Zu Spät

Haike Dahl

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Zu spät

Martina wurde von Thomas Vater verlassen, als sie hoch schwanger war. Nach seiner Meinung großzügigerweise, überließ der Erzeuger von Thomas ihr eine fast eingerichtete babygerechte Wohnung. Einige Jahre später fragte Thomas nach seinem Vater. Alle anderen Kinder kannten einen. Martina wollte den Kontakt zwischen beiden herstellen. Thomas Vater lehnte ab. Doch zahlte er regelmäßig den Unterhalt.

Dennoch blieb Martina das Schicksal vieler alleinerziehender Mütter erspart. Sie fand unweit ihrer Wohnung einen schönen Kindergartenplatz für Thomas. Die gutgehende Anwaltskanzlei, bei der sie vorher gearbeitet hatte, nahm sie gerne wieder auf. Thomas war ein pflegeleichtes Kind. Er erkrankte selten. Als er in die Schule kam, zogen sie in eine kleinere billigere Wohnung um. Martina wollte ihrem Sohn eine gute Bildung in einer Privatschule ermöglichen. Thomas bekam das zweite Zimmer für sich. Das Wohnzimmer nutzten sie zu zweit. Nur nachts gehörte es Martina allein. Das fand Martina nicht schlimm. Ihr Leben beschränkte sich sowieso nur auf die Arbeit und Thomas. Niemand nahm ihr Thomas mal ab. Martinas Familie wohnte entfernt in einer kleinen Stadt. In dieser herrschte von Arbeitslosigkeit geprägte Trostlosigkeit. Dahin wollte sie nicht zurück. Sie pflegte keine Kontakte zu ihren Nachbarn. Diese kannten sie nur als die Frau mit den High Heels die immer in Eile durch die Anlage stöckelte, mit einem aparten Kostümchen bekleidet und wehendem langem braunen lockigem Haar. Dem Jungen neben ihr fiel es oft schwer, ihr zu folgen. Manchmal entdeckte er am Wegesrand einen kleinen Käfer oder eine besondere Blume. Sobald er stehen blieb, forderte ihn seine Mutter zur Beeilung auf.

Nach dem Abitur begann Thomas ein Jurastudium. Er sparte sich das Geld für eine Studentenbude und blieb bei Martina wohnen. Sie versorgte ihn weiter, damit er sich voll auf sein Studium konzentrieren konnte.

Seine berufliche Laufbahn begann Thomas in der Kanzlei, in welcher auch Martina arbeitete. Weiterhin verlangte sie kein Geld von ihm. Früh verließen beide im Sauseschritt das Haus, eilten zu ihren Autos und kamen zur gleichen Zeit vor der Kanzlei an. Sie fuhren zum Feierabend getrennt nach Hause, rannten in die Wohnung, machten sich frisch und zogen sich um. Martina kochte nicht gern. So luden sie sich wechselseitig in die besseren Lokale ihrer Umgebung ein. Zweimal in der Woche besuchten sie gemeinsam ein Fitnesscenter. Wenn Martina am Wochenende mit den "Heimchenarbeiten" fertig war, unternahmen sie gemeinsame Ausflüge. Die Urlaube verbrachten sie zusammen in Italien, Spanien und Skandinavien. Nur selten ließ Thomas Martina allein. Dann traf er sich mit ehemaligen Studienfreunden. Martina bemerkte nicht, dass Thomas immer ruhiger wurde. Früher erzählte er viel humorvoll und mit einem Schuss Ironie von seinen Erlebnissen. Nun verwandelte er sich in einen wortkargen Mann.

