Zweiköpfiger, tierfreier Nichtraucherhaushalt mit einem PKW

Zweiköpfiger, tierfreier Nichtraucherhaushalt mit einem PKW


Es brummte in Annas Handtasche. Anne holte ihr Smartphone heraus. „Seid ihr im Urlaub? Oder guckt ihr schon nach Wohnungen?“, interessierte sich Ralf per WhatsApp. Anne kannte Ralf erst seit ein paar Monaten. Sie hatte einen Zeitungsartikel über sein Kunstatelier gelesen und wollte mit ihren selbstgemalten Acrylbildern bei ihm ihr Glück als „Trittbrettfahrerin“ versuchen. Anne hatte sich für eine frech-nette Art und Weise entschieden: „Wäre es möglich auch eins von meinen unbedeutenden Bildern bei dir im Atelier auszustellen?“ Mit ihrer Ausstellung in Ralfs Atelier wurde es nichts. Daraus resultierte jedoch eine gute Kumpelschaft.

„Schade, dass wir uns bald verabschieden müssen. Ihr wart nette Nachbarn“, meinte Ralf neulich, als Christian und Anne bei ihm und seinem Partner Bertram zu Besuch waren. Anne fand es auch schade: „Das Bedauern ist ganz unsererseits. Wenn ich dich schon mal gefunden habe, will ich dich nicht so schnell wieder verlieren.“ Anne scherzte wie gewohnt: „Wir sind nicht aus der Welt. Wir werden euch bestimmt unseren neuen Wohnort verraten.“ Alle vier lachten.

xxx
Eine Woche später brachen Anne und Chris auf der Suche nach Wohnmöglichkeiten auf. Sie wollten sich für den Anfang die in Frage kommenden Orte anschauen und später dort zunächst den Mietwohnungsmarkt erforschen. Es begann eine große und spannende Reise, die einem Urlaub zwar ähnelte, dennoch kaum damit vergleichbar war. Sie steuerten an einem Tag mehrere Städte an, liefen zu Fuß die jeweiligen Stadtmitten ab und notierten ihre Ersteindrücke. Sie führten eine unkomplizierte Plus-Minus-Liste. Abends im Hotel waren die beiden jedes Mal froh, die Beine hochlegen zu dürfen. Die Erkundung des neuen Terrains beanspruchte ihre unteren Extremitäten besonders stark.

„Wo zieht ihr hin? Nach Franken ins Bier-Eldorado?“ Es hatte sich im Bekanntenkreis herumgesprochen. Das war nicht verwunderlich. Im Zeitalter der medialen Essensdarstellung standen bei Anne und Christian dagegen die hopfenhaltigen Erfrischungsgetränke im Vordergrund. In jedem Ort suchte Christian Brauhäuser auf. Je mehr es davon gab, desto sympathischer wirkte der jeweilige Ort auf ihn. Alles hatte seine Berechtigung. In Franken wird die Bierbraukunst sehr gepflegt und geachtet. Es gibt viele Kleinbrauereien, die großen Wert auf eigene Familienrezepte legen. Qualität behält die Oberhand.

Für Anne und Christian ging es in erster Linie um gemütliche Geselligkeit. Sie mochten die langen Biertische. Man käme nicht umhin, sich zu anderen Biergartengästen zu gesellen. Es ergäben sich interessante Gespräche. Das wäre eine Möglichkeit mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, etwas Neues zu entdecken, Erfahrungen auszutauschen und den eigenen Horizont zu erweitern. Sie waren weltoffen und die Welt öffnete sich vor ihnen.

