich unter die Römer gemischt, Cleopatra zu Füßen gelegen. In Panini-Alben habe ich die Bilder von Günther Netzer und anderen begnadeten Kickern eingeklebt und die Zahl ihrer Spieleinsätze auswendig gelernt. Diese unbefangene Entdeckungslust hatte ich damals. Und dieses Gefühl habe ich jetzt auch – vielleicht nicht in dieser Reinheit, aber…“
Ich halte inne, spüre, wie die Worte in mir nachklingen. David schweigt, doch aus seinem Blick spricht Verständnis. In diesem Moment kehrt Hilda mit mehreren Bilderrahmen unter dem Arm zurück. „Entschuldigen Sie, könnten wir noch fünf Minuten haben?“, frage ich. „Jaja, natürlich, nehmen Sie sich die Zeit“, antwortet sie. Ich lege meinen Pinsel nieder und drehe mich zu David. „Darf ich dein Bild sehen?“ Er nickt und schiebt es mir hinüber.
Und was soll ich sagen – ich sehe mir selbst ins Gesicht. Unvermittelt ringe ich damit, diesem Spiegel standzuhalten. Meine Blicke huschen zum flackernden Kerzenschein um uns, ehe sie zu meinem Abbild zurückkehren. Ich mustere meine Konturen, verfolge ein Spiel aus Licht und Schatten, das David mit beunruhigender Präzision eingefangen hat. Mein Ausdruck wirkt ruhig, fast gelöst. Wie vermag ein Mensch einen anderen so vollkommen zu lesen? Ich schwanke zwischen Scham und Rührung. Ach, und auf meinem Kopf – beinahe hätte ich es verschwiegen – sitzt Zillos Zylinder: maronenfarben, leicht geknickt, doch aufrecht genug, um Würde auszustrahlen. Und dazu: die charakteristischen schwarzen Lilien.
„Ich wollte nur sagen: Danke“, murmelt David, kaum hörbar. „Danke, dass du mich mitgenommen hast. Dass du da bist. Dass ich das erleben durfte. Zillo, die Botschaft meines Vaters, das Malen.“ Ein paar Sekunden lang bleibt alles still, als müsste auch die Luft um uns begreifen, was gerade passiert. Ich finde erst langsam Worte, oder versuche es zumindest. „David, ich bin wirklich be –“
Jemand knipst das Licht an… Hilda. Ihr Erscheinen durchschneidet die Stimmung wie ein Riss im Traum, durch den die Wirklichkeit hereinbricht. „Haben die beiden Herren nun ausreichend Kreativität aus Körper und Geist geholt?“, ruft sie mit gespielt strengem Ton und läuft in die Mitte des Raums. „Ich hätte hier einige Rahmen im Angebot.“ Sie legt die Auswahl auf den Tisch, drängt sich zwischen uns, beugt sich vor und betrachtet unsere Bilder. Bei meinem Stuhlbild verzieht sie das Gesicht; nach einem Moment folgt schließlich ein mildes Lächeln. „Na gut. Sie werden schon wissen, warum.“
Als ihr Blick auf Davids Bild fällt, verändert sich ihre Miene. Ihre Augen weiten sich, die Lippen formen ein lautloses Wow. „Weißt du eigentlich, dass du ein Naturtalent bist?“, sagt sie fast ehrfürchtig. „Du solltest dich an Kunstschulen bewerben.“ David sieht sie an, ungläubig. „Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen. Ich bin gut vernetzt“, fügt sie hinzu und zwinkert. David senkt den Blick, verlegen. „Meinen Sie das ernst?“ „Und wie“, sagt Hilda. „Zillo hätte den Zylinder vor dir gezogen“, bestätige ich. Davids Schultern heben sich – richten sich, ganz sacht, zum ersten Mal seit langer Zeit auf.
