zweites Kapitel: grenzwertig
Auf einmal stand dort ein Polizist an der Mauer, nur wenige Meter von dem Geldautomaten entfernt. Natürlich war der nicht vom Himmel gefallen, stand bestimmt schon länger dort, doch Markus Dörner hatte ihn einfach nicht gesehen, ärgerte sich jetzt über seine mangelnde Wachsamkeit, war aber bereits viel zu nah gekommen, als dass er einfach hätte umdrehen können. Das hätte verdächtig ausgesehen und wäre dem Uniformierten mit Sicherheit aufgefallen.
Obwohl es nicht seine erste Begegnung mit einem Polizisten war und ihn bisher alle in Ruhe gelassen hatten, überfiel Markus jedes Mal eine große Nervosität und musste er jeweils den Drang unterdrücken, einfach Hals über Kopf das Weite zu suchen. Dabei gab es wohl keinen vernünftigen Grund, derartig nervös zu sein.
Öffentlich nach ihm gefahndet wurde jedenfalls nach wie vor nicht, da war Markus sicher, denn er hatte die Medien jeden Tag aufmerksam verfolgt und nie auch nur die kleinste Notiz entdeckt. OK, am heutigen Morgen hatte er erstmals darauf verzichtet, eine Zeitung zu kaufen, und die beim Frühstück ausgelegen hatte, war nicht vollständig gewesen. Die Fernsehnachrichten hatten aber wie immer nichts gebracht, und Markus hatte zum ersten Mal gedacht, dass er nicht mehr damit rechnen müsse, plötzlich ein Bild von sich im Fernsehen oder auf einem Plakat zu sehen. Dass seine Flucht noch immer nicht aufgefallen war, war sicher auszuschließen, also hatte man sich offensichtlich entschlossen, sein Verschwinden nicht an die große Glocke zu hängen. Warum auch immer.
Der Geldautomat war mittlerweile erreicht.
In den vergangenen Tagen hatte er schon einige aufgesucht. Sie waren ja praktisch überall, und wenn die Gelegenheit günstig zu sein schien, griff Markus immer zu einer seiner Karten. Es war wirklich kaum zu glauben, aber alle hatten anstandslos funktioniert, und jeder Automat problemlos den zulässigen Höchstbetrag ausgespuckt. Insofern war es eigentlich nicht unbedingt erforderlich, auch diesen Automaten noch anzuzapfen. Falls der Polizist gerade nicht zu ihm rüberguckte, könnte Markus vielleicht doch noch verschwinden, aber um das herauszufinden, müsste er ja selbst in Richtung des Polizisten gucken, und das unterließ er dann doch lieber. Er hatte noch eine Sparkarte, die er bisher nicht eingesetzt hatte, die steckte er jetzt in den Schlitz. Kam es ihm nur so vor, oder dauerte es dieses Mal wirklich viel länger, ehe auch diese Karte endlich erkannt und akzeptiert wurde? Der Automat wollte gerade die Geheimzahl wissen, als Markus auf einmal eine freundliche, aber dennoch markante Stimme direkt neben sich hörte: „Guten Tag, Sir!“
Markus blickte in das Gesicht des Polizisten, hoffte, dass man ihm seinen Schrecken nicht allzu deutlich ansah, und nickte stumm.
„Was Sie da tun, ist ziemlich leichtsinnig“, sprach der Polizist weiter, zeigte auf Markus’ Portemonnaie, und der nickte erneut, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, was gemeint war.
„In letzter Zeit hatten wir hier einige Probleme mit Taschendieben, da sollten Sie Ihre Geldbörse besser nicht in der offenen Gesäßtasche mit sich führen. Sie würden es gar nicht merken, wenn man sie Ihnen aus der Hose zöge.“
Markus trug keine Jacke, hätte das Portemonnaie also nur in der Hand halten können, wenn er es nicht in die Hose stecken wollte, verspürte aber wenig Lust, den Polizisten auf diesen Umstand aufmerksam zu machen.
Endlich bekam er den Mund auf, bedankte sich und versprach in Zukunft besser aufzupassen, fragte sich dann, ob er die Geheimzahl nicht längst schon eingetippt hatte. Der Automat wollte sie auf jeden Fall immer noch wissen. Hatte er ihn wegen Zeitüberschreitung rausgeschmissen? Markus gab die Nummer noch einmal ein, dann merkte er, dass der Polizist immer noch hinter ihm stand. Was wollte der noch hier?
„Seien Sie vorsichtig, Sir!“, sagte er jetzt, dann zog er endlich von dannen.
Warum hätte Markus dieses Mal nicht den Höchstbetrag abheben sollen? Da war so ein Impuls in ihm, dass es nach der Begegnung mit dem Polizisten vielleicht besser sein könnte, aber das war derartig lächerlich, dass Markus nicht verstehen konnte, wie dieser Gedanke sich in sein Hirn eingenistet hatte.
Als das Geld kam, steckte er die Scheine rasch ein und ging zu seinem Auto, merkte dann aber gleich, dass er noch ein bisschen brauchen würde, ehe er losfahren könnte. Er legte beide Hände ans Steuer und hielt sich daran fest, damit seine Finger endlich aufhörten zu zittern.
Warum hatte der Blick in das Gesicht des Polizisten ihm einen solchen Schrecken eingejagt? Die Augen waren hinter den großen Gläsern der Sonnenbrille gar nicht richtig zu erkennen gewesen, aber gerade dieser Anblick kam ihm vor wie ein furchtbares Déja-vu-Erlebnis. Hatte es im Forschungszentrum eine ähnliche Situation gegeben?
Möglich wäre das, denn die Wachen verbargen ihre Gesichter zumeist auch hinter großen Sonnenbrillen, und diejenigen von ihnen, die eine Uniform trugen, hatten jeweils auch eine Kappe aufgehabt, die der des Polizisten ähnlich sah. Normalerweise hatte Markus ein sehr gutes Gedächtnis, konnte sich jetzt aber an keine Situation erinnern, in der er plötzlich und aus nächster Nähe in das Gesicht einer der Wachen geblickt hatte.
Nach der Machtübernahme hatte er sich immer möglichst im Hintergrund gehalten, um nur ja jedes Aufsehen zu vermeiden. Gegen das offenkundige Unrecht zu protestieren war doch vollkommen sinnlos. Die neuen Herren machten sofort unmissverständlich klar, dass ihnen jedes Mittel recht war, um ihre Befehle durchzusetzen, und wer das partout nicht einsehen wollte, lebte heute wahrscheinlich nicht mehr. Zwar hatte Markus nie mit eigenen Augen gesehen, wie einer seiner Kollegen erschossen oder auf andere Weise umgebracht wurde, aber es war schon verdammt auffällig, dass immer diejenigen, die allzu sehr rebellierten, dann auf einmal spurlos verschwanden, einfach nicht mehr da waren, ohne dass die Frage nach ihrem Verbleib eine Antwort bekam. Alle waren sich einig gewesen, dass die Verschwundenen nur tot sein konnten, und schließlich hatte sich die Erkenntnis breitgemacht, dass keine noch so große wissenschaftliche Reputation helfen konnte, die eigene Ohnmacht zu überwinden, und der Verweis auf gute Freunde an der Spitze der NASA oder der US-Administration die Wachen ebenfalls wenig beeindruckte.
Niemand konnte sich erklären, aus welchem Grund diese Wachen unter allen Umständen verhindern wollten, dass die Ergebnisse der Wissenschaftler an die Öffentlichkeit gelangten, niemand wusste, wer diese Leute überhaupt waren. Ganz am Anfang war kaum einer von denen in dem Forschungszentrum gewesen, auffällig wurde ihre immer größer werdende Zahl erst, als sich abzeichnete, dass alle Berechnungen die zuvor nur vermuteten Befürchtungen bestätigten. Markus erinnerte sich an den Spott, mit dem die Wissenschaftler den neuen Bewohnern des Forschungskomplexes am Anfang begegneten: „Die Männer in den dunklen Anzügen“ wurde schnell zu einem geflügelten Ausdruck und galt denjenigen von ihnen, die keine Uniformen trugen. Bestimmt waren das die oberen Dienstgrade, doch deren Anwesenheit war ebenso sinnlos wie die ihrer uniformierten Kollegen. Die Arbeit der Wissenschaftler konnten diese Leute schwerlich unterstützen, unternahmen ja auch keine Anstalten in diese Richtung, standen nur scheinbar teilnahmslos herum, wurden immer zahlreicher, mischten sich aber immer noch nicht ein, bis sie zu jenem Zeitpunkt, da die Wissenschaftler sich entschlossen, mit ihren Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, dann auf einmal ihre Waffen zückten: keine Pressekonferenz, keine Kameras oder Mikrophone, der schnelle Griff zum Telefon war sinnlos, weil nur noch die internen Leitungen freigeschaltet waren, alle Handys wurden einkassiert und der Weg ins Internet war ab sofort nur noch unter Aufsicht möglich.