xxx

Am Montag ging es schon wieder nach Hause. Der Wetterbericht sagte weiterhin viel Nässe voraus, wie eigentlich schon in der ganzen „Geschäftsreisewoche“. „Wir sind nicht zum Spaß unterwegs. Wir sind auf Geschäftsreise“, wiederholte Christian andauernd. Geschäftsreise hin oder her. Scĥietwetter blieb Schietwetter. Die beiden waren letztendlich heilfroh, dass ihnen die verheerenden Folgen des Dauerregens erspart blieben. Man sprach in den Nachbarländern von einer Ausnahmesituation, die man noch nie erlebt habe: Jahrhundert-Überschwemmungen, mehrere zerstörte Dämme und sogar, leider Gottes, Menschenopfer. Ihr Kumpel Merkur schickte zwischendurch seine Fotos aus Bratislava. Die Donau war für ihn wortwörtlich zum Greifen nah, circa zwanzig Meter von seiner Haustür entfernt.

„Glück gehabt“, atmete Christian entspannt auf. Anne verspürte auch eine ziemliche Erleichterung: „Das ist echt ein Wunder. Mit unserem Glück.“ „Ja, wir sind sonst eher mit dem Pech, wenn nicht verwandt, dann sehr eng befreundet“, schmunzelte Christian.

xxx

Seit acht Monaten beschäftigten sich Christian und Anne mit dem Verkauf ihres Hauses. Die Entwicklung der Dinge war am Anfang so positiv, dass sie schon zwei Monate später dachten, alles hinter sich gebracht zu haben. Das war jedoch nicht der Fall. Das kleinliche Verhalten der ersten potentiellen Käufer führte dazu, dass Anne und Christian schweren Herzens den Verkaufsprozess kurz vor dem Notartermin abbrechen mussten. Danach durften sie viel weniger Schmeichelhaftes über sich erfahren. Die Beiden waren sich in ihrer Entscheidung einig: „Wir lassen das Mulmige der Gegenwart in der Vergangenheit, zugunsten einer unbeschwerten Zukunft.“ Für Christian stand fest: „Dank eben dieser Erfahrung werden wir die nächsten verbindlichen Schritte bei der Anmietung der Wohnung erst nach der Abwicklung und Erledigung aller Verbindlichkeiten beim Verkauf des Hauses vornehmen.“ „Du hast recht“, stimmte Anne ihrem Mann zu. Das monotone Vorlesen des gesamten Vertrages durch den Notar war nicht die langwierigste Prozedur in der Kette der darauf folgenden Formalitäten.

Anne und Christian sahen es positiv. Jede Verzögerung im Verkaufsprozess war eine Chance zu ihren Gunsten. Sie gewannen dadurch mehr Zeit für die Wohnungssuche. Beide Parteien erhofften bis Weihnachten aus dem Groben raus zu sein. Das war der Plan „Maximum“. Ansonsten waren alle Beteiligten regelrecht gespannt, wie weit sie bis zum Jahresende kommen würden.

Vor zwölf Jahren wechselten die beiden jeweils von 40 zu 180 Quadratmeter Wohnfläche. Glaubt nicht, dass es zu viel war. Das schien nur die erste Zeit beim Renovieren so zu sein. Später genossen die beiden die großzügigen Flächen für ihre Privatsphäre. „Das wird für uns eine nicht zu unterschätzende Umstellung werden“, machte Christian sich Sorgen. „Denke an die eingesparten Heizkosten, ans weniger Putzen, daran, keinen Rasen mehr mähen zu müssen...“, argumentierte Anne stimmungshebend. Sie persönlich machte sich nur Sorgen um ihre vielen selbstgemalten Bilder. Hoffentlich würde sie genug Platz für sie haben. Die Tapete, zumindest in Annes Zimmer, wäre dann überflüssig.


xxx

Eines Abends holten die beiden ihre große Feuerschale aus der Scheune. „Wohl zum letzten Mal“, vermutete Anne. „Diese Freiheit wird es höchstwahrscheinlich in einer Mietwohnung für uns nicht geben.“ Auch wenn die Balkongröße, nur angenommen, das annähernd erlauben würde, konnten sie sich so viel Mitmenschenliebe kaum vorstellen. Umso freudiger machten sie es sich noch einmal gemütlich auf der Bank am Holzbackofen.

