Zeitgeistkrankheit

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petrasmiles

Mitglied
Wie vermessen! Ich lebe unter einem hübschen Dach, habe es warm und trocken, der Kühlschrank ist gut gefüllt, das Portemonnaie erlaubt mir kleine Wünsche, ich bin (wahrscheinlich) gesund, liebe und werde geliebt. Und doch! Wache ich mit schweren Gedanken auf. Reibe mich an Dingen, die gesagt und geschrieben werden, die man tut und unterlässt. Spüre das Leid und die Unvernunft in Knochen und Gliedern, gehe geduckt und nahezu schleppend.

Wäre ich arm an Mitteln und im Geiste, ich könnte mich freuen daran, dass es die anderen trifft und nicht mich. Wäre ich groß und stark, würde ich mich in die Schlachten werfen, um die Monster zu bekämpfen. Wäre ich herzlos, würde ich es darauf anlegen, dass andere leiden müssen, damit ich es guthaben kann.

Aber ich bin der, der ich bin. In maßloser Selbstüberschätzung wünsche ich mir, dass die Welt so funktioniert, wie ich es mir in meinem Innern vorstelle. Sie soll besser sein als ich, aus allem lernen und die richtigen Schlüsse ziehen, immer gerecht und im Sinne der Barmherzigkeit handeln.

Ich ruhe in mir und kann gleichzeitig überall sein. Aber wenn ich dann wieder nach Hause komme, passe ich nicht mehr durch die Tür.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist nicht so einfach zu verstehen, liebe Petra, wie es kurz ist. Ich bemühe mich um Verständnis. Es scheint mir um die Ungenügsamkeit an sich selbst wie auch an der Welt zu gehen und die Wechselwirkungen davon im Innern des Ichs. Ist es also ein Text über Ohnmacht bzw. Gefühle der Ohnmacht? Diese verlangen ja irgendeine Art der Verarbeitung, z.B. Fatalismus oder Ausbruchsversuche. Hier sehe ich vor allem den selbstkritischen Ansatz ("maßlose Selbstüberschätzung" und eine zu eng gewordene Innenwelt). Eigentlich kann das nur ein Zwischenschritt sein, im Sinne einer Diagnose.

Aber vielleicht bin ich auch auf ganz falscher Fährte. Jedenfalls ist es tiefsinnig.

Im vorletzten Absatz scheinen mir in der ersten Zeile zwei Kommas zu fehlen: "Aber ich bin der, der ich bin ..." und "... dass die Welt so funktioniert, wie ich es mir in meinem Innern vorstelle." Nicht ganz sicher bin ich mir mit dem ersten Absatz, hier zweite Zeile. Zumindest in älteren Texten wird das Ausrufungszeichen mitten im Satz meist so gehandhabt, dass nach ihm klein fortgefahren wird. Also: "Und doch! wache ich usw."

Schöne Sonntagsgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

lieben Dank für die Annäherung an meinen Text, den Hinweis auf die Fehler und die Sterne. Der erste Satz und das 'Und doch! sollen aber für sich allein stehen. Mir erschiene eine Fortsetzung in Kleinschreibung wie eine Schwächung.

Ich glaube es ist das Klagelied eines Empathen. Es ist meistens schön, wenn man Kanäle zu anderen offen hat, erspüren kann, wie es ihnen geht und wirklich mitfühlen kann. Aber manchmal wird diese Fähigkeit zur Last, etwas gerät aus dem Fokus, das Innen wird wund, schwillt an, passt nicht mehr durch die Tür zum Ich. Ich lese von dem USA-Bombardement im Iran und muss weinen.
Und dann kommt der Versuch der Rationalisierung: Willst Du wirklich ärmer und dümmer und kälter sein? Ist es nicht eine grandiose Selbst-Erhebung, die Welt habe gefälligst so zu funktionieren wie Du es brauchst?! Du hast es doch gut!
Es ist der zunehmend erfolglose Versuch, der eigenen Realität Gehör zu verschaffen, sie wichtiger zu nehmen.
Vielleicht würden es Menschen wie ich brauchen, dass die Nachrichten noch von berittenen Boten überbracht werden.