Was anschließend folgte, war beinahe skurril, denn abgesehen davon, dass die Wissenschaftler in dem Komplex festgehalten und von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten wurden, ließen die neuen Herren sie gänzlich in Ruhe. Ob die Forscher an ihrem Auftrag weiterarbeiteten, die eigentlich längst schon abgeschlossenen und mehrfach überprüften Berechnungen noch ein weiteres Mal durchcheckten oder weiter nach einem noch so unwahrscheinlichen Ausweg für die Menschheit suchten, interessierte die neuen Herren scheinbar überhaupt nicht. Wer den Schlaftrakt nun gar nicht mehr verließ oder sich nur noch in der Kantine oder im Fitnessbereich aufhielt, blieb völlig unbehelligt, so lange er nicht aufbegehrte. Es gab keine morgendlichen Zählappelle oder etwas Vergleichbares, die Türen innerhalb des Komplexes standen fast immer offen und höchst selten nur wurde einer der Schlafräume kontrolliert. Das Regiment war trotzdem rigoros und unerbittlich gewesen, und Markus spürte, dass die Erinnerung daran nicht unbedingt hilfreich beim dem Versuch war, seine Nerven so weit zu beruhigen, dass er endlich losfahren könnte.
Der Parkplatz der Mall war gut gefüllt, die anderen Autos boten eine gewisse Deckung, so dass er sich noch ein wenig Zeit lassen konnte, obwohl er natürlich nichts erreichen würde, so lange er regungslos hier auf diesem Parkplatz verharrte.
Er musste unbedingt raus aus diesem Land, das inzwischen anscheinend überhaupt keine internationalen Regeln und Gepflogenheiten mehr beachtete und sich jeglicher Rechenschaft entzog. In den Nachrichten und Magazinsendungen im Fernsehen wurde gerade oft darüber diskutiert, ob der Einmarsch in den Irak, dessen Rechtfertigung sich mittlerweile als völlig haltlos herausgestellt hatte, nicht trotzdem richtig gewesen sei, und die Misshandlung oder Folterung von Gefangenen nicht ein ganz legitimes Mittel der Politik. Unter Umständen würde eine Mehrheit in diesem Land selbst die Zustände in dem Forschungszentrum und das Vorgehen der Wachen als legitim und richtig bezeichnen, wenn die ganze Sache erst ans Licht käme.
Als die Wissenschaftler im Forschungszentrum noch glaubten, dass es ihre Entscheidung sei, ob die Welt die Ergebnisse ihrer Berechnungen erführe, hatte Markus in all den Diskussionen nie eine klare Meinung gehabt. Vielleicht war doch eher zu erwarten, dass die Menschheit sich in ihren letzten Jahren noch gewalttätiger und unzivilisierter verhalten würde als bisher, und waren die Hoffnungen derjenigen, die glaubten, dass das Wissen um das baldige Ende die Sinnlosigkeit aller internen Auseinandersetzungen und Kriege offenbaren und zu einem friedlicheren Umgang führen würde, nicht mehr als idealistische Träumereien.
Einige meinten aber von Anfang an, dass es selbst im Falle schlimmster Befürchtungen trotzdem ethisch geboten war, das Wissen preiszugeben. Dass diese Leute schließlich kundtaten, sich einer anderslautenden Mehrheitsentscheidung im Zweifelsfall nicht beugen zu wollen, hatte es Markus leicht gemacht, sich dieser Auffassung anzuschließen, ohne dass er jemals geplant hatte, an vorderster Front mitzuwirken, wenn es um die Präsentation ging.
Jetzt war es an ihm, diese Aufgabe zu erledigen, und er war wild entschlossen, das so bald wie eben möglich zu tun, wobei es ihm allerdings in erster Linie darum ging, seine weiterhin gefangenen Kollegen endlich zu befreien.
Hinter sich hörte er auf einmal eine Kinderstimme fragen: „Papa, was macht der Mann da?“, wusste nicht, ob diese Worte ihm überhaupt galten, fühlte seinen zuvor nur mühsam beruhigten Puls dennoch gleich wieder rasen, startete den Wagen, fädelte sich in den Verkehr ein und versuchte sich auf das Fahren zu konzentrieren, hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, welches Ziel er ansteuern sollte.
Ob es vielleicht doch eine Chance gab, an der Grenze einfach durchgewinkt zu werden? Daran gedacht hatte er schon oft, manchmal versucht, sich Mut zuzusprechen, denn er sah natürlich längst nicht mehr so heruntergekommen aus wie unmittelbar nach seiner Flucht, hatte sich mehrere Garnituren Kleidung und einen neuen Koffer besorgt; sein kleiner Mietwagen war unauffällig und erregte kein Aufsehen. Alle Menschen, denen er bisher begegnet war, hatten ihn wie einen ganz normalen Touristen behandelt, und so lange er sich nicht verdächtig verhielt, fiel er doch nicht auf, vielleicht auch an der Grenze nicht.
Jetzt ging er so fest er konnte in die Eisen, schloss instinktiv die Augen und hoffte inständig, dass der Wagen rechtzeitig zum Stehen käme. War ihm das gelungen? Vielleicht hatte es doch eine Berührung gegeben, aber wenn, dann war die war nur ganz sacht ausgefallen, und was sollte ein kleiner Schubser diesem Ungetüm vor ihm anhaben können? Markus kannte solche Fahrzeuge nur aus den Fernsehberichten über den Irakkrieg, aber der Wagen, der jetzt unmittelbar vor ihm stand, war silbern lackiert und offensichtlich ein Zivilfahrzeug. Er selbst saß in seinem Kleinwagen viel zu tief, um durch das Rückfenster in das Innere des Hummers gucken zu können. Wahrscheinlich war es am besten, wenn er überhaupt nichts tat.
Die Hoffnung, dass es keine weiteren Konsequenzen geben würde, zerstob allerdings in dem Augenblick, da eine bullige Gestalt an der Fahrerseite auftauchte. „Fahr zurück, Mann!“, fauchte der Stiernacken Markus an, als der sich gerade anschickte, ebenfalls aus seinem Wagen auszusteigen. Sobald ein kleiner Spalt zwischen den Fahrzeugen entstand, ging der Mann in die Knie und suchte mit den Augen und bald darauf auch mit den Fingern den gesamten unteren Heckbereich seines Autos akribisch nach vermeintlichen Schäden ab.
„Du hast mehr Glück als Verstand“, sagte der Stiernacken zu Markus, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. „Sei froh, dass ich ein richtiges Auto fahre, und nicht so eine Konservenbüchse wie du.“
Er wandte sich beinahe schon zum Gehen, als eine Frau auf der Beifahrerseite neben dem Fahrzeug auftauchte. „Sollen wir nicht doch lieber die Polizei rufen, Schatz? Vielleicht ist etwas kaputt, das man nicht gleich sieht.“
„Nicht bei unserem Hummer, Mäuschen. Dem kann so eine Japsenkiste nicht wehtun.“
„Lass dir wenigstens den Führerschein zeigen! Man weiß ja nie.“
Der Stiernacken streckte seine Hand in Markus’ Richtung.
„Was soll denn das sein?“, fragte er, als Markus ihm seinen Führerschein überreichte. Wenig später begriff er anscheinend, denn bevor Markus etwas sagen konnte, schnaubte er: „Ein Ausländer! Lass uns fahren, Mäuschen! Es ist nichts passiert.“
Markus wartete, bis die beiden verschwunden waren, hob seinen Führerschein vom Asphalt auf und setzte sich ebenfalls wieder in sein Auto.
Wie hatte er die rote Ampel übersehen können? So etwas durfte ihm einfach nicht passieren! Er wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn die beiden darauf bestanden hätten, die Polizei zu holen, denn sein Pass wie keinen Einreisestempel auf.
Als Markus vor Jahren in dieses Land gekommen war, war er noch im Sicherheitsbereich des Flughafens in Empfang genommen worden. Der Mann hatte damals nicht einmal ein Schild mit seinem Namen hochgehalten, ihn gleich angesprochen und dann umgehend zu dem Helikopter geleitet, der ihn zum Forschungszentrum brachte. Wer hätte in einer solchen Situation an die Einhaltung von Formalitäten denken sollen? Dass das fehlende Visum einmal zu einem Problem werden könnte, lag damals jenseits aller Vorstellungskraft, doch jetzt war das anders.
Seit seiner Flucht hatten nur die Bediensteten in den verschiedenen Hotels und beim Mietwagenverleih einen Pass sehen wollen, und die hatten lediglich das Foto verglichen oder die Nummer notiert, ohne nach einem Stempel zu suchen. Ein Polizist aber würde vielleicht genauer hinschauen, und an der Grenze wäre das bestimmt ebenso. Das Risiko, es trotzdem einfach zu versuchen, war demnach viel zu groß, zumal Markus ja nicht sicher sein konnte, dass sein Name nicht doch auf einer Fahndungsliste stand.
Die Alternative war, jemanden zu finden, der ihn illegal außer Landes brächte. Jemand, der ihm entweder einen gefälschten Pass und ein gültiges Flugticket nach Europa verschaffte oder ihn notfalls in einem Viehtransporter über die Grenze bringen würde.