Dort hatte Christian mal vor Jahren extra für die Feuerschale passend eine kreisförmige Fläche mit Feldsteinen gepflastert. Die außergewöhnlich warme Septembernacht war mit einem sternenklaren Himmel und einem Vollmond wie für ein Abschiedsfeuerchen geschaffen. „Apropos Sternenhimmel“, musste Anne schon vorweg schmunzeln.

„Erinnerst du dich noch an den Zeitungsartikel „Wo wir der Milchstraße am nächsten kommen?“
„Klar, es ist aber schon etwas länger her“, runzelte Christian nachdenklich die Stirn. „Wie hieß es nochmal? Das Zentrum des Nirgendwo? Die Metropole der Einsamkeit?“
„Genau, der am dünnsten besiedelte Landkreis. Laut Bertram statistisch unbesiedelt“, lachte Anne.
„Stimmt, das hat er gesagt, als wir neulich bei ihm im Gutshaus zu Besuch waren.“
„Egal wie, für diejenigen, die liebend gern Sterne beobachten, ist es hier das Paradies.“ In dem Moment fiel es Anne ein: „Die ISS könnte sich langsam zeigen.“
„Hast du nachgeschaut, wann sie in unseren Breiten ihre Runde dreht?“

Anne schaute sehnsüchtig in den dunklen Himmel. Ohne Brille verwechselte sie zwischendurch den Polarstern mit der internationalen Raumstation. Und siehe da… .

„Sie kommt! Sie kommt!“, freute sich Anne, einen großen, nicht blinkenden Stern über dem Haus beobachten zu können. Sie filmte das schnell auf sie zukommende Flugobjekt. Das machte sie nicht das erste Mal, obwohl eine Handy-Kamera das unmöglich gut wiedergeben konnte. Es war Anne im Grunde völlig egal. Sie hatte ihren Spaß dabei: „Was man hat, das hat man. Löschen kann man immer.“

Die beiden wussten, dass sie sich an solche Momente später nicht unbedingt wehmütig jedoch sehr gern erinnern werden. Sie sahen auf jeden Fall keinen Grund fürs Trübsal-Blasen und freuten sich auf die neuen Überraschungen, die das Leben für sie sicherlich bereits parat hielt.

xxx

An einem Montagnachmittag bekam Anne es nicht aus ihrem Kopf: Ein Abschied sei wie ein bisschen Sterben… . Sie wusste nicht mehr, woher der Text stammte. Die Assoziation stimmte aber. In ihrer Heimat pflegte man zu sagen: „Über Tote wird entweder gut oder gar nicht geredet.“ In der Phase „Abschied nehmen“ herrschte positive Stimmung. Anne und Christian trafen sich mit Menschen, mit denen sie sich gut verstanden hatten. Alles verlief einen Tick sentimentaler und offenherziger als gewohnt. Anne verschenkte ihre selbstgemalten Bilder. Sie überlegte sich möglichst persönliche und symbolische Abschiedsgeschenke. Für ihre Kumpeline Marte bemühte sie sich um etwas ganz Besonderes. Der nette Nachbar Lutz war hauptberuflich ein bekannter Schriftsteller. Lutz signierte freundlicherweise für Marte sein Buch. Anne durfte den historischen Augenblick mit ihrer Kamera festhalten. Für den Literaturpreisträger selbst ergab sich auch eine Überraschung.
Lutz: „Die Zeichnung vom Haus ist wirklich sehr schön.“
Anne: „Ich schenke sie dir.“
Lutz: „Ach, mein Porträt hast du auch mit reingelegt?“
Anne: „Das ist für deine Mutter. Grüß sie schön von mir.“
Lutz: „Danke. Das mache ich sehr gern!“
Seine Erleichterung war nicht zu übersehen. Lutz mochte sein Porträt nicht wirklich.


xxx

Die Wohnungssuche lief weiter erfolglos. Ein Zurück gab es jedoch nicht. Das stand fest. Drum fingen Christian und Anne schon langsam an, nach und nach die Umzugskartons zu packen. Das war Herausforderung genug. Sie hatten vor, sich zu verkleinern und zwar mindestens um zwei Drittel der aktuellen Wohnfläche. Eine gute Gelegenheit, ihr ganzes Hab und Gut ordentlich auszusortieren und sich endlich mal von den geschenkten Sammeltassen und Ähnlichem zu trennen.