Liebe Grüße
Petra
 

trivial

Mitglied
Liebe Petra,

danke für Deine Worte, ich fühlte mich sehr angesprochen und dachte mir, merkwürdige Synchronizität, dass ich gestern für mich vermerkte:

...unser Bewusstsein scheint mir der Ursprung zu sein, dass wir uns größer denken, als wir sind – zu groß. Als wäre es nicht für Menschen gemacht.

Vielleicht war es nur meine selektive Wahrnehmung – aber es freut mich, dies in Deinen Zeilen wiedergefunden zu haben.

Liebe Grüße
Rufus
 

Mimi

Mitglied
Über den Titel "Zeitgeistkrankheit", liebe Petra, habe ich eine Weile nachgedacht, vielleicht auch, weil ich zu viel hineininterpretiert habe, als eigentlich enthalten ist/ sein sollte.
Aber nach mehrmaligem Lesen des Textes finde ich, dass er sehr gut passt zu Deinen Gedankengängen, denen ich durchgehend gut folgen konnte.
Bei mir persönlich ist es eher ein Gefühl der Ohnmacht, wenn ich mit Bekannten und Freunden, die im Nahen Osten leben, telefoniere und schreibe.
Manchmal weiß ich nicht wirklich, was ich noch sagen soll ...


Ich glaube es ist das Klagelied eines Empathen
Ja, so könnte man den Text auch subsumieren.
Was bleibt uns, die wir (mehr oder weniger) so weit weg des (direkten) Geschehens leben, auch übrig, außer zu klagen ob dieser unheilvollen Eskalationen ...?

Gruß
Mimi
 

petrasmiles

Mitglied
..unser Bewusstsein scheint mir der Ursprung zu sein, dass wir uns größer denken, als wir sind – zu groß. Als wäre es nicht für Menschen gemacht.
Lieber Rufus,

ja, wenn man das Thema grundsätzlicher fasst, landet man beim Bewusstsein und der Schwierigkeit der Abgrenzung. Ich würde es nicht unbedingt so nennen, dass wir uns größer denken, als wir sind, aber eigentlich ist es das. Also keine selektive Wahrnehmung.

Was nicht für den Menschen gemacht ist, ist diese Informationsflut, die künstlich in Gang gesetzt wird und unsere mangelhafte Kompetenz der Priorisierung. Was mir auch ein Aspekt zu sein scheint, ist, dass wir über Bilder steuerbar sind. Unsere Augen sind nicht dafür gemacht, das, was wir sehen, als möglicherweise nicht real zu begreifen. Es ist eine 'Kulturleistung', parallel zum Wahrnehmen seine Hinterfragung in Gang zu setzen. Ein Willensakt.

Danke fürs Mitschwingen 'and all the rest'.

Liebe Grüße
Petra
 

petrasmiles

Mitglied
Danke liebe Mimi,

ich habe diesen Titel gewählt, weil die 'Überforderung' ja mit den 'modernen Zeiten' zusammenhängt. Danke, dass Du das verstanden hast.
Ja, diese Geschehnisse machen sprachlos und lassen einen die eigene Ohnmacht spüren. Aber bis dahin komme ich gar nicht, weil ich ja auf der Wahrnehmungsebene bin, und die ist eher empfangend und nicht handelnd. Aber meine Sprachlosigkeit versuche ich zu überwinden durch Reflexion, Texte hier und Leserbriefe.
Wo soll das enden?


Liebe Grüße
Petra
 

Ubertas

Mitglied
Liebe Petra,
ich habe deinen Text aus vielen verschiedenen Blickwinkeln gelesen und finde ihn hervorragend. Ich nenne das jetzt so: deine Kurzprosa hat viele Arme. Klingt vielleicht ungelenk von mir statt krakenartig.
Deine Worte sind eine vielschichtige und gelungene Auseinandersetzung, nach außen und nach innen. Besonders das Schlussbild "nicht mehr in die Tür zu passen" hat es mir angetan. Was mich gleichzeitig zu dem Schluss brachte: wenn wir nicht mehr heimkommen können, können wir auch nicht mehr gehen. In beiden Fällen stehen wir uns selbst im Weg. Vor derselben Tür. Ob wir draußen stehen oder drinnen. Es bleibt gleich.
Ich bin begeistert von deinen Worten!
Lieben Gruß ubertas
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Ubertas,

danke für Deine Worte - das ist eine ziemlich treffende Beschreibung, wenn man nicht mehr durch die Tür passt ... man steht sich selbst im Weg und drinnen und draußen werden gleichviel ... schlecht.