Kontakte zu einem kriminellen Milieu hatte Markus allerdings noch nie in seinem Leben gehabt und auch jetzt nicht die leiseste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Das mittlerweile angesammelte Bargeld mochte langsam reichen, um einen Fluchthelfer zu bezahlen, obwohl er eigentlich überhaupt nicht einschätzen konnte, wie hoch die geforderte Summe sein würde. Bezahlen würde er sie auf jeden Fall, schon der vagste Hinweis wäre ihm eine üppige Belohnung wert, aber wo sollte er zu suchen anfangen?
~ ~ ~ ~ ~
Es war kein wirklich ernstgemeinter Versuch, als er „Hilfe illegale Ausreise USA“ bei Google eingab. Markus wusste selbst nicht, warum er das tat, erinnerte sich dann aber daran, dass er vor vielen Jahren schon einmal etwas ähnlich Sinnloses getan hatte: Damals brütete er über dem Abschlussbericht seines ersten eigenen Projekts und tippte in einem Moment, da sein Kopf völlig leer zu sein schien, „Warum grinst du so blöd?“ in das Feld der unermüdlich lächelnden Büroklammer auf dem Bildschirm ein, in dem zuvor stets die Aufforderung „Bitte geben Sie Ihre Frage ein!“ gestanden hatte.
Im Prinzip war seine aktuelle Situation der von damals durchaus ähnlich, denn auch jetzt fiel ihm nichts mehr ein, was er noch versuchen könnte. Bei Wikipedia waren alle Änderungen, die er unter verschiedenen Namen eingetragen hatte, erneut verworfen worden; gleiches galt für die Diskussionsforen über Fragen der Astronomie, die er ausfindig gemacht und in denen er durchaus eine Menge Sachverstand angetroffen hatte. Seine Nicks waren samt und sonders gesperrt, und jetzt gab es sogar eine allgemeine Veränderungssperre für alles, was den Planeten Saturn und vor allem seinen Mond Hyperion betraf. Es blieb eben dabei: Hyperion war zwar eines der merkwürdigsten Objekte unseres Sonnensystems, beinahe einzigartig mit seiner nicht annähernd runden Form ohne jede Regelmäßigkeit und seiner vollkommen chaotischen Rotation um eine wild im Raum eiernde Achse, aber trotzdem ein seit Jahrmillionen treuer Trabant seines Planeten. Dass sich daran in wenigen Jahren etwas ändern und Hyperion sogar zu einer Gefahr für die Erde werden sollte, widersprach allem, was die Wissenschaft bisher herausgefunden hatte und zu wissen glaubte. Wer behauptete, dass es dennoch passieren würde, konnte nur ein durchgeknallter Spinner sein.
Markus erinnerte sich, wie ungläubig auch er zunächst reagiert hatte, als damals der Anruf kam, der ihn in das Forschungszentrum rief. Kein Mond, und sei er noch so sonderbar, konnte jemals aus dem Einflussbereich seines Planeten herausgeschleudert werden, das war schlichtweg unmöglich! Nach seiner Ankunft im Zentrum hatte es auch noch etliche Zeit gedauert, ehe Markus schließlich eingestehen musste, dass die Berechnungen der anderen keine Hirngespinste waren und keine Fehler enthielten.
Der Versuch, jetzt als Einzelkämpfer den Rest der Welt aufzuklären, war vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er brauchte die Kollegen, deren Freilassung ihn doch sowieso viel mehr interessierte als die Bekanntgabe der Ergebnisse.
Über 100.000 Treffer zeigte Google als Ergebnis von Markus’ Anfrage an, was ihn kurzzeitig schmunzeln ließ. Die große Zahl kam allerdings nur zustande, weil die Suchmaschine die Anfrage eigenmächtig verändert hatte und ganz selbstverständlich davon ausgegangen war, dass nur illegale Einwanderung gemeint sein konnte. Die USA waren eben nach wie vor das große El Dorado für viele Menschen auf diesem Planeten, ein Land, in das man irgendwie und beinahe um jeden Preis hinein-, aber aus dem man bestimmt nicht wieder hinauswollte.
Fast alle der empfohlenen Seiten beschäftigten sich mit den kaum noch zählbaren Versuchen von Mexikanern und anderen Latinos, zu Fuß über die Grenze in die USA zu gelangen. Trotz aller aufwändigen Sicherheitsmaßnahmen und Absperrungen schlüpften jeden Tag etliche von ihnen unentdeckt durch das Netz.
Es einfach auf demselben Weg in entgegengesetzter Richtung zu versuchen, hatte Markus durchaus auch schon in Erwägung gezogen, aber das Risiko wäre vielleicht noch größer als bei dem Versuch, mit dem Auto einen regulären Grenzübergang zu überqueren. Da waren doch überall Infrarotkameras, und viele illegale Einwanderer wurden etliche Male aufgegriffen, ehe sie es endlich schafften. Soweit Markus wusste, wurden diese Leute dann lediglich erkennungsdienstlich behandelt und anschließend wieder abgeschoben, was in seinem Fall sicher anders wäre.
Er musste einen anderen Weg finden, aber hier in diesem Internet-Café würde ihm das bestimmt nicht gelingen. Er konnte also eigentlich auch wieder gehen, spürte aber, dass er das noch nicht wollte. Die Abende in den verschiedenen Hotelzimmern waren grausam und lang, fast immer dauerte es halbe Ewigkeiten, ehe er endlich einschlafen konnte, auch wenn er mittlerweile nicht mehr jeden Augenblick damit rechnete, dass sein Zimmer gleich von einem Rollkommando gestürmt würde. Hinter einem Bildschirm verging die Zeit leichter und schneller, und das Café, das er heute gewählt hatte, schien außerdem beinahe ideal zu sein: Es war kaum etwas los, und der Typ an der Aufsicht erkennbar von einem Computerspiel gefesselt, so dass er sich wohl eher nicht dafür interessierte, was die wenigen Kunden an ihren Rechnern taten.
Vielleicht sollte er sich doch noch einmal an die deutsche Botschaft in Washington wenden? Seine erste Anfrage war bisher ohne Antwort geblieben, was aber vielleicht nur daran lag, dass er sie viel zu vage formuliert hatte: Dass er ein Schriftsteller sei, hatte er behauptet, der für eine Szene in einem Roman wissen wolle, was geschehen würde, wenn ein deutscher Staatsbürger an die Tür klopfte und angab, kein noch so geringes Verbrechen begangen zu haben und trotzdem Hilfe zu brauchen, weil er von den US-Behörden gejagt werde. Wahrscheinlich nahm ihn niemand ernst. Wäre das anders, wenn er seinen richtigen Namen nannte und detailliert schilderte, was ihm widerfahren war? In einem diktatorisch regierten Dritte-Welt-Land würde ihm bestimmt vorbehaltlos die Tür aufgemacht, vielleicht sogar geholfen, in die Obhut der Botschaft zu gelangen, aber hier in den USA?
Einen Versuch war es vielleicht trotzdem wert. Als er zu schreiben anfangen wollte, sah er, dass er eines der astronomischen Diskussionsforen noch in einem Tab geöffnet hatte, und bevor er dieses schloss, fiel ihm auf, dass jemand ein neues Thema eröffnet hatte und fragte: „Wo ist der Mondverschieber?“
Zwei der Moderatoren hatten bereits geantwortet, dass der Account des Sonderlings gesperrt sei, weil das Forum Wert auf Seriosität lege und Spinnern keinen Platz bieten wolle, doch der Frager hatte noch einmal geschrieben und inständig darum gebeten, seinem Aufruf zumindest noch eine kleine Frist zu gewähren, da er dringend Kontakt suche, der dann selbstverständlich außerhalb des Forums stattfinden würde. Eine E-Mail-Adresse war aufgeführt, bei der der Mondverschieber, wie es erneut hieß, sich melden sollte.
War das eine Falle? Die Möglichkeit bestand durchaus, doch Markus beschloss, es trotzdem zu versuchen. Wenn er gleich morgen aus dieser Stadt verschwände, wieder einen weiten Weg zurücklegen und dabei erneut die Richtung ändern würde, wäre das Risiko vielleicht überschaubar.
Zur Sicherheit richtete er sich noch eine weitere neue E-Mail-Adresse ein und schrieb: „Hier bin ich, allerdings weder ein Mondverschieber, noch ein Spinner. Was kann ich für dich tun? Antworte schnell!“
Er spürte das Adrenalin in sich aufsteigen, kaum dass er die Nachricht abgeschickt hatte. Immerhin war es möglich, dass bereits in diesem Augenblick versucht wurde, den Computer ausfindig zu machen, von dem die Botschaft abgeschickt worden war. Markus wusste nicht, wie lange das dauern würde und er noch gefahrlos hier verweilen konnte, aber wenn es keine Falle war, musste er dem Adressaten Zeit für eine Antwort geben.