Eines Tages fragte sie einer der Rechtsanwälte der Kanzlei, ob sie mit in die neue Kanzlei ihres Sohnes gehe oder ihnen erhalten bleibe. Martina sah ihn erstaunt an. Thomas wusste nichts von Thomas Plänen.
Beim gemeinsamen Abendessen fragte sie ihn deshalb:
"Du willst eine eigene Kanzlei gründen?"
Thomas bestätigte, ohne sie anzuschauen: "Ja, mit Janek! Wir haben nun genug Geld zusammen und auch schon Räume gemietet."
"Warum weiß ich davon nichts?"
Thomas schwieg.
„Nimmst Du mich mit?“
Thomas schüttelte langsam mit dem Kopf. Sein Blick wich Martina aus.
Martina sagte leise mit belegter Stimme: „Ich verstehe nicht, warum Du mir nichts von deinen Plänen erzählt hast. Das muss ich erst von anderen erfahren! Ich bin deine Mutter. Du hast mir früher immer alles erzählt!"
Thomas antwortete nicht. An diesem Abend sprachen sie kein Wort mehr miteinander.

Nachdem Thomas und Janek ihre eigene Kanzlei eröffnet hatten, fragte Martina ihren Sohn manchmal, wie es in der neuen Kanzlei läuft. Thomas rang sich als Antwort immer nur ein kurzes „Geht so“, „Ganz gut“ oder „Läuft schon“ ab. Die gemeinsamen Abende und Unternehmungen fielen immer schweigsamer aus.

Durch Janek lernte Thomas Maja kennen. Sie gefiel ihm sehr. Sie war anders als seine Mutter. Maja hatte kurze Haare und war der sportlich legere Typ. Auch wirkte sie viel gelassener als seine Mutter, die ständig durch das Leben rannte. Am ersten gemeinsamen Abend saßen Thomas und Maja nebeneinander auf einer Bank, betrachteten den Lauf des Flusses und beobachteten die Enten und Schwäne im Abendlicht. Maja erzählte, dass sie gern jogge.
Thomas fragte, wann und wo sie jogge und sie antwortete:
„Jeden Dienstag und Donnerstag im Stadtpark.“
„Ich bin noch nie gejoggt, außer in der Schule oder so. Mit meiner Mutter war ich immer nur im Fitnesscenter."
"Das ist mir nichts, ich bin lieber draußen. Sitze doch den ganzen Tag schon im Büro."
"Kann ich mitkommen und Dich begleiten?“
Maja musterte ihn von oben bis unten: „Na klar gerne. Ich denke mal, Du kannst mir folgen…“
Thomas Beschwingtheit hielt genau bis zur Wohnungstür. Dienstags und donnerstags ging er nämlich immer mit seiner Mutter zum Fitnesscenter. Zum Glück schlief sie schon. Auch die nächsten Tage verschwieg er seiner Mutter die Verabredung für den Dienstag. Erst als sie ihn Dienstag Morgen fragte, wann er Feierabend machen werde, antwortete Thomas ohne sie anzuschauen: „Ich kann heute nicht.“
Daraufhin verschwand er schnell aus der Wohnung. Tatsächlich kam Thomas an diesem Tag nicht nach Hause, sondern erst weit nach Mitternacht. Als er kam, lag Martina wach. Sie schaute nicht nach ihm.

Thomas kam immer öfter nicht gleich nach der Arbeit nach Hause. Martina sagte nichts dazu. Thomas ahnte nicht, wie sehr Martina sich zu Hause langweilte. Da sie allein nicht essen ging, verbrachte sie die Abende allein in der Wohnung. Sie lief manchmal wie ein gefangener Tiger im Zimmer herum. Auch der Fernseher konnte sie nicht ablenken. Wenn Thomas und Martina zusammentrafen, dann schaute sie Thomas lange fragend an. Thomas wich diesem Blick aus.
Schließlich brach Martina an einem Samstagvormittag das Schweigen: „Du bist erwachsen, es geht mich eigentlich nichts an. Ich bin aber auch deine Mutter. Du hast immer einen Platz in meinem Herzen. Ich möchte schon wissen, wie es Dir geht, was los ist. Es ist alles anders geworden. Du bist immer unterwegs. Was ist mit Dir? Was machst Du, wenn Du nicht hier bist? Hast Du eine Freundin, alt genug bist Du ja?“
„Ja, ich liebe eine Frau und wir werden zusammenziehen.“
Martina schluckte und nickte: „Wenn Ihr Euch schon so gut versteht, warum kenne ich sie nicht?“
„Du wirst sie am Freitag sehen, wenn ich ausziehe.“
Martina schaute aus dem Fenster und verließ mit den Tränen kämpfend den Raum.
Während des Umzuges aber blieb keine Zeit für die beiden Frauen sich kennenzulernen.