Es war eine bewegte Zeit. Nicht nur für Anne und Christian persönlich. In dieser Zeit gehörte zu den Wohnortwahlkriterien auch die gegenwärtig regierende Partei im jeweiligen Bundesland. Die Nachfolgerin von den beiden durfte erleichtert aufatmen. Die Kommunalwahlergebnisse vom letzten Sonntag fielen besser als befürchtet aus. Das koalierte Regieren war dagegen immer noch ein Rätsel. Anne und Christian dagegen war ein wenig mulmig bei dem Gedanken, ob ihre Herkunft für ihren potentiellen Vermieter als eher ungünstig beziehungsweise unerwünscht eingestuft werden könnte.

Eines verregneten Oktobermorgens ging es wieder auf Reisen. Dieses Mal hatten die Lebenskünstler Christian und Anne ein besseres Gefühl. Den Titel „Lebenskünstler“ hatten sie von einer guten Bekannten weg, die Anne und Christian ehrlich bewunderte.

Nun nahmen eben diese wahren Lebenskünstler einige für sie in Frage kommenden Wohnungen ins Visier. Sogar ein Besichtigungstermin war ausgemacht. Das Telefonat mit dem Vermieter hinterließ im Vorfeld einen guten, vielversprechenden Eindruck. Sie packten ihre 50x40x20 cm Köfferchen. Man brauchte nicht viel. Es läpperte sich trotzdem zusammen. Anne schleppte einen Beutel Tabletten mit. Sie musste für die Tabletten auch ständig Wasser mit sich führen. Dieses Mal legte sie einen Flachmann in die Handtasche und war schon auf manche schräge Blicke gespannt. Ausschlaggebend war für ihre Wahl die flache Form des Behälters. Sie war einfach praktisch. Die Handtasche beinhaltete auch so schon einen halben Hausrat. Alles für alle möglichen Fälle, die eintreten konnten, aber es in der Regel nie taten.

Anne schaute in den ziemlich leeren Kühlschrank hinein und stellte mit Genugtuung fest, dass Chris sich vor der Reise in puncto Lebensmittelrettung zurückhalten konnte. Eine ganze Salatgurke lachte sie aus dem Gemüsefach noch an. Kurzentschlossen wurde die Gurke auch mitgenommen. Christian wickelte sie schmunzelnd in eine Stoffserviette ein, befestigt mit einem Schnipsgummi: „Bei uns darf niemand ins Gepäck schauen. Sie mit einem Flachmann, er mit einer Gurke… .“ Anne drehte sich lachend zu Christian um und fand ihn quasi kriechend auf dem Fußboden vor. „Der Gummi ist gerissen.“ Die Stimmung war merklich heiter an jenem Reisemorgen.

