Zu Gast

abusidi

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Neulich war ich einmal wieder bei G. zu Gast. G. hat ein ganz wunderbares Gasthaus, ein riesiger Laden mit vielen Etagen, vergleichbar mit dem Früh’schen Brauhaus zu Köln oder dem Hofbräuhaus zu München, aber größer. Rustikale Gewölbekeller, die einige Etagen unter die Erde reichen oder auch zahlreiche obere Etagen, auch für feinere Herrschaften oder geschlossene Gesellschaften. Und da G. mein bester Freund ist, steht für mich jederzeit ein Tisch bereit, gleich in der Nähe der großen Theke, und trotz der vielen vorbei eilenden Kellner in einer ruhigen Nische gelegen. Hier sitze ich oft mit meiner Sippschaft oder mit Freunden bei deftigem Essen und einem gemütlichen Gläschen Wein. Wenn sich hinter der Theke die Schwingtüre öffnet, kann man in die riesige, bis unter die Decke weiß geflieste Küche schauen, wo hunderte von Köchen geschäftig hin und her eilen und ich wundere mich, wie G. hier überhaupt noch einen Überblick behalten kann. Zwar ist es mir schon zu Ohren gekommen, dass in den obersten oder untersten Etagen manche Bestellungen nicht angekommen sein sollen, aber gewiss liegt das nicht an G. selbst, sondern wahrscheinlich an der Bequemlichkeit und Schludrigkeit seiner Kellner, die dazu neigen, bei dem weiten Weg ihre Bestellung lieber an einem näher gelegenen Tisch los zu werden oder auch vergessen haben, wohin sie gehen sollte und sie einfach irgendwo abladen. Solcherlei Unzulänglichkeiten bleiben bei einem solch großen Laden nun mal nicht aus, werden aber durchweg vom Chef geahndet, wenn auch nicht immer sofort.

Als ich dann neulich von dort aufbrach, kam er, wie immer, um mich zu verabschieden. Ich sagte, dass ich noch etwas in dem großen Kaufhaus am Bahnhof zu besorgen hätte und er sagte, dass er mich dorthin begleiten wolle. Dies wunderte mich doch, dass er einfach so abwesend sein konnte, wann es ihm passte, aber offenbar schien sein Laden so gut durchorganisiert zu sein, dass er sich dies erlauben konnte. Und während wir uns dem Ausgang zuwanden, sagte ich zu ihm: “Hör mal, du kennst doch auch meinen guten Freund Manfred? Arbeitet der noch bei dir?”.
“Ja”, sagte er “aber warte mal, ich muss gerade mal schauen, ob er heute Dienst hat”. Er warf einen Blick durch die gerade öffnende Schwingtür.
“Ich sehe ihn, er ist da”, sprach er.
“Weißt du was?”, sprach er in seiner schalkigen Art, “wir überraschen ihn mit einem Wiedersehen. ich hole ihn jetzt unter einem Vorwand aus der Küche und während du schon einmal langsam vorgehst, folge ich dir mit ihm in etwas Abstand”
Als ich das Gasthaus verlassen hatte, befand ich mich überraschenderweise in meiner Heimatstadt auf dem Platz vor der alten Stiftskirche aus dem Jahr 1350 und weit und breit war kein Gasthaus zu sehen. Ich lief langsam mit meiner Verwandtschaft die Marktstraße hinab. Ich war mir bewusst, dass die beiden mir folgen würden, mied es jedoch, mich voreilig umzudrehen. An der Ecke zur Gerberstraße angekommen, welche in Richtung Ostbahnhof führt und in die wir abbiegen wollten, sprach ich zu meiner Tochter: “Geht doch bitte mal vorne her, ich muss noch etwas erledigen und komme gleich nach”
Und während sie die Straße weitergingen, drehte ich mich wie zufällig um und sah die Beiden. Manfred war nicht wiederzuerkennen, so sehr hatte er zugenommen, was bei mir zu leisem Zweifel führte, ob er es denn wirklich sei. Aber G. konnte sich doch wohl nicht geirrt haben?! Und während ich mich ihm zuwandte, um ihn zu begrüßen …

wachte ich auf und dachte daran, dass ich am vergangenen Abend wohl etwas zu lange auf das Bild gestarrt habe, welches auf meinem Wohnzimmerregal steht und mich mit Manfred abbildet.

Leider komme ich nicht mehr sehr oft in meine Heimatstadt, aber immer, wenn ich dorthin komme, drehe ich mich in der Marktstraße einige Male um und halte Ausschau nach Manfred, bisher leider vergebens.
 
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petrasmiles

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Wieder schön geschrieben, abusidi, aber da ist ziemlich viel G. und wenig Manfred, wo er doch die Hauptperson sein sollte ... und 'hunderte von Köchen' ist übertrieben. Du wärst überrascht, mit wie wenig Personal auch eine große Küche auskommt. Alles eine Frage von perfekter Vorbereitung, Organisation und Timing. Wenn Du 'zig' draus machst, sind es immer noch sehr sehr viele.
Gern gelesen - trotz Manfred-Abstinenz.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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