Thomas hinterließ ein fast leeres Zimmer. Martina versuchte ihr Leben neu einzurichten. Liebevoll gestaltete sie sich ihr eigenes Schlafzimmer. Nur manchmal hielt sie kurz inne und schaute sich um, als suche sie was. Sie meldete sich für einem Tanzkurs an. Vor Thomas war Tanzen ihre Leidenschaft. Beim Kurs lernte sie Klaus kennen und verbrachte immer mehr Zeit mit ihm. Beide tanzten so manche Nacht hindurch und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Bald schon unternahmen sie ihre erste gemeinsame Reise miteinander und es blieb nicht dabei.
Martina wirkte wieder frischer und ging weiter schnellen Schrittes durch das Leben. Thomas und Maja bekamen eine kleine Tochter Lena. Dadurch zog es Martina wieder mehr zur Familie ihres Sohnes hin. Sie und Maja fanden durch Lena schnell gemeinsame Gesprächsthemen. Doch Thomas verschwand schnell in seinem Arbeitszimmer, wenn er seine Mutter sah.

Einige Wochen später begann Martina unter Kopfschmerzen zu leiden. Krankheiten kannte sie nicht. So nahm sie die Kopfschmerzen nicht ernst. Sie wurde ja nicht jünger. Irgendetwas kommt mit dem Älterwerden eben. Andere haben auch Kopfschmerzen. Manchmal wirkte sie kurzzeitig etwas unsicher auf den Beinen. Eines Tages geriet sie so stark ins straucheln, dass Klaus sie nur mühsam auffangen konnte.
„Du musst das untersuchen lassen“, sagte er besorgt beim Essen im Restaurant zu ihr, „Stell dir vor, Dir passiert das, wenn Du alleine zu Hause bist!“
„ Ach, das vergeht wieder.“
„Ich hatte schon ein paar Mal den Eindruck, dass Du etwas wacklig auf den Beinen bist. Normal ist das nicht. Du bist doch noch nicht 80.“
„Ich habe das ja nur selten. Die lachen über mich, wenn ich damit zum Arzt gehe. Die haben ganz andere Patienten mit größeren Problemen da. Denen stehle ich nur die Zeit.“
„Martina, es sind nicht nur die Beine. Du nimmst immer mehr Schmerztabletten. Sicher nicht zum Spaß. Bitte gehe zum Arzt, für Dich, für mich, für Thomas und Lena.“
So ließ sich Martina zu einem Arztbesuch überreden und es begann für sie eine Odyssee durch die Ärztewelt. Von ihrem Hausarzt zum Orthopäden, Kardiologen, Neurologen...

Einige Wochen später fand Martina sich im Krankenhaus wieder. Sie wurde auf eine Gehirnoperation am nächsten Tag vorbereitet. Angstvoll lag sie allein im Krankenzimmer, da kam Maja herein. Sie zog Thomas hinter sich her. Maja hatte viel Kraft und Überredungskunstgekostet, Thomas zu diesen Besuch zu überreden. Er meinte immer wieder, er könne Krankenhäuser nicht ertragen. Die nach Desinfektionsmitteln riechende Luft, die Weißkittel, Schwestern und gebrechlichen Patienten machten ihm Angst, er ertrage das nicht. Nun stand er bleich und sprachlos am Krankenbett seiner Mutter. Maja aber fand Worte der Ermutigung und streichelte Martina leicht über den Arm. Sie gab ihr einen kleinen Talisman, ein Spielzeug von Lena. Vor dem Krankenhaus machte Maja Thomas Vorwürfe.
„Ich kann das nicht, ich weiß nicht warum.“
Martina verschwand in die Welt der Operationen, der Apparate, der Klingelgeräusche, der Schwestern und Arztvisiten. Mühsam lernte sie zu Warten: Warten auf das Essen, auf die Untersuchungen, auf das Abholen und Wiederbringen zur Station und vor allem das Warten auf den Besuch. Das letzte Warten war für Martina meist umsonst. Klaus kam so jeden 3. Tag zu ihr und Maja besuchte sie ohne Thomas 2x in dieser Zeit. Maja versuchte mehrfach erfolglos Thomas zu einem Besuch bei seiner Mutter zu überreden.