Wie lange sollte das sein? Sofern dieser Kerl überhaupt gerade online war und seine Mails immer sofort abrief und las, würden trotzdem mindestens zehn Minuten vergehen, ehe Markus mit einer Antwort rechnen könnte. 15 Minuten würde er warten, beschloss er schließlich. Wenn bis dahin nichts gekommen wäre, würde er abhauen. Die Wartezeit würde er sich dadurch verkürzen, dass er einen Entwurf für ein neues Anschreiben an die Botschaft schrieb. Er gab seinen Namen, die Nummer seines Reisepasses und seinen letzten Wohnsitz in Deutschland an, versuchte anschließend Worte zu finden, die möglichst seriös und glaubhaft schilderten, was geschehen war, ahnte aber bei jedem neuen Buchstaben, dass das Geschriebene trotzdem viel zu phantastisch klang, als dass er hoffen konnte, Gehör zu finden.
„Ich will das ganze Szenario kennen! Die Idee ist spitze, ich möchte sie unbedingt haben und zahle gut dafür!“, las er auf dem Bildschirm, als er zwischendurch wieder einmal nachsah, ob eine Antwort gekommen war.
Es war ernüchternd, diese Worte zu lesen, denn wer immer sie geschrieben hatte, nahm ihn in jedem Fall nicht ernst. Wahrscheinlich ein Spinner. Markus hätte die Sache bestimmt gleich ad acta gelegt und keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, wenn er nicht gerade selbst in einer Situation gewesen wäre, in der er fürchten musste, beinahe überall als Spinner bezeichnet zu werden. Vermutlich war das der einzige Grund, warum er diesen kleinen Kontakt, so wertlos er am Ende sein mochte, nicht gleich wieder abreißen lassen wollte.
Er versuchte, sich einen Reim aus den wenigen Worten zu machen, fragte sich plötzlich, ob da vielleicht ein Filmproduzent am anderen Ende saß. Sollte die Menschheit aus einem Spielfilm erfahren, was ihr bevorstand? Der Gedanke war vollkommen abstrus, und noch verrückter war, dass ein solcher Film, wenn er denn tatsächlich gedreht würde, wahrscheinlich erst zu einem Zeitpunkt in die Kinos käme, da selbst Hobbyastronomen feststellen könnten, dass es keine Spinnerei war. Ein Kassenschlager wäre das in jedem Fall.
Falls er es hier wirklich mit einem Produzenten zu tun haben sollte, würde der die Geschichte aber ganz bestimmt trotzdem nicht drehen wollen, war Markus sicher. Für einen Produzenten musste die Sache uninteressant sein, einfach weil sie keine Möglichkeit bot, einen oder mehrere Helden aufzubauen. Die Wissenschaftler konnten nur verkünden, was sie herausgefunden hatten, aber keinen Ausweg anbieten. Niemand konnte irgendetwas tun!
„Aus welchem Land schreibst du?“, tippte Markus in die Tastatur und schickte es auf die Reise, überlegte dann, wie lange dieser Mann schon dort in seinem Blickfeld saß. Dass die Tür zwischendurch aufgegangen und jemand hereingekommen war, war Markus offensichtlich entgangen, obwohl er sich zuvor fest vorgenommen hatte, darauf zu achten. Der Mann saß an einem der anderen Rechner, Markus sah ihn im Profil und fragte sich plötzlich, ob das der Polizist war, der ihn am Nachmittag an dem Geldautomaten angesprochen hatte. Wenn er es war, hatte er jetzt offensichtlich Feierabend, denn er trug Zivilkleidung. Trotzdem war es sicher besser, nicht allzu oft und auffällig zu ihm rüberzugucken.
Irgendwann musste Markus wieder lernen, einen ganz und gar natürlichen Umgang mit Polizisten zu finden. Früher hatte er nie darüber nachgedacht, was er tun sollte, wenn er eine Uniform sah. Jetzt wusste er nicht mehr, wie er sich damals verhalten hatte, ob er öfter hin- oder weggeguckt hatte. Das war immer ganz von allein passiert, und jetzt war das anders, jetzt war er nervös, und das sah man wahrscheinlich, und dieses Wissen machte ihn zusätzlich nervös. So war es jetzt schon wieder, denn er überlegte, ob er grüßen sollte, falls es zu einem Blickkontakt mit dem Mann käme, bei dem er immer noch nicht sicher war, ob es tatsächlich der Polizist war.
„Warum ist dir das wichtig? Aber OK, ich bin Deutscher und schreibe auch von dort“, tauchte auf dem Bildschirm auf. In Deutschland graute doch jetzt beinahe schon wieder der Morgen. Das musste natürlich nicht heißen, dass der andere log, aber Markus blieb vorsichtig.
„Dann mache ich auf deutsch weiter“, schrieb er und fügte noch hinzu: „Gibt es eine Möglichkeit, schneller zu kommunizieren?“
Die 15 Minuten waren natürlich längst verstrichen, doch Markus entschied, dass sie zu ängstlich kalkuliert waren. Es würde viel länger dauern, den Computer ausfindig zu machen, und danach müsste ja erst noch jemand auf den Weg geschickt werden. Er würde sich wieder dem Schreiben an die Botschaft widmen, während er auf eine erneute Antwort wartete.
Sie kamen zu viert und gingen entschlossen und professionell zur Sache: Einer blieb an der Tür, zwei andere postierten sich so im Raum, dass sie jeden Winkel einsehen konnten und alle Besucher des Internet-Cafés im Visier hatten, der vierte ging mit schnellen Schritten zum dem Mann am Aufsichtsplatz, der erschrocken zusammenzuckte. Dieser vierte trug Zivilkleidung, die anderen waren uniformiert und hatten ihre Waffen deutlich sichtbar im Anschlag. Jeder Gedanke an Flucht war vollkommen zwecklos.
„Übertreibst du nicht ein bisschen mit deinem Bohai? Aber bitte: Dieser Link führt zu einem Forum, das schon seit Jahren brach liegt. Habe dich dort als „Hoelderlin“ angemeldet. Password: Schiebermond. Bis gleich.“
So schnell er konnte, loggte Markus sich in das Forum ein und versuchte gleichzeitig, das Geschehen in dem Café nicht aus den Augen zu verlieren. Der Mann, der zum Aufsichtsplatz gegangen war, erteilte dem Typ am Rechner immer neue Anweisungen, sprach dabei aber viel zu leise, als dass Markus seine Worte hätte verstehen können. Die übrigen verharrten an ihren Plätzen und warteten. Dass Markus weiter seine Tastatur bediente, schien ihnen nicht aufzufallen oder sie nicht zu stören. Markus kopierte den noch nicht annähernd fertigen Entwurf für das Schreiben an die Botschaft in das Textfeld des Forums und fügte hinzu: „Wenn ich gleich verstumme, bin ich widerrechtlich festgenommen und entführt worden, werde dann bestimmt nicht mehr lange leben. Im Südwesten der USA existiert ein abgeschirmtes Forschungszentrum, in dem noch viel mehr Wissenschaftler festgehalten werden, gegen alle Gesetze.“
„Keine Bewegung!“, hörte Markus jetzt laut und deutlich, klickte trotzdem noch auf „Absenden“, ehe er seine Hände hob, um sie gleich wieder sinken zu lassen.
Die beiden Polizisten, die zuvor in der Mitte des Raumes gestanden hatten, waren jetzt am Rechner des Mannes, von dem Markus immer noch nicht sicher sagen konnte, ob es der Polizist von dem Geldautomaten war. Einer legte ihm Handschellen an, brachte ihn zur Tür und zusammen mit dem Polizisten, der dort gewartet hatte, aus dem Café. Der andere Polizist nahm an dem Rechner Platz, an dem der abgeführte Mann bis gerade gesessen hatte.
„Markus Dörner? Das glaube ich ja nicht! Ich bin’s, Gerrit! Gerrit Brinkmann. Was ist los?“, tauchte auf Markus’ Bildschirm auf. Während seine Augen dies lasen, vernahmen seine Ohren: „Er hat es wohl bereits abgeschickt“, und Markus brauchte wieder einen Moment, um zu begreifen, dass er nicht gemeint war. Die Worte kamen aus dem Mund des Polizisten, der jetzt an dem Rechner saß, und galten dem Mann in Zivil, der immer noch am Aufsichtsplatz stand.
„Gerrit? Das glaube ich auch nicht! Und du wirst nicht glauben, was ich in den letzten Jahren erlebt habe. Ich schwebe in großer Gefahr, auch wenn es jetzt gerade so aussieht, als sei der Kelch noch einmal an mir vorbeigegangen.“
Als Markus die neue Botschaft abschickte, ging die Tür des Cafés auf und der Polizist, der die meiste Zeit dort gestanden hatte, kam wieder herein. Er ging zu dem Mann in Zivil und machte eine angedeutete Kopfbewegung in Markus’ Richtung, während er leise redete. Markus fühlte das Blut in seinen Adern gefrieren, als die beiden sich zu ihm umdrehten und auf ihn zukamen. Der Mann in Zivil sprach ihn an, wollte einen Ausweis sehen. „Haben Sie keinen Pass dabei?“, fragte er nach, als Markus ihm seinen Führerschein gab. Markus schüttelte den Kopf und hoffte, dass man ihm die Lüge nicht ansah. „Kennen Sie den Mann, den wir gerade verhaftet haben?“, wollte der Polizist weiter wissen. Markus schüttelte erneut den Kopf und brachte mit großer Mühe „Nein Sir, nie gesehen“ hervor.