xxx

Es war ein langer Reisetag geworden. Am frühen Morgen lief alles gut und pünktlich. Christian meinte noch in seinem jugendlichen Leichtsinn: „Kaum zu glauben… .“ Niemand glaubte das wirklich. Die Folgeanschlüsse funktionierten schlecht bis gar nicht. Manches Mal war man über eine Verspätung froh. Das war dann, wenn man den nächsten Zug nicht ohne Nerven zu lassen, aber immerhin kriegen konnte. Die marode Technik der Bahn verursachte andauernd Stolperfallen „on the road“. Am meisten ärgerten sich Anne und Christian über die „Geisterzüge“. Man stand schon an einem vom Fahrplan abweichenden Gleis. Man nahm eine sich immer länger hinziehende Verspätung in Kauf. Alle Termine verstrichen. Die Anzeige verschwand vom Monitor. Alle möglichen Apps berichteten vom weiteren Fortbewegen des jeweiligen Zuges. Man fühlte sich weiterhin am Gleis stehend mild ausgedrückt veräppelt. Man konnte doch nicht eingenickt sein. Das müsste dann ein phänomenales, gemeinschaftliches Einnicken der nicht zusammengehörenden Menschengruppe mit einem unterschiedlichen Müdigkeitsgrad gewesen sein. Die Vertröstung auf eine nächste Beförderungsmöglichkeit in circa einer Stunde war weniger hilfreich. Man wollte doch eigentlich gern diesen sich gerade in der Luft aufgelösten Zug nehmen. So war zumindest der Plan. Gottes Pläne für und mit uns sind bekanntlich unergründlich. Was soll’s?

Anne und Christian versuchten, es gelassen zu sehen. Sich aufzuregen, nützte wenig, war aber leider unvermeidlich. Die Blutdruckwerte schossen von alleine hoch. Besonders wenn man durch die KI-Durchsagen noch von einem Gleis zum anderen und wieder zurück herumgeschickt wurde.

„Wir sind immerhin mit unseren kleinen Koffern schön flexibel“, konnte es Christian nicht lassen, sich selbst zu loben. Er bestand tatsächlich jedes Mal auf kompaktem Gepäck. Ihre längeren Überseereisen waren eine Ausnahme. Dann durfte ein für ihre Verhältnisse etwas größerer Koffer mitgenommen werden. Als ihre Nachbarin sie mal freundlicherweise zum Bahnhof gefahren hatte, musste sie fragen: „Und wo ist euer Gepäck?“

Egal wie klein die Koffer zu sein schienen, brachten sie trotzdem plus, minus je zehn Kilo auf die Waage. Das stellte bei der modernen Ausstattung der Bahnhöfe gewöhnlich kein Problem dar. Die Aufzüge waren geräumig, unkompliziert und für jedes Alter gerecht gebaut. Da gingen auch die etwas langsameren, älteren beziehungsweise behinderten Herrschaften mit. Man musste keine Angst haben, in Eile mit seinem sperrigen Gepäck oder Fahrrad in der Aufzugstür eingeklemmt zu werden. Die Aufzüge waren jedoch gleich langsam, auch wenn man nicht behindert, ohne sperrige Gegenstände und in Eile war. Anne meinte dazu: „Ich glaube, dass die Aufzüge dem Stressabbau und der Entschleunigung dienen sollen.“ Der Wahrheitsgehalt dieser Hypothese war eher fraglich.

xxx

Irgendwann wurden Anne und Christian fündig. Das geschah irgendwo zwischen Regensburg und Passau. Den Grundwortschatz der Region ihres neuen Lebensmittelpunktes beherrschten die beiden mittlerweile einigermaßen. Sie grüßten Leute mit „Grüß Gott!“ und nahmen Abschied mittels eines freundlichen „Pfiat eich“ beziehungsweise griffen auf die praktische Universalform „Servus“ zu.

Die Wohnung war schön. Die Lage erfüllte leider nicht alle Voraussetzungen. Anne hatte das Gefühl, dass sie es wieder einmal zuließen, sich von Gefühlen steuern zu lassen. Die Chemie zwischen Anne und Christian und den Vermietern stimmte. Jede Partei wollte das Ganze schnell über die Bühne bringen. Der Preis stimmte. Die Vermieter suggerierten, dass sie die letzten fünf Jahre keine Mieterhöhung vorgenommen hatten. „Bleiben Sie dabei!“, meinte Anne halb scherzhaft, halb ernsthaft. Alle vier mussten lachen. Es gab darauf ein Versprechen, die Miete ohne Not nicht in die Höhe zu treiben. Anne musste es für sich im Stillen zugeben, dass das mit der Lage in der Tat Jammern auf hohem Niveau war.

xxx

Um kurz vor fünf Uhr war die Nacht zu Ende. Das war nicht verwunderlich. Anne schlief seit gestern Abend um sechs. Auch wenn nicht durchgehend, mit kleinen Unterbrechungen. Irgendwann mal war es aber genug.