Nach Intensivstation, Normalstation und Reha kehrte Martina wieder nach Hause zurück. Die Ärzte machten ihr Hoffnung, sie könne vielleicht ab September wieder arbeiten. Ihr Chef versprach ihr, sie wieder zu nehmen. Aber bis September war noch viel Zeit. Diese konnte sie nicht mit Tanzen und Ausgehen überbrücken. Dazu war sie zu schwach. Ihr Kopf zierte oben eine große Narbe und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis ihr lockiges Haar diese verdeckte. Sie trug deshalb ein kleines Kopftuch. Das Laufen fiel ihr schwer. Die Frau die immer schnellen Schrittes durch die Welt gestöckelt war, bewegte sich jetzt mühsam hinter einem Rollator durch ihr Wohngebiet. Das tat sie oft, um das Laufen zu üben. Sie lernte dabei einige Nachbarn kennen. Sie klagte, dass sie sich langweile und nach sich ihrer Arbeit sehne. Klaus erschien immer seltener. Spazierengehen war wohl nicht so sein Ding. Alle Unternehmungen, die beide verbunden hatte, schienen kaum noch möglich. Bis zu Thomas schaffte Martina es anfangs mit dem Rollator noch nicht. Er besuchte sie auch nicht. Irgendwann ging sie mal zum Seniorentreff zu einem Tanztee. Ein 90ig jähriger Mann interessierte sich für sie und sie konnte ihm sogar beim Tanzen folgen. Den Nachbarn erzählte sie danach aber, da gehöre sie wohl denn doch noch nicht hin.

Durch ihre Laufübungen schaffte sie es nach einigen Wochen zur Wohnung von Thomas und Maja. Thomas schaute erschrocken seine abgemagerte Mutter an. Fast hätte er sie nicht erkannt. Statt Kostümchen trug sie jetzt komische unmodische aber bequeme Hosen und einen buntgestreiften Pullover dazu. Statt der High Heels hatte sie bequeme medizinisch korrekte braune Schuhe an den Füßen. Auf ihrem Kopf befand sich ein blaues Kopftuch, das farblich zu nichts passte. Ihre Hautfarbe was unnatürlich gelb. Dazu hielt sich seine Mutter an einem Rollator fest. Maja kam mit Lena auf dem Arm ebenfalls zur Tür. Sie löste die Situation auf, indem sie Martina hereinbat. Schnell stellte sie ein wenig Gebäck auf den Tisch und kochte eins, zwei, drei Kaffee. Währenddessen schwiegen sich Mutter und Sohn an. Maja unterbrach das Schweigen. Sie fragte freundlich Martina nach ihrem Befinden. Diese erzählte, dass sie vielleicht ab September wieder arbeiten könne und viel übe um wieder fit zu werden. Sie sprach von ihren Spaziergängen und den Erlebnissen, die sie dabei hatte. Maja fragte nach den Behandlungen, ihren Fortschritten und was denn der Klaus so mache. Maja konnte viel über die Entwicklung von Lena berichten. Beide Frauen hatten noch nie so lange miteinander gesprochen. Sie schienen nicht zu bemerken, dass Thomas sich nicht am Gespräch beteiligte. Irgendwann begann dieser unruhig auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Schließlich unterbrach er Martina mitten im Satz und sagte, er müsse jetzt hochgehen und noch etwas für seine Arbeit erledigen. Thomas stand auf und verschwand. Beide Frauen sahen ihm verständnislos hinterher. Nach dieser Unterbrechung schien auch ihr Gesprächsfluss versiegt zu sein. Martina bat Maja, doch öfter mal mit Lena und Thomas vorbeizukommen, weil ihr der weite Weg doch noch recht schwer falle. Außerdem lud sie Thomas und Maya zu ihrem Geburtstag ein zu einem Essen in ihrem Lieblingslokal ein. Maja sagte zu. Ihre Eltern würden Lena an diesem Abend sicher nehmen.