„Mein Kollege hat mir gerade erzählt, dass Sie vorhin Ihre Hände gehoben haben, beinahe so, als rechneten Sie damit, selbst auch verhaftet zu werden“, gab der Polizist noch immer keine Ruhe.
„Ich habe den Befehl vernommen und nicht sofort gesehen, ob er nicht vielleicht uns allen galt, hatte zuvor auf den Bildschirm geguckt, weil gerade eine neue Nachricht von meinem Freund aus Deutschland kam. Wahrscheinlich habe ich gedacht, dass es besser sei, die Hände zu heben, statt eventuell jemanden mit einer Waffe in der Hand nervös zu machen.“
Markus wunderte sich selbst über seinen plötzlichen Ideenreichtum, der seine Wirkung nicht zu verfehlen schien, denn der Polizist musterte ihn zwar weiterhin durchdringend, nickte jetzt aber leicht mit dem Kopf.
„Sein Name steht auf der Liste, Sir!“, hörte Markus den Uniformierten sagen, der immer noch an dem Rechner des Abgeführten saß.
Der Zivilpolizist ging dort hinüber, und Markus las auf seinem Bildschirm: „Wollen die dich wirklich laufen lassen? Ob die wissen, mit wem sie es zu tun haben?“
„Es ist leider verdammt ernst, Gerrit. Die Gefahr ist zurück, ich muss aufhören. Erreiche ich dich noch unter deiner alten Telefonnummer?“
„Nein: +3-2-5+2+6+1+7“
„Alles klar. Melde mich so bald wie möglich. Danke.“
„Besitzen Sie eine Sparkarte der Deutschen Postbank, Sir?“, fragte der Zivilpolizist. „Haben Sie die bei sich?“
Markus holte sein Portemonnaie hervor, bemühte sich vor allem nicht zu zeigen, was sich sonst noch alles darin befand, als er die Sparkarte herauszog. Der Polizist nahm sie, ging zurück zu dem anderen Rechner, drehte sich dann wieder zu Markus und sagte: „Die Geheimzahl lautet 3478, nicht wahr? Sie sollten Ihre Karte umgehend sperren lassen, am besten sofort, auf der Stelle. Außerdem muss ich Sie bitten, morgen aufs Revier zu kommen, um Anzeige zu erstatten. Bitte bringen Sie dann auch Ihren Pass mit.“
Markus spürte, dass es noch in dieser Nacht geschehen musste. Es war nicht aussichtsreicher als in all den Nächten zuvor, aber er konnte unmöglich morgen auf diesem Revier auflaufen, und wenn er nicht erschiene, würden sie ihn sicher suchen.
Gerrit konnte ihm jetzt nicht helfen, also beschloss Markus, ihn erst morgen anzurufen. Wenn alles gut ginge, wäre er dann in Mexiko. Den Code für die Errechnung der neuen Nummer hatte er sich eingeprägt und war sicher, ihn nicht zu vergessen.
Auf den Straßen war kein Mensch und kein Auto mehr unterwegs. Zum Hotel waren es nur ein paar Blocks, die Markus vorhin zu Fuß gegangen war. Jetzt wünschte er sich den Wagen herbei, doch ins Zimmer hätte er sowieso noch einmal gemusst, denn er wollte dort nichts zurücklassen.
Dem Nachtportier sagte er, dass er einen Anruf bekommen habe und in einer dringenden Angelegenheit auf der Stelle abreisen müsse, als er ihm den Schlüssel gab. Der Mann war sehr jung und wirkte beinahe etwas überfordert, doch die Rechnung war ja bereits bezahlt.
Markus setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Die leeren Straßen wirkten hinter dem Steuer genauso unheimlich wie zuvor als Fußgänger, obwohl es doch sicher ein Vorteil war, dass nicht viel los war.
Zur Grenze war es nicht weit.
Als sie näher kam, sah Markus zwar Lichter, aber keine Menschen. Er verringerte das Tempo, schaute genauer hin, konnte aber immer noch niemanden ausmachen. Fuhr er jetzt schon verdächtig langsam? Er beschleunigte wieder und überlegte, wie schnell er fahren würde, wenn es ihm egal wäre, ob er kontrolliert würde. Es war nicht möglich, unter diesen Bedingungen eine Antwort zu finden, aber er fuhr und fuhr, und dann war er durch.
Auf einmal stand dort ein Polizist an der Mauer, nur wenige Meter von dem Geldautomaten entfernt. Natürlich war der nicht vom Himmel gefallen, stand bestimmt schon länger dort, doch Markus Dörner hatte ihn einfach nicht gesehen, ärgerte sich jetzt über seine mangelnde Wachsamkeit, war aber bereits viel zu nah gekommen, als dass er einfach hätte umdrehen können. Das hätte verdächtig ausgesehen und wäre dem Uniformierten mit Sicherheit aufgefallen.
Obwohl es nicht seine erste Begegnung mit einem Polizisten war und ihn bisher alle in Ruhe gelassen hatten, überfiel Markus jedes Mal eine große Nervosität und musste er jeweils den Drang unterdrücken, einfach Hals über Kopf das Weite zu suchen. Dabei gab es wohl keinen vernünftigen Grund, derartig nervös zu sein.
Öffentlich nach ihm gefahndet wurde jedenfalls nach wie vor nicht, da war Markus sicher, denn er hatte die Medien jeden Tag aufmerksam verfolgt und nie auch nur die kleinste Notiz entdeckt. OK, am heutigen Morgen hatte er erstmals darauf verzichtet, eine Zeitung zu kaufen, und die beim Frühstück ausgelegen hatte, war nicht vollständig gewesen. Die Fernsehnachrichten hatten aber wie immer nichts gebracht, und Markus hatte zum ersten Mal gedacht, dass er nicht mehr damit rechnen müsse, plötzlich ein Bild von sich im Fernsehen oder auf einem Plakat zu sehen. Dass seine Flucht noch immer nicht aufgefallen war, war sicher auszuschließen, also hatte man sich offensichtlich entschlossen, sein Verschwinden nicht an die große Glocke zu hängen. Warum auch immer.
Der Geldautomat war mittlerweile erreicht.
In den vergangenen Tagen hatte er schon einige aufgesucht. Sie waren ja praktisch überall, und wenn die Gelegenheit günstig zu sein schien, griff Markus immer zu einer seiner Karten. Es war wirklich kaum zu glauben, aber alle hatten anstandslos funktioniert, und jeder Automat problemlos den zulässigen Höchstbetrag ausgespuckt. Insofern war es eigentlich nicht unbedingt erforderlich, auch diesen Automaten noch anzuzapfen. Falls der Polizist gerade nicht zu ihm rüberguckte, könnte Markus vielleicht doch noch verschwinden, aber um das herauszufinden, müsste er ja selbst in Richtung des Polizisten gucken, und das unterließ er dann doch lieber. Er hatte noch eine Sparkarte, die er bisher nicht eingesetzt hatte, die steckte er jetzt in den Schlitz. Kam es ihm nur so vor, oder dauerte es dieses Mal wirklich viel länger, ehe auch diese Karte endlich erkannt und akzeptiert wurde? Der Automat wollte gerade die Geheimzahl wissen, als Markus auf einmal eine freundliche, aber dennoch markante Stimme direkt neben sich hörte: „Guten Tag, Sir!“
Markus blickte in das Gesicht des Polizisten, hoffte, dass man ihm seinen Schrecken nicht allzu deutlich ansah, und nickte stumm.
„Was Sie da tun, ist ziemlich leichtsinnig“, sprach der Polizist weiter, zeigte auf Markus’ Portemonnaie, und der nickte erneut, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, was gemeint war.
„In letzter Zeit hatten wir hier einige Probleme mit Taschendieben, da sollten Sie Ihre Geldbörse besser nicht in der offenen Gesäßtasche mit sich führen. Sie würden es gar nicht merken, wenn man sie Ihnen aus der Hose zöge.“
Markus trug keine Jacke, hätte das Portemonnaie also nur in der Hand halten können, wenn er es nicht in die Hose stecken wollte, verspürte aber wenig Lust, den Polizisten auf diesen Umstand aufmerksam zu machen.
Endlich bekam er den Mund auf, bedankte sich und versprach in Zukunft besser aufzupassen, fragte sich dann, ob er die Geheimzahl nicht längst schon eingetippt hatte. Der Automat wollte sie auf jeden Fall immer noch wissen. Hatte er ihn wegen Zeitüberschreitung rausgeschmissen? Markus gab die Nummer noch einmal ein, dann merkte er, dass der Polizist immer noch hinter ihm stand. Was wollte der noch hier?
„Seien Sie vorsichtig, Sir!“, sagte er jetzt, dann zog er endlich von dannen.
Warum hätte Markus dieses Mal nicht den Höchstbetrag abheben sollen? Da war so ein Impuls in ihm, dass es nach der Begegnung mit dem Polizisten vielleicht besser sein könnte, aber das war derartig lächerlich, dass Markus nicht verstehen konnte, wie dieser Gedanke sich in sein Hirn eingenistet hatte.