Liebe Grüße
Petra
 

tessa_zwei

Mitglied
Hallo Petra,
ich habe Deinen Text nun schon zum dritten Mal gelesen und finde ihn richtig gut, weil er soviel Gedankenspielraum gibt. Einzig der letzte Satz ( ..ich passe nicht mehr durch die Tür) hatte mich völlig irritiert. In Deiner Antwort an Arno kam dann für mich die Auflösung. Auch Ubertas Folgerung "wenn wir nicht mehr heimkommen können, können wir nicht mehr gehen" hat es mir sehr angetan. Dankeschön und Grüße
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe tessa_zwei,

danke fürs Vorbeischauen und das Lob.
Ich wundere mich immer, was der Mensch so alles aushält. Die Spirale dreht sich ja nicht langsamer auf etwas Befürchtetes zu, und doch kommen wir immer wieder bei uns an und nehmen den nächsten Tag mit dem Maß an Gleichmut, das wir gerade aufbringen können. Dabei hilft vielleicht, solche Texte zu schreiben und auch so in den Dialog mit seinen Mitmenschen zu treten, denen es vielleicht ähnlich geht.

Liebe Grüße
Petra
 

Aniella

Mitglied
Liebe Petra,
Dein Text macht betroffen und vermittelt das, was man am meisten fürchtet: Hilflosigkeit (oder wie an anderer Stelle angemerkt: Ohnmacht). Das bedeutet Stress, leider den von der unguten Sorte. Passiv erträgt man stellvertretend und mitfühlend das Leid auf der Welt, dem man immer weniger entfliehen kann. Es begegnet einem überall.
Dankbarkeit darüber zu empfinden, dass man selbst (noch) nicht direkt betroffen ist – nachvollziehbar.
Warum es eine Selbstüberschätzung ist, wenn man sich die Welt anders (besser) wünscht, hat sich mir allerdings nicht ganz erschlossen.
Das Bild mit der Überforderung, wenn man in seine eigene kleine Realität zurückkehrt und nicht mehr durch die Tür passt mit den vielen Sorgenpaketen auf dem Buckel, ist dagegen wieder klar ersichtlich. Da plötzlich ist man wieder an dem Punkt, wo man aktiv eingreifen muss und will, um dagegen anzukämpfen. Als winziges Rädchen, aber aktiv. Das ist der Überlebenswille. Wie in jedem langen Kampf treten irgendwann Ermüdungserscheinungen auf. Aufgeben wird man vermutlich nie. Hoffentlich.
Beeindruckende Momentaufnahme.

LG Aniella
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Aniella,

danke für Deinen Zuspruch und Deine Gedanken.
Ich kann verstehen, dass diese 'Diagnose' der Selbstüberschätzung nicht jedem einleuchtet. Es ist auch eine Frage des Naturells und der Handlungsorientiertheit eines Charakters. Gerade im Eingeständnis der 'Ohnmacht' offenbart sich eine Grenze, die unserem Handeln innewohnt.

Bei mir ist es das Ergebnis der Hinterfragung der eigenen Motive, eine Standortbestimmung und auch Entlastung. Was Rufus da gesagt hat, ist schon ziemlich treffend, was ich gemeint habe. Ich sehe nämlich die Gefahr, dass man - aufgrund der Ohnmacht - in kräftezehrende Symbolhandlungen verfällt, und die begeht man eindeutig für sich und haben mit einer Lösung von Problemen, auf die man wenig Einfluss hat, nichts zu tun.
Vielleicht ist es auch ein Hinweis in eigener Sache: Wenn Du es nicht aushältst, ist es nicht richtig. Eine Art Erdung?
Aber natürlich: Am nächsten Morgen macht man weiter.