Chris und Anne waren seit gestern wieder unterwegs. Dieses Mal mit ihrem Auto, das voll mit ihrem Krimskrams gepackt war. Alles Sachen für die Überbrückung der ersten Zeit in der neuen Wohnung bis zum Eintreffen des eigentlichen Umzugstransports.

Die Schlüsselübergabe war für den 31. Dezember geplant. Anne hatte ein Déjà-vu. In ihr stark sanierungsbedürftiges Haus wollten Chris und Anne damals unbedingt noch im ersten Jahr einziehen. Das schafften sie. Sie saßen vor zwölf Jahren am 31. Dezember in ihrer guten Stube auf Gartenstühlen vor dem auf die Schnelle auf einen Karton gestellten Fernseher. Der Plan wurde erfüllt. Der noch bevorstehende Aufwand war für die beiden zu dem Zeitpunkt noch nicht zu bemessen und das war auch gut so.

Heute war erstmal der 30. Dezember. Anne und Christian machten einen Zwischenstopp irgendwo auf halber Strecke. Anne war um fünf in der Früh schon ausgeschlafen und schmiedete Pläne. In Kürze wollte sie ihren Mann wecken und ihn Kaffee zum Frühstück holen lassen. Heute musste es weitergehen. Schon in die unmittelbare Nähe zu ihrem neuen Domizil, um dort morgen am 31. Dezember, nachdem alle notwendigen Maße abgenommen worden waren, auf zwei Klappstühlen vor dem auf die Schnelle auf einen Karton gestellten Fernseher zu sitzen. Die großen, bequemen Gartenstühle hatten leider nicht mehr ins Auto gepasst.

xxx

Nachdem unsere beiden Tausendsassas Christian und Anne spartanisch und ganz entspannt in ihrer neuen Mietwohnung ins neue Jahr reingerutscht sind, und es in der Silvesternacht beim Feuerwerk sogar geschafft haben, eine flüchtige Bekanntschaft mit der neuen Nachbarschaft von links zu schließen, kehrten sie in die alte Heimat zurück.

Der Umzug war eine besondere Zeit. Eine Zeit, während der man sich an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig zu Hause fühlte. Man fuhr in beiden Richtungen nach Hause. Das war eine Zeit der Zerrissenheit, des Loslassens und der Vorfreude, des Heimwehs und Gespannt-Seins. Das war die Zeit der letzten Anstrengung, des fleißigen Anpackens also des Endspurts.

An diesem Abend saß Anne besonders lange im Flur vor dem Ofen, den Christian selbst erbaut hatte. Nein, der Mann von Anne war kein Ofenbauer. Der Kostenvoranschlag für solch einen haute die beiden seinerzeit ganz schön vom Hocker. Christian musste in den letzten dreizehn Jahren nebenbei mehrere Handwerke erlernen. Es ging Anne an dem besagten Abend jedoch nicht darum. Sie realisierte einfach, dass das vertraute und gewohnte Feuer hinter der Scheibe jedes Ofens im Haus ab sofort fehlen wird. In den letzten Monaten heizte Christian jeden Tag mehrmals alle Öfen an. Das war der Endspurt. Das war wie das Nach-Luft-Schnappen kurz vor dem letzten Atemzug. Das war etwas, das sonst täglich nur Arbeit machte und jetzt auf einmal viel Freude bereitete, und das die beiden schon jetzt vermissten.