Als das Geld kam, steckte er die Scheine rasch ein und ging zu seinem Auto, merkte dann aber gleich, dass er noch ein bisschen brauchen würde, ehe er losfahren könnte. Er legte beide Hände ans Steuer und hielt sich daran fest, damit seine Finger endlich aufhörten zu zittern.
Warum hatte der Blick in das Gesicht des Polizisten ihm einen solchen Schrecken eingejagt? Die Augen waren hinter den großen Gläsern der Sonnenbrille gar nicht richtig zu erkennen gewesen, aber gerade dieser Anblick kam ihm vor wie ein furchtbares Déja-vu-Erlebnis. Hatte es im Forschungszentrum eine ähnliche Situation gegeben?
Möglich wäre das, denn die Wachen verbargen ihre Gesichter zumeist auch hinter großen Sonnenbrillen, und diejenigen von ihnen, die eine Uniform trugen, hatten jeweils auch eine Kappe aufgehabt, die der des Polizisten ähnlich sah. Normalerweise hatte Markus ein sehr gutes Gedächtnis, konnte sich jetzt aber an keine Situation erinnern, in der er plötzlich und aus nächster Nähe in das Gesicht einer der Wachen geblickt hatte.
Nach der Machtübernahme hatte er sich immer möglichst im Hintergrund gehalten, um nur ja jedes Aufsehen zu vermeiden. Gegen das offenkundige Unrecht zu protestieren war doch vollkommen sinnlos. Die neuen Herren machten sofort unmissverständlich klar, dass ihnen jedes Mittel recht war, um ihre Befehle durchzusetzen, und wer das partout nicht einsehen wollte, lebte heute wahrscheinlich nicht mehr. Zwar hatte Markus nie mit eigenen Augen gesehen, wie einer seiner Kollegen erschossen oder auf andere Weise umgebracht wurde, aber es war schon verdammt auffällig, dass immer diejenigen, die allzu sehr rebellierten, dann auf einmal spurlos verschwanden, einfach nicht mehr da waren, ohne dass die Frage nach ihrem Verbleib eine Antwort bekam. Alle waren sich einig gewesen, dass die Verschwundenen nur tot sein konnten, und schließlich hatte sich die Erkenntnis breitgemacht, dass keine noch so große wissenschaftliche Reputation helfen konnte, die eigene Ohnmacht zu überwinden, und der Verweis auf gute Freunde an der Spitze der NASA oder der US-Administration die Wachen ebenfalls wenig beeindruckte.
Niemand konnte sich erklären, aus welchem Grund diese Wachen unter allen Umständen verhindern wollten, dass die Ergebnisse der Wissenschaftler an die Öffentlichkeit gelangten, niemand wusste, wer diese Leute überhaupt waren. Ganz am Anfang war kaum einer von denen in dem Forschungszentrum gewesen, auffällig wurde ihre immer größer werdende Zahl erst, als sich abzeichnete, dass alle Berechnungen die zuvor nur vermuteten Befürchtungen bestätigten. Markus erinnerte sich an den Spott, mit dem die Wissenschaftler den neuen Bewohnern des Forschungskomplexes am Anfang begegneten: „Die Männer in den dunklen Anzügen“ wurde schnell zu einem geflügelten Ausdruck und galt denjenigen von ihnen, die keine Uniformen trugen. Bestimmt waren das die oberen Dienstgrade, doch deren Anwesenheit war ebenso sinnlos wie die ihrer uniformierten Kollegen. Die Arbeit der Wissenschaftler konnten diese Leute schwerlich unterstützen, unternahmen ja auch keine Anstalten in diese Richtung, standen nur scheinbar teilnahmslos herum, wurden immer zahlreicher, mischten sich aber immer noch nicht ein, bis sie zu jenem Zeitpunkt, da die Wissenschaftler sich entschlossen, mit ihren Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, dann auf einmal ihre Waffen zückten: keine Pressekonferenz, keine Kameras oder Mikrophone, der schnelle Griff zum Telefon war sinnlos, weil nur noch die internen Leitungen freigeschaltet waren, alle Handys wurden einkassiert und der Weg ins Internet war ab sofort nur noch unter Aufsicht möglich.
Was anschließend folgte, war beinahe skurril, denn abgesehen davon, dass die Wissenschaftler in dem Komplex festgehalten und von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten wurden, ließen die neuen Herren sie gänzlich in Ruhe. Ob die Forscher an ihrem Auftrag weiterarbeiteten, die eigentlich längst schon abgeschlossenen und mehrfach überprüften Berechnungen noch ein weiteres Mal durchcheckten oder weiter nach einem noch so unwahrscheinlichen Ausweg für die Menschheit suchten, interessierte die neuen Herren scheinbar überhaupt nicht. Wer den Schlaftrakt nun gar nicht mehr verließ oder sich nur noch in der Kantine oder im Fitnessbereich aufhielt, blieb völlig unbehelligt, so lange er nicht aufbegehrte. Es gab keine morgendlichen Zählappelle oder etwas Vergleichbares, die Türen innerhalb des Komplexes standen fast immer offen und höchst selten nur wurde einer der Schlafräume kontrolliert. Das Regiment war trotzdem rigoros und unerbittlich gewesen, und Markus spürte, dass die Erinnerung daran nicht unbedingt hilfreich beim dem Versuch war, seine Nerven so weit zu beruhigen, dass er endlich losfahren könnte.
Der Parkplatz der Mall war gut gefüllt, die anderen Autos boten eine gewisse Deckung, so dass er sich noch ein wenig Zeit lassen konnte, obwohl er natürlich nichts erreichen würde, so lange er regungslos hier auf diesem Parkplatz verharrte.
Er musste unbedingt raus aus diesem Land, das inzwischen anscheinend überhaupt keine internationalen Regeln und Gepflogenheiten mehr beachtete und sich jeglicher Rechenschaft entzog. In den Nachrichten und Magazinsendungen im Fernsehen wurde gerade oft darüber diskutiert, ob der Einmarsch in den Irak, dessen Rechtfertigung sich mittlerweile als völlig haltlos herausgestellt hatte, nicht trotzdem richtig gewesen sei, und die Misshandlung oder Folterung von Gefangenen nicht ein ganz legitimes Mittel der Politik. Unter Umständen würde eine Mehrheit in diesem Land selbst die Zustände in dem Forschungszentrum und das Vorgehen der Wachen als legitim und richtig bezeichnen, wenn die ganze Sache erst ans Licht käme.
Als die Wissenschaftler im Forschungszentrum noch glaubten, dass es ihre Entscheidung sei, ob die Welt die Ergebnisse ihrer Berechnungen erführe, hatte Markus in all den Diskussionen nie eine klare Meinung gehabt. Vielleicht war doch eher zu erwarten, dass die Menschheit sich in ihren letzten Jahren noch gewalttätiger und unzivilisierter verhalten würde als bisher, und waren die Hoffnungen derjenigen, die glaubten, dass das Wissen um das baldige Ende die Sinnlosigkeit aller internen Auseinandersetzungen und Kriege offenbaren und zu einem friedlicheren Umgang führen würde, nicht mehr als idealistische Träumereien.
Einige meinten aber von Anfang an, dass es selbst im Falle schlimmster Befürchtungen trotzdem ethisch geboten war, das Wissen preiszugeben. Dass diese Leute schließlich kundtaten, sich einer anderslautenden Mehrheitsentscheidung im Zweifelsfall nicht beugen zu wollen, hatte es Markus leicht gemacht, sich dieser Auffassung anzuschließen, ohne dass er jemals geplant hatte, an vorderster Front mitzuwirken, wenn es um die Präsentation ging.
Jetzt war es an ihm, diese Aufgabe zu erledigen, und er war wild entschlossen, das so bald wie eben möglich zu tun, wobei es ihm allerdings in erster Linie darum ging, seine weiterhin gefangenen Kollegen endlich zu befreien.
Hinter sich hörte er auf einmal eine Kinderstimme fragen: „Papa, was macht der Mann da?“, wusste nicht, ob diese Worte ihm überhaupt galten, fühlte seinen zuvor nur mühsam beruhigten Puls dennoch gleich wieder rasen, startete den Wagen, fädelte sich in den Verkehr ein und versuchte sich auf das Fahren zu konzentrieren, hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, welches Ziel er ansteuern sollte.
Ob es vielleicht doch eine Chance gab, an der Grenze einfach durchgewinkt zu werden? Daran gedacht hatte er schon oft, manchmal versucht, sich Mut zuzusprechen, denn er sah natürlich längst nicht mehr so heruntergekommen aus wie unmittelbar nach seiner Flucht, hatte sich mehrere Garnituren Kleidung und einen neuen Koffer besorgt; sein kleiner Mietwagen war unauffällig und erregte kein Aufsehen. Alle Menschen, denen er bisher begegnet war, hatten ihn wie einen ganz normalen Touristen behandelt, und so lange er sich nicht verdächtig verhielt, fiel er doch nicht auf, vielleicht auch an der Grenze nicht.