Nachdem sie Martina verabschiedet hatte, ging Maja hoch zu Thomas.
„Was war das denn? Das ist deine Mutter, sie ist schwer krank.“
„Ich kann es nicht ertragen, sie so zu sehen, ich weiß nicht…ich halte das nicht aus.“
„Sie war und ist schwer krank und wer weiß wie das noch wird. Sie hat so viel für Dich getan. Ich kann Dich nicht verstehen. Deine Mutter muss damit leben. Sie kann auch nicht sagen, ich halte das nicht aus. Sie braucht Dich jetzt.“
„Ich hatte aber wirklich noch was zu tun und ihr Besuch war ja nicht geplant.“
„Geplant... Apropos geplant. Deine Mutter hat uns zum Essen zu ihrem Geburtstag ins ‚Formate‘ eingeladen“. Schreibe Dir den Termin mal gleich in deine ‚Planungen‘, damit Du ihn Dir freihältst.“
Thomas wurde blass: „Ins ‚Formate‘, aber…aber….da essen auch immer viele Klienten von mir, wichtige Klienten. Das...äh…das geht nicht, nicht mit dem ‚Formate‘.“
„Was ist denn da schlimm dran, dass da auch Klienten von Dir essen? Du sollst mit uns essen und nicht mit den Klienten!“
„Ja aber das geht nicht. Hast Du gesehen, wie die aussieht? Geschmacklos angezogen! Meine Mutter konntest Du immer vorzeigen, deswegen haben sie sie ja in der Kanzlei genommen. Wenn mich einer meiner Klienten mit ihr sieht, bin ich den los.“
Maja holte tief Luft: „Thomas deine Mutter ist schwer krank und mal gar nicht ‚die‘! Ich kenne Dich so nicht, das Du so abfällig über deine Mutter redest. Was hat sie Dir den getan? Scheiß auf den Klienten, der Dich wegen ihr nicht mehr will. Du kommst mit zum Geburtstag ins ‚Formate‘ oder wir beide haben dann auch ein Problem miteinander.“
Maja verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

An Martinas Geburtstag saßen Maja und Martina allein im „Formate“. Seine Sekretärin rief Maja an. Sie solle ausrichten, dass der Prozess wohl länger dauere als geplant. Thomas sei auch erst mal nicht zu erreichen. So war es denn auch. Maja erreichte ihn erst eine Stunde später. Doch Thomas sagte, er müsse jetzt anschließend noch unbedingt etwas mit seinem Klienten besprechen. Maja war empört und bestand erst mal darauf, dass Thomas seiner Mutter gratuliere. Danach nahm sie das Telefon an sich und bekundete ziemlich lautstark ihr Unverständnis über Thomas Fernbleiben. Einige Gäste drehten sich schon nach ihr. Martina hörte traurig zu. Dann tippte sie Maja kurz am Arm an.
„Ich vermisse Thomas sehr. Ich habe lange nicht mit ihm reden können und ihn auch lange nicht gesehen. Ich verstehe ihn auch nicht mehr. Aber er ist immer noch mein Sohn. Sei nicht ganz so streng zu ihm. Ich möchte dass es ihm gut geht.“

Maja kam jetzt öfter bei Martina vorbei, meistens mit Lena. Immer wieder versuchte Maja Thomas zu bewegen mit zu kommen. Aber er schob stets dienstliche Termine vor. Ab und zu stritten sie noch darüber, aber Maja war es leid.
Martina fiel es wieder schwerer zu laufen. Die Ärzte machten bei ihren Besuchen ernste Gesichter. Davon, dass sie im September wieder arbeiten könne, sprach niemand mehr. Klaus kam kaum noch vorbei.