Liebe Grüße
Petra
 

tessa_zwei

Mitglied
Liebe Petra,
Ich möchte nochmals -auf das Maß an Gleichmut, das wir immer wieder aufbringen ... - eingehen: Das Maß an Gleichmut ist schlichtweg Verdrängung und funktioniert bei uns Menschen ganz wunderbar, sofern wir nicht unmittelbar betroffen sind. Alles erscheint uns weit weg, solange es vor der Haustüre bleibt....
Ich glaube, dass Verdrängung womöglich ein Schutzmechanismus für unser Gehirn ist, sonst würden wir "vor Trauer eingehen". Das gilt im Übrigen nicht nur für Krieg und Tod sondern auch für die mutwillige Zerstörung unserer Natur durch uns.
Viele Grüße Tessa
 

petrasmiles

Mitglied
Das Maß an Gleichmut ist schlichtweg Verdrängung
Das würde ich so pauschal nicht sagen wollen. Wir sehen die Menschen auf den Straßen, während sie lachend in Gruppen durch die Stadt schlendern, schwere Einkaufstüten schleppen, müde von der Arbeit im ÖPNV verschnaufen, aber wir sehen sie nicht, wenn sie 'bei sich' sind, wenn sie nicht von Tätigkeiten oder Interaktion abgelenkt sind.
Verdrängung hat einen negativen Beigeschmack und wird meist mit dem Finger auf andere zeigend verwendet. Hat etwas 'Küchentischpsychologisches'. Wenn ich morgens dem Wecker gehorche und mein Tagewerk beginne, verdränge ich meine eigenen Wünsche, wenn ich mich auf der Arbeit dem einen Thema zuwende, muss ich ein anderes verdrängen. Das lässt sich beliebig fortsetzen: Hört man dem Mann zu oder den Kindern? Immer gerät etwas in den Fokus und schiebt anderes beiseite. Für andere Themen gilt, dass wir uns etwas nicht klarmachen; dafür bräuchte es offene Diskurse, die aber derart gelenkt sind, dass sie vorgefertigte Meinungen produzieren, wonach andere schuld sind, keinesfalls wir selbst oder die Handelnden.

In psychologischer Hinsicht gehört Verdrängung zu einem Krankheitsbild. Traumata werden verdrängt und haben u.a. selbstschädigendes Verhalten zur Folge. Das ist etwas ganz anderes als womit wir uns zurzeit herumschlagen.
Das 'Maß an Gleichmut', wovon ich in #11 sprach, ist etwas anderes, mehr '-mut' als 'Gleich'gültigkeit.

Liebe Grüße
Petra
 

tessa_zwei

Mitglied
Liebe Petra,
habe mir deinen Text -Zeitgeistkrankheit- nochmals durchgelesen und muss Dir beisteuern: Ich bin bei meinem letzten Kommentar über das Ziel hinausgeschossen. Sorry! Dein Text hat nichts mit Verdrängung zu tun. Ich gebe Dir Recht, denn Du bist ganz bei Dir geblieben.
...Ich war gedanklich einen Schritt weiter... meine Stellungnahme hatte im Grunde nichts mit Deinen Zeilen zu tun.

Nichtsdestotrotz bin ich der Auffassung, dass Verdrängung nicht unbedingt etwas mit einem Krankheitsbild zu tun haben muss. Aber - das wäre ein separates Thema, welches es zu diskutieren gäbe.
Lieben Gruß
Tessa
 

petrasmiles

Mitglied
Liebe Tessa,

dann haben wir das ja geklärt.
Für mich ist 'Verdrängen' schon eher etwas Pathologisches, aber das Phänomen, was Du wahrscheinlich meinst, kann man auch 'selektive Wahrnehmung' nennen, die durch die unselige Verengung von Diskursen in 'Narrative' befördert wird. Viel öfter sind das, was man landläufig Verdrängung nennt, bewusste Entscheidungen, etwas nicht wahrnehmen zu wollen. Das reicht von der Fragilität unserer Existenz bis hin zu Budgetüberziehungen, weil man dem Kaufreiz nicht widerstehen konnte. Da wird die warnende, innere Stimme einfach beiseite geschoben - oder wie im ersten Beispiel die 'Angst' umgesetzt in bewusste Lebensfreude, oder übertragen in Nörgelei etc.
Ich versuche immer, so differenziert wie möglich mit Begriffen umzugehen. Ist manchmal anstrengend :)

Liebe Grüße - und gute Nacht!
Petra
 



 
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