Hilda erklärt, dass unsere Schöpfungen nun ein paar Tage zum Trocknen brauchen und fragt uns, wo sie anschließend hängen sollen. „Hier drinnen. Neben dem Schrank. Dann schaut man direkt darauf beim Malen“, sage ich. „Na, ausnahmsweise gestatte ich Ihnen das“, sagt sie und reicht mir ein längliches Pappkärtchen und einen dünnen Filzstift. „Titel, bitte.“ Ich halte kurz inne, begutachte das Bild, spüre meinen Gedanken nach. Schließlich setze ich an: „Nicht nur Stuhl, auch Tür.“
David bittet uns, ihm in den Raum mit den Ahnenbildern zu folgen. Er geht ohne Zögern zu einer bestimmten Stelle und zeichnet mit dem Zeigefinger ein imaginäres Quadrat an die Wand – eine Unterarmlänge entfernt vom Bild seines Vaters. „Hier soll mein Bild hängen“, sagt er. „Heißen soll es ‚Querverbindungen‘ – quer komplett klein geschrieben, VERBINDUNGEN groß.“ Er drückt das ihm überreichte Stück Pappe an die Wand, schreibt den Titel darauf und gibt es Hilda zurück. Danach stehen wir einen Moment einfach nur da, andächtig, wir vor einem Grab. Fast unmerklich senkt David den Kopf – ein kaum wahrnehmbares Nicken, nicht für uns, sondern für sich. Schweigend gehen wir zurück in den Malraum. Ich wähle einen schmalen, schlichten Rahmen – dafür in Gold. David entscheidet sich für auberginegefärbtes Holz, etwas breiter, mit ornamentalen Schwüngen.
Beim Verlassen des Kellers knarren die Dielen unter unseren Schritten, als bewegten wir uns durch weichgewordene Zeit. Aus dem kühlen Gemäuer treten wir hinauf in den warmen Glanz des Nachmittags. David fährt sich durch den Bart, ich ziehe mir das Jackett glatt. „Das war sicher nicht das letzte Mal, dass wir hier waren“, sage ich. David blinzelt überrascht. „Ja?“ „Durchaus“, erwidere ich und halte seinem Blick stand. Hilda schließt David mit der Selbstverständlichkeit einer exzentrischen Patentante in die Arme. Mir streckt sie die Hand entgegen: ein fester Druck, trocken, ehrlich. „Es war mir eine gewaltige Freude mit euch“, sagt sie. „Ich glaube, ich kann euch guten Gewissens nach Deutschland zurückschicken.“
Sie öffnet uns die Tür, und sofort prasseln die Farben Maastrichts auf uns ein: die steinernen Gassen, flankiert von Fensterkästen voller leuchtender Petunien. Nach diesem intensiven Besuch tut es gut, bei einem kleinen Spaziergang den Kopf freizubekommen – etwas anderes zu sehen, andere Gedanken zuzulassen. Wir schlendern über den Bogen der Sint Servaasbrug ins Zentrum. Vorbei an Straßencafés, wo Gäste Limburgse Vlaai mit Kirschen unter zartem Teiggitter genießen. Am Ufer spiegeln sich bunte Boote sanft im ruhigen Maaswasser. Auf dem Vrijthof erklingen Jazzklänge und das Lachen von Straßenkünstlern vor der ehrwürdigen Kulisse von St.-Servatius-Basilika und Theater.
Zurück am Museum. Wir steigen ins Auto. David stellt die Rückenlehne nach hinten. Ich schalte den Blinker. Dann ist sie da: die Heimfahrt. Wenig später rollen wir über die Ausfallstraßen der Stadt, vorbei an Häusern, die wieder nüchterner werden. Maastricht weicht zurück, Zentimeter für Zentimeter. Die Landschaft öffnet sich. Felder, Alleen, Autobahnschilder. Ein paar Sonnenstrahlen zu viel für diese Stunde.
Wir fahren schweigend. Nicht dieses angespannte Schweigen, das nach Worten ruft, sondern ein warmes. Ich beobachte, wie die Schatten der Bäume sich über die Motorhaube legen, flackernd, rhythmisch, wie eine Morsebotschaft, die man nicht entschlüsseln muss. Kurz vor der Auffahrt zur Autobahn vibriert mein Handy in der Mittelablage. Ich werfe einen Blick hinunter. „Frau Dr. Neidhard“, zeigt das Display.
Ich nehme die Kurve etwas langsamer als nötig. Ein Gedanke blitzt auf – ich könnte sie einfach ignorieren, wegdrücken. Aber ich schüttle innerlich den Kopf und drehe mich – ganz real – zu David. „Nimm ruhig ab. Das geht schon klar.“ David wirft mir einen fragenden Blick zu. Einen kurzen Moment später nimmt er das Smartphone in die Hand und tippt auf Annehmen.