xxx

Der Countdown lief. Die Sachen waren gepackt. Anne fuhr schon am nächsten Tag mit dem Zug los. Chris – einen Tag später mit dem Auto, nachdem das Transportunternehmen ihr Umzugsgut aufgeladen hatte. Der Plan stand fest. Anne hatte das Gefühl, die Brücken hinter ihrem Rücken schon angezündet zu haben. Nicht alle. Jedoch die meisten. Für den Umzug gab es tausendundeinen Grund. Chris und Anne mussten langsam die Wohnsituation in Einklang mit gesundheitlichen Umständen bringen und in weiser Voraussicht auch schon altersgerecht irgendwo anders gestalten. Fast noch schwerwiegender war der Grund, dass sie mittlerweile das dringende Bedürfnis hatten, die Tapete zu wechseln. Und das nicht nur urlaubsmäßig, vorübergehend, sondern für immer. Ihre bisherige Umgebung neigte zu ihrem Bedauern dazu, gern ihre alte, muffige „Tapete“ zu behalten. Oder am liebsten gar die verstaubten, noch von der Oma auf dem Dachboden sicher deponierten Tapetenrollen herunterzuholen. Eine Zeit des Nachweinens nach den alten Zeiten. Die nostalgische Stimmung war in. Die ältere Generation vertraute auf ihr lückenhaftes Langzeitgedächtnis. Die jüngere Generation, die sonst nie auf die Alten hören wollte und immer alles besser wusste, ließ sich in die gemeinschaftliche Verblendung mitreißen. Das war nicht im Sinne von Chris und Anne. Sie konnten den alten Staub schlecht ab. Das One-Way-Ticket in die neue, frisch gemalerte Mietwohnung war schon geraume Zeit gebucht.

xxx

Anne holte ihre in Alufolie eingewickelten Brote heraus, überlegte kurz, entschied sich gegen den Schinken für den Käse und biss in die „Bauernkruste“ - die Lieblingssorte, die Chris mittlerweile im Schlaf backen konnte.

Das alte, gute, belegte Brot erlebte seine Renaissance. Es raschelte und knisterte von rechts und links in Zügen, Bussen und Flugzeugen. Die Brote wurden aus Alufolie, Frühstücksbeuteln, Plastikbehältern herausgeholt, je nach individueller Vorliebe der Reisenden. Anne konnte sich vorstellen, dass auch die sogenannten Tupperpartys aktuell ihre Wiedergeburt erleben dürften, wenn die Firma nicht gerade insolvent gegangen wäre. Der Mensch spürte momentan zunehmende Existenzängste und gab ungern viel Geld für die inzwischen überteuerten Konsumgüter aus. Die Gastronomie war führend bei der neuen Preisgestaltung und verlor dadurch entsprechend die Kundschaft. Die potenziellen Kunden kauten fröhlich ihre selbstgeschmierten Brote und bewunderten dabei wechselnde Landschaften aus dem Fenster im Zug, Bus oder Flugzeug.

xxx

Die Abendsonne spendete schönes, warmes Licht. Die Süd-West-Ausrichtung der Fenster ermöglichte es, sie zu genießen. Das war ein schöner Tagesausklang. Das war etwas fürs Auge und für die Seele. Diese Konstellation freute Anne und Chris in ihrer neuen Mietwohnung besonders. Die letzten Umzugskartons waren schon beiseite geräumt. An den Wänden hingen bereits die zahlreichen, selbstgemalten Bilder von Anne. Christian und Anne waren aus dem Groben raus. Tausend Kleinigkeiten waren geblieben, mussten noch erledigt und organisiert werden. Aber eben lediglich Kleinigkeiten.

Chris erinnerte sich an ihren früheren Nachbarn: „Josef würde sagen: nach und nach… gemach-gemach… .“
Anne musste lächeln: „Josefs Umzugskartons sind immer noch voll, die er vor gefühlt zwanzig Jahren gepackt hatte. Die Ausdauer haben wir beide nicht.“
Chris nickte: „Das ist wohl wahr.“
 



 
Oben Unten