Eines Tages ging Martina mit Maja in der Nähe ihrer Wohnung spazieren. Plötzlich fing sie an zu zittern. Das Zittern begann ganz langsam und steigerte sich durch den ganzen Körper. Die Beine schienen dem Körper nicht mehr gewachsen und knickten ab. Maja konnte Martina gerade noch so abfangen und auf die Wiese neben dem Weg betten. Das Zittern aber wurde immer stärker und nahm Martinas ganzen Körper ein. Maja rief den Rettungsdienst an, der versprach schnell zu kommen. Sie versuchte Martina in die stabile Seitenlage zu bekommen. Aber es gelang Maja nicht ganz. Hilflos sah sie sich um, als könne dies den Rettungsdienst aus dem nächsten Gebüsch zaubern. Sie setzte sich vor die krampfende Martina und sprach ihr gut zu.
„Komm zurück, wir brauchen Dich doch noch. Die Lena braucht ihre Oma…komm zurück…“
Aber das Zittern und Krampfen hörte nicht auf. Endlich erschien der Rettungsdienst. Maja ließ ihn arbeiten und stand wie in Trance daneben. Die Rettungssanitäter befragten sie zu Martinas Erkrankung und sie beantwortete die Fragen fast automatisch. Nein sie sei nicht ihre Tochter, nur die Schwägerin. Ja, sie könne den Sohn anrufen. Sie schilderte Thomas die dramatische Situation. Aber selbst jetzt erhielt sie die Antwort, er sei unabkömmlich wegen irgendetwas.
„Du kommst jetzt her oder ins Unikrankenhaus, da bringen sie Martina hin. Das muss sein, sagen sie! Ich kann nicht mitfahren, ich muss jetzt Lena aus der Kita holen. Du bist der Sohn!“ wütend legte Maja auf und lies Thomas keine Zeit für eine Antwort.
Sie ging noch immer etwas empört zurück in Martinas kleine Wohnung, stellte den Rollator in den Flur und suchte Martinas Krankenkassenkarte. Dann schloss sie die Wohnung sorgfältig ab und übergab die Chipkarte den Rettungssanitätern.
Martina krampfte im Rettungswagen weiter. Es gelang nicht ,sie wieder ins Leben zurückzuholen. Maja besuchte sie noch einmal auf der Intensivstation.

Thomas saß im Wohnzimmer der kleinen Wohnung, in welcher er viele Jahre mit Martina gewohnt hatte. Er hielt in seinen Händen ein Bild, das ihn im Alter von 2 Jahren auf dem Schoß seiner Mutter zeigte. Wortlos betrachtete er es endlos lang von allen Seiten, wieder und immer wieder.
Er blickte zu Maja auf und sagte leise zu ihr:
„Es ist zu spät.“
Maja sah Thomas in die Augen, lange und eindringlich.
Dann antwortete sie traurig: „Ja…es ist zu spät…“

Sie nahm Lena an die Hand und ging langsam mit ihr aus dem Halbdunkel der kleinen Wohnung hinaus. Sie liefen den Weg vorm Haus entlang, vorbei an jener Stelle, an welcher Martinas Tumor endgültig die Oberhand gewann.
 
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ahorn

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Hallo Haike Dahl,

willkommen im Club. Ich hoffe, dass du dein Können, deine Inspiration in die Leselupe einbringst.
Dein Skript "Zu Spät" liest sich vielversprechend und wenn du deinen Bleistift spitzt und daran arbeitest, wird es vielleicht sogar eine gute Geschichte. Also rann ans Werk und zeige uns, was du kannst.
Habe keine Scham, zu fragen. Alle Autoren in der Leselupe, die Literatur lieben, werden dir gerne behilflich sein.

Gruß
Ahorn
 



 
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