„N'abend, ich bin der Schwiegersohn von Robert Taxing, er kann grad nicht … Hände am Lenker.“ Eine dumpfe Stimme dringt durch das Gehäuse. Dann wieder David: „Ja, ja, sprechen Sie, er hat's mir erlaubt.“ Wieder eine Pause. „Ob ich eingeweiht bin?“ Ich merke, wie David stutzt und darüber nachdenkt, was sie meinen könnte und was eine schlaue Antwort darauf wäre. Er nimmt sein ganzes Stimmvolumen zusammen: „Ja, natürlich, natürlich, wir haben im Prinzip keine Geheimnisse voreinander.“ Die Anruferin spricht weiter, ruhig, professionell, was ich höre, fast zu normal für das, was es in mir auslöst.
David wendet sich mir zu. „Ähm … Sie hätte am Montag um 17 Uhr einen Termin frei und würde gerne wissen, ob du ihn wahrnehmen willst.“ Ich blinzle kurz in die Sonne. „Sag ihr … sag ihr, ich gebe ihr spätestens morgen Vormittag Bescheid.“ David nickt, murmelt es ins Handy und verabschiedet sich höflich. Er legt das Telefon zurück in die Ablage. Einige Sekunden liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft. Bis David sich traut: „Du willst … Therapie machen?“
Ich nicke. Und dann, nach einem Atemzug: „Ich hab mich zuletzt oft schlecht gefühlt. Nächtelang wachgelegen, als würde mein Kopf von einem Strom heimgesucht. Ich musste manchmal zwei-, dreimal nachts raus, bin in die Küche gegangen, um durch das Fenster in den Garten zu schauen, ob jemand dort sein Unwesen treibt, gar in unser Haus eindringt, aber gleichzeitig hab ich da Bilder gesehen von meinen Kindern früher, beim Schaukeln, ein ganz komisches Szenario.“ Ich lächle schief.
„Angela hab ich immer gesagt, ich muss auf die Toilette. Sie meint inzwischen, ich sollte mal zum Urologen. Aber eigentlich … wollte ich nur überprüfen, ob das Gefühl stimmt – dieses nagende Gefühl, dass vielleicht nichts mehr da ist. Oder dass doch etwas da ist. Irgendwie unheimlich, verwirrend, bedrückend.“ Ich atme langsam aus. „Irgendwann hab ich mich selbst in der Fensterspiegelung dabei beobachtet, wie ich einfach nur dastand, wie ein Sicherheitsdienst ohne Auftrag. Und dann hab ich mich gefragt: Wenn das keiner sieht – passiert es dann überhaupt? Schwer zu erklären. Jedenfalls wurde es mir zu viel, und ich dachte mir, ich wende mich mal an jemanden vom Fach.“
David schweigt, und ich kann es ihm nicht verdenken, nicht zu verstehen, was ich da gerade gesagt habe, denn mir fehlen selbst klare Beschreibungen und Gründe für das alles. Dann legt er eine Hand auf meinen Unterarm. Vorsichtig, aber ohne Zögern. Ich wehre mich nicht.
(Epilog – einige Tage später)
Samstagmorgen. Praller Sonnenschein ergießt sich durch das Fenster meines Arbeitszimmers und tupft helle Flecken auf den Boden. Die Luft duftet nach frisch gemähtem Gras. Vermutlich das Odeur des Nachbarrasens. Ich selbst war heute nicht in der Verfassung, mich der röhrenden Brutalität dieses Motors auszusetzen. Stattdessen habe ich innerlich zu einem Besen gegriffen, um in meinem Kopf etwas Ordnung zu schaffen – und sitze nun, still in mich gekehrt, vor Handy und Computer.