Jetzt ging er so fest er konnte in die Eisen, schloss instinktiv die Augen und hoffte inständig, dass der Wagen rechtzeitig zum Stehen käme. War ihm das gelungen? Vielleicht hatte es doch eine Berührung gegeben, aber wenn, dann war die war nur ganz sacht ausgefallen, und was sollte ein kleiner Schubser diesem Ungetüm vor ihm anhaben können? Markus kannte solche Fahrzeuge nur aus den Fernsehberichten über den Irakkrieg, aber der Wagen, der jetzt unmittelbar vor ihm stand, war silbern lackiert und offensichtlich ein Zivilfahrzeug. Er selbst saß in seinem Kleinwagen viel zu tief, um durch das Rückfenster in das Innere des Hummers gucken zu können. Wahrscheinlich war es am besten, wenn er überhaupt nichts tat.
Die Hoffnung, dass es keine weiteren Konsequenzen geben würde, zerstob allerdings in dem Augenblick, da eine bullige Gestalt an der Fahrerseite auftauchte. „Fahr zurück, Mann!“, fauchte der Stiernacken Markus an, als der sich gerade anschickte, ebenfalls aus seinem Wagen auszusteigen. Sobald ein kleiner Spalt zwischen den Fahrzeugen entstand, ging der Mann in die Knie und suchte mit den Augen und bald darauf auch mit den Fingern den gesamten unteren Heckbereich seines Autos akribisch nach vermeintlichen Schäden ab.
„Du hast mehr Glück als Verstand“, sagte der Stiernacken zu Markus, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. „Sei froh, dass ich ein richtiges Auto fahre, und nicht so eine Konservenbüchse wie du.“
Er wandte sich beinahe schon zum Gehen, als eine Frau auf der Beifahrerseite neben dem Fahrzeug auftauchte. „Sollen wir nicht doch lieber die Polizei rufen, Schatz? Vielleicht ist etwas kaputt, das man nicht gleich sieht.“
„Nicht bei unserem Hummer, Mäuschen. Dem kann so eine Japsenkiste nicht wehtun.“
„Lass dir wenigstens den Führerschein zeigen! Man weiß ja nie.“
Der Stiernacken streckte seine Hand in Markus’ Richtung.
„Was soll denn das sein?“, fragte er, als Markus ihm seinen Führerschein überreichte. Wenig später begriff er anscheinend, denn bevor Markus etwas sagen konnte, schnaubte er: „Ein Ausländer! Lass uns fahren, Mäuschen! Es ist nichts passiert.“
Markus wartete, bis die beiden verschwunden waren, hob seinen Führerschein vom Asphalt auf und setzte sich ebenfalls wieder in sein Auto.
Wie hatte er die rote Ampel übersehen können? So etwas durfte ihm einfach nicht passieren! Er wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn die beiden darauf bestanden hätten, die Polizei zu holen, denn sein Pass wie keinen Einreisestempel auf.
Als Markus vor Jahren in dieses Land gekommen war, war er noch im Sicherheitsbereich des Flughafens in Empfang genommen worden. Der Mann hatte damals nicht einmal ein Schild mit seinem Namen hochgehalten, ihn gleich angesprochen und dann umgehend zu dem Helikopter geleitet, der ihn zum Forschungszentrum brachte. Wer hätte in einer solchen Situation an die Einhaltung von Formalitäten denken sollen? Dass das fehlende Visum einmal zu einem Problem werden könnte, lag damals jenseits aller Vorstellungskraft, doch jetzt war das anders.
Seit seiner Flucht hatten nur die Bediensteten in den verschiedenen Hotels und beim Mietwagenverleih einen Pass sehen wollen, und die hatten lediglich das Foto verglichen oder die Nummer notiert, ohne nach einem Stempel zu suchen. Ein Polizist aber würde vielleicht genauer hinschauen, und an der Grenze wäre das bestimmt ebenso. Das Risiko, es trotzdem einfach zu versuchen, war demnach viel zu groß, zumal Markus ja nicht sicher sein konnte, dass sein Name nicht doch auf einer Fahndungsliste stand.
Die Alternative war, jemanden zu finden, der ihn illegal außer Landes brächte. Jemand, der ihm entweder einen gefälschten Pass und ein gültiges Flugticket nach Europa verschaffte oder ihn notfalls in einem Viehtransporter über die Grenze bringen würde.
Kontakte zu einem kriminellen Milieu hatte Markus allerdings noch nie in seinem Leben gehabt und auch jetzt nicht die leiseste Ahnung, wie er das anstellen sollte. Das mittlerweile angesammelte Bargeld mochte langsam reichen, um einen Fluchthelfer zu bezahlen, obwohl er eigentlich überhaupt nicht einschätzen konnte, wie hoch die geforderte Summe sein würde. Bezahlen würde er sie auf jeden Fall, schon der vagste Hinweis wäre ihm eine üppige Belohnung wert, aber wo sollte er zu suchen anfangen?
~ ~ ~ ~ ~
Es war kein wirklich ernstgemeinter Versuch, als er „Hilfe illegale Ausreise USA“ bei Google eingab. Markus wusste selbst nicht, warum er das tat, erinnerte sich dann aber daran, dass er vor vielen Jahren schon einmal etwas ähnlich Sinnloses getan hatte: Damals brütete er über dem Abschlussbericht seines ersten eigenen Projekts und tippte in einem Moment, da sein Kopf völlig leer zu sein schien, „Warum grinst du so blöd?“ in das Feld der unermüdlich lächelnden Büroklammer auf dem Bildschirm ein, in dem zuvor stets die Aufforderung „Bitte geben Sie Ihre Frage ein!“ gestanden hatte.
Im Prinzip war seine aktuelle Situation der von damals durchaus ähnlich, denn auch jetzt fiel ihm nichts mehr ein, was er noch versuchen könnte. Bei Wikipedia waren alle Änderungen, die er unter verschiedenen Namen eingetragen hatte, erneut verworfen worden; gleiches galt für die Diskussionsforen über Fragen der Astronomie, die er ausfindig gemacht und in denen er durchaus eine Menge Sachverstand angetroffen hatte. Seine Nicks waren samt und sonders gesperrt, und jetzt gab es sogar eine allgemeine Veränderungssperre für alles, was den Planeten Saturn und vor allem seinen Mond Hyperion betraf. Es blieb eben dabei: Hyperion war zwar eines der merkwürdigsten Objekte unseres Sonnensystems, beinahe einzigartig mit seiner nicht annähernd runden Form ohne jede Regelmäßigkeit und seiner vollkommen chaotischen Rotation um eine wild im Raum eiernde Achse, aber trotzdem ein seit Jahrmillionen treuer Trabant seines Planeten. Dass sich daran in wenigen Jahren etwas ändern und Hyperion sogar zu einer Gefahr für die Erde werden sollte, widersprach allem, was die Wissenschaft bisher herausgefunden hatte und zu wissen glaubte. Wer behauptete, dass es dennoch passieren würde, konnte nur ein durchgeknallter Spinner sein.
Markus erinnerte sich, wie ungläubig auch er zunächst reagiert hatte, als damals der Anruf kam, der ihn in das Forschungszentrum rief. Kein Mond, und sei er noch so sonderbar, konnte jemals aus dem Einflussbereich seines Planeten herausgeschleudert werden, das war schlichtweg unmöglich! Nach seiner Ankunft im Zentrum hatte es auch noch etliche Zeit gedauert, ehe Markus schließlich eingestehen musste, dass die Berechnungen der anderen keine Hirngespinste waren und keine Fehler enthielten.
Der Versuch, jetzt als Einzelkämpfer den Rest der Welt aufzuklären, war vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er brauchte die Kollegen, deren Freilassung ihn doch sowieso viel mehr interessierte als die Bekanntgabe der Ergebnisse.
Über 100.000 Treffer zeigte Google als Ergebnis von Markus’ Anfrage an, was ihn kurzzeitig schmunzeln ließ. Die große Zahl kam allerdings nur zustande, weil die Suchmaschine die Anfrage eigenmächtig verändert hatte und ganz selbstverständlich davon ausgegangen war, dass nur illegale Einwanderung gemeint sein konnte. Die USA waren eben nach wie vor das große El Dorado für viele Menschen auf diesem Planeten, ein Land, in das man irgendwie und beinahe um jeden Preis hinein-, aber aus dem man bestimmt nicht wieder hinauswollte.
Fast alle der empfohlenen Seiten beschäftigten sich mit den kaum noch zählbaren Versuchen von Mexikanern und anderen Latinos, zu Fuß über die Grenze in die USA zu gelangen. Trotz aller aufwändigen Sicherheitsmaßnahmen und Absperrungen schlüpften jeden Tag etliche von ihnen unentdeckt durch das Netz.
Es einfach auf demselben Weg in entgegengesetzter Richtung zu versuchen, hatte Markus durchaus auch schon in Erwägung gezogen, aber das Risiko wäre vielleicht noch größer als bei dem Versuch, mit dem Auto einen regulären Grenzübergang zu überqueren. Da waren doch überall Infrarotkameras, und viele illegale Einwanderer wurden etliche Male aufgegriffen, ehe sie es endlich schafften. Soweit Markus wusste, wurden diese Leute dann lediglich erkennungsdienstlich behandelt und anschließend wieder abgeschoben, was in seinem Fall sicher anders wäre.
Er musste einen anderen Weg finden, aber hier in diesem Internet-Café würde ihm das bestimmt nicht gelingen. Er konnte also eigentlich auch wieder gehen, spürte aber, dass er das noch nicht wollte. Die Abende in den verschiedenen Hotelzimmern waren grausam und lang, fast immer dauerte es halbe Ewigkeiten, ehe er endlich einschlafen konnte, auch wenn er mittlerweile nicht mehr jeden Augenblick damit rechnete, dass sein Zimmer gleich von einem Rollkommando gestürmt würde. Hinter einem Bildschirm verging die Zeit leichter und schneller, und das Café, das er heute gewählt hatte, schien außerdem beinahe ideal zu sein: Es war kaum etwas los, und der Typ an der Aufsicht erkennbar von einem Computerspiel gefesselt, so dass er sich wohl eher nicht dafür interessierte, was die wenigen Kunden an ihren Rechnern taten.
Vielleicht sollte er sich doch noch einmal an die deutsche Botschaft in Washington wenden? Seine erste Anfrage war bisher ohne Antwort geblieben, was aber vielleicht nur daran lag, dass er sie viel zu vage formuliert hatte: Dass er ein Schriftsteller sei, hatte er behauptet, der für eine Szene in einem Roman wissen wolle, was geschehen würde, wenn ein deutscher Staatsbürger an die Tür klopfte und angab, kein noch so geringes Verbrechen begangen zu haben und trotzdem Hilfe zu brauchen, weil er von den US-Behörden gejagt werde. Wahrscheinlich nahm ihn niemand ernst. Wäre das anders, wenn er seinen richtigen Namen nannte und detailliert schilderte, was ihm widerfahren war? In einem diktatorisch regierten Dritte-Welt-Land würde ihm bestimmt vorbehaltlos die Tür aufgemacht, vielleicht sogar geholfen, in die Obhut der Botschaft zu gelangen, aber hier in den USA?
Einen Versuch war es vielleicht trotzdem wert. Als er zu schreiben anfangen wollte, sah er, dass er eines der astronomischen Diskussionsforen noch in einem Tab geöffnet hatte, und bevor er dieses schloss, fiel ihm auf, dass jemand ein neues Thema eröffnet hatte und fragte: „Wo ist der Mondverschieber?“
Zwei der Moderatoren hatten bereits geantwortet, dass der Account des Sonderlings gesperrt sei, weil das Forum Wert auf Seriosität lege und Spinnern keinen Platz bieten wolle, doch der Frager hatte noch einmal geschrieben und inständig darum gebeten, seinem Aufruf zumindest noch eine kleine Frist zu gewähren, da er dringend Kontakt suche, der dann selbstverständlich außerhalb des Forums stattfinden würde. Eine E-Mail-Adresse war aufgeführt, bei der der Mondverschieber, wie es erneut hieß, sich melden sollte.
War das eine Falle? Die Möglichkeit bestand durchaus, doch Markus beschloss, es trotzdem zu versuchen. Wenn er gleich morgen aus dieser Stadt verschwände, wieder einen weiten Weg zurücklegen und dabei erneut die Richtung ändern würde, wäre das Risiko vielleicht überschaubar.
Zur Sicherheit richtete er sich noch eine weitere neue E-Mail-Adresse ein und schrieb: „Hier bin ich, allerdings weder ein Mondverschieber, noch ein Spinner. Was kann ich für dich tun? Antworte schnell!“
Er spürte das Adrenalin in sich aufsteigen, kaum dass er die Nachricht abgeschickt hatte. Immerhin war es möglich, dass bereits in diesem Augenblick versucht wurde, den Computer ausfindig zu machen, von dem die Botschaft abgeschickt worden war. Markus wusste nicht, wie lange das dauern würde und er noch gefahrlos hier verweilen konnte, aber wenn es keine Falle war, musste er dem Adressaten Zeit für eine Antwort geben.
Wie lange sollte das sein? Sofern dieser Kerl überhaupt gerade online war und seine Mails immer sofort abrief und las, würden trotzdem mindestens zehn Minuten vergehen, ehe Markus mit einer Antwort rechnen könnte. 15 Minuten würde er warten, beschloss er schließlich. Wenn bis dahin nichts gekommen wäre, würde er abhauen. Die Wartezeit würde er sich dadurch verkürzen, dass er einen Entwurf für ein neues Anschreiben an die Botschaft schrieb. Er gab seinen Namen, die Nummer seines Reisepasses und seinen letzten Wohnsitz in Deutschland an, versuchte anschließend Worte zu finden, die möglichst seriös und glaubhaft schilderten, was geschehen war, ahnte aber bei jedem neuen Buchstaben, dass das Geschriebene trotzdem viel zu phantastisch klang, als dass er hoffen konnte, Gehör zu finden.
„Ich will das ganze Szenario kennen! Die Idee ist spitze, ich möchte sie unbedingt haben und zahle gut dafür!“, las er auf dem Bildschirm, als er zwischendurch wieder einmal nachsah, ob eine Antwort gekommen war.
Es war ernüchternd, diese Worte zu lesen, denn wer immer sie geschrieben hatte, nahm ihn in jedem Fall nicht ernst. Wahrscheinlich ein Spinner. Markus hätte die Sache bestimmt gleich ad acta gelegt und keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, wenn er nicht gerade selbst in einer Situation gewesen wäre, in der er fürchten musste, beinahe überall als Spinner bezeichnet zu werden. Vermutlich war das der einzige Grund, warum er diesen kleinen Kontakt, so wertlos er am Ende sein mochte, nicht gleich wieder abreißen lassen wollte.
Er versuchte, sich einen Reim aus den wenigen Worten zu machen, fragte sich plötzlich, ob da vielleicht ein Filmproduzent am anderen Ende saß. Sollte die Menschheit aus einem Spielfilm erfahren, was ihr bevorstand? Der Gedanke war vollkommen abstrus, und noch verrückter war, dass ein solcher Film, wenn er denn tatsächlich gedreht würde, wahrscheinlich erst zu einem Zeitpunkt in die Kinos käme, da selbst Hobbyastronomen feststellen könnten, dass es keine Spinnerei war. Ein Kassenschlager wäre das in jedem Fall.
Falls er es hier wirklich mit einem Produzenten zu tun haben sollte, würde der die Geschichte aber ganz bestimmt trotzdem nicht drehen wollen, war Markus sicher. Für einen Produzenten musste die Sache uninteressant sein, einfach weil sie keine Möglichkeit bot, einen oder mehrere Helden aufzubauen. Die Wissenschaftler konnten nur verkünden, was sie herausgefunden hatten, aber keinen Ausweg anbieten. Niemand konnte irgendetwas tun!
„Aus welchem Land schreibst du?“, tippte Markus in die Tastatur und schickte es auf die Reise, überlegte dann, wie lange dieser Mann schon dort in seinem Blickfeld saß. Dass die Tür zwischendurch aufgegangen und jemand hereingekommen war, war Markus offensichtlich entgangen, obwohl er sich zuvor fest vorgenommen hatte, darauf zu achten. Der Mann saß an einem der anderen Rechner, Markus sah ihn im Profil und fragte sich plötzlich, ob das der Polizist war, der ihn am Nachmittag an dem Geldautomaten angesprochen hatte. Wenn er es war, hatte er jetzt offensichtlich Feierabend, denn er trug Zivilkleidung. Trotzdem war es sicher besser, nicht allzu oft und auffällig zu ihm rüberzugucken.
Irgendwann musste Markus wieder lernen, einen ganz und gar natürlichen Umgang mit Polizisten zu finden. Früher hatte er nie darüber nachgedacht, was er tun sollte, wenn er eine Uniform sah. Jetzt wusste er nicht mehr, wie er sich damals verhalten hatte, ob er öfter hin- oder weggeguckt hatte. Das war immer ganz von allein passiert, und jetzt war das anders, jetzt war er nervös, und das sah man wahrscheinlich, und dieses Wissen machte ihn zusätzlich nervös. So war es jetzt schon wieder, denn er überlegte, ob er grüßen sollte, falls es zu einem Blickkontakt mit dem Mann käme, bei dem er immer noch nicht sicher war, ob es tatsächlich der Polizist war.
„Warum ist dir das wichtig? Aber OK, ich bin Deutscher und schreibe auch von dort“, tauchte auf dem Bildschirm auf. In Deutschland graute doch jetzt beinahe schon wieder der Morgen. Das musste natürlich nicht heißen, dass der andere log, aber Markus blieb vorsichtig.
„Dann mache ich auf deutsch weiter“, schrieb er und fügte noch hinzu: „Gibt es eine Möglichkeit, schneller zu kommunizieren?“
Die 15 Minuten waren natürlich längst verstrichen, doch Markus entschied, dass sie zu ängstlich kalkuliert waren. Es würde viel länger dauern, den Computer ausfindig zu machen