Immer wieder wandert mein Blick vom kleinen Bildschirm zum großen und wieder zurück, begleitet von gelegentlichem Tippen. Plötzlich höre ich Schritte auf der Treppe, ein leichtes Klopfen. „Robert?“ Es ist David. Er steckt den Kopf zur Tür herein. „Hast du noch Briefmarken?“ Ich drehe mich um. „Wofür brauchst du sie denn?“ Er tritt näher, einen dicken Umschlag in der Hand. „Ich habe eine Mappe zusammengestellt. Früher gemalte Sachen und ein paar neue Bilder. Hilda hat mir Kontakte von Kunstschulen geschickt. Sie schreibt sogar eine Empfehlung für mich.“
Er sieht mich an, ein wenig scheu, ein wenig stolz. Ich nicke anerkennend. „Das ist großartig, David. Wirklich.“ Mit einem Grinsen füge ich hinzu: „Ich hoffe, da sind nicht aus Versehen ein paar Werke von mir dazwischengeraten. Sonst nehmen sie dich höchstens in der Vorschule.“ Er lacht. „Nur zwei. Maximal.“ Ich zeige auf die kleine Schublade im Schreibtisch. „Da findest du die Marken.“ Er bedankt sich, kommt näher. Während er kramt, wandert sein Blick auf meinen Handybildschirm. „Was machst du da eigentlich? Was sind das für Namen?“
„Es sind die Namen aus dem Gästebuch im Zillo-Museum. Ich habe sie abfotografiert. Als ich das Buch in der Hand hielt, spürte ich ein seltsames, sanftes Ziehen in meinem Magen. Also habe ich, naja … die Seiten heimlich fotografiert, als du mit Hilda allein warst.“ Er stutzt einen Moment, seine Augen verengen sich leicht, ein flüchtiger Ausdruck von Überraschung. Dann nickt er langsam. „Und jetzt bist du neugierig, wer all die anderen sind. Unsere ‚Familie‘, wenn man so will. Ich verstehe das gut. In den letzten Tagen habe ich mich auch noch mal intensiver mit meinem Stammbaum beschäftigt, mir Namen, Gesichter und Biografien angeschaut. Zillo hat ja zunächst alles überstrahlt – dieser Ganove.“
Ich zögere kurz, dann füge ich hinzu: „Mehr noch – ich überlege, ob man ein jährliches Treffen organisieren könnte. Alle Nachfahren, die im Museum waren. Es wäre sicher inspirierend. Eine Gemeinschaft.“ David schweigt. Ich sehe, dass ihn der Gedanke berührt. Dann fällt sein Blick auf den Stuhl, auf dem ich sitze. „Moment mal, der … der sieht doch aus wie der im Museum, auf dem du gesessen hast.“
Ich streiche mit der Hand über die schlichte Lehne und lächle. „Er stammt aus meinen Kindertagen und sieht ihm verblüffend ähnlich. Ich habe ihn bei meinen Eltern vom Dachboden geholt. Ich sagte ihnen, ich nehme alles Brennholz, das ich kriegen kann. Die Sachen stehen ja sonst nur rum.“ Ich schweige einen Moment. „Aber von Zeisenvaart habe ich ihnen nicht erzählt. Noch nicht. Vielleicht aus Angst, es würde ihr Bild von mir verändern. Oder sie würden sich unbehaglich fühlen. Weißt du … sie sind schon alt.“
David nickt. Er sieht wieder auf das Display. „Und – was hast du jetzt konkret vor?“ Ich lehne mich zurück. „Erst mal will ich einige Namen recherchieren. Geschichten entdecken. Vielleicht einfach Briefe schreiben.“ Dann sehe ich ihn an. „Vielleicht könntest du irgendwann die Einladungskarten gestalten, Motive malen. Du kannst sowas doch hervorragend.“ „Oh … echt? Klar, gern.“ Seine Augen leuchten.
„Und – wie läuft es mit deiner Therapie?“, fragt er behutsam. Ich atme tief durch. „Ich habe noch nicht entschieden. Vielleicht löst sich gerade schon etwas. Vielleicht brauche ich noch ein bisschen Zeit, um alles richtig einzuschätzen. So etwas beginnt man nicht leichtfertig.“ Er legt seine Hand auf meine Schulter. „Übrigens: Ich möchte jetzt runtergehen, den anderen die Geschichte erzählen. Und ich würde dich gerne dabeihaben“, sagt er. „Die wundern sich sowieso schon, warum wir plötzlich so häufig miteinander abhängen.“
Ich bleibe noch einen Moment sitzen, blicke auf den Bildschirm, sehe nur Licht. Draußen streicht der Wind unaufdringlich durch die Baumkronen. Schließlich stehe ich auf. David klopft mir kurz auf den Rücken; eine Bewegung, die einiges trägt. Gemeinsam gehen wir zur Tür hinaus, die knarzenden Stufen hinunter. Ich versuche, leise zu treten; wenn das Herz schneller schlägt, versucht der Mensch instinktiv, alles Akustische zu dämpfen, als könne das auch das Innere beruhigen.
Unten drückt David die Klinke. Die Tür geht auf. Dahinter: Karaffen, Gläser, Gesichter, noch unbeschrieben wie ein begonnener Tag. Für einen Moment bleibe ich stehen. David dreht sich zu mir um, seine Augen blitzen – halb frech, halb feierlich. Er tritt durch die Tür. Ich atme ein, dann trete ich ihm nach, und verlasse mit dem nächsten Schritt seinen Schatten.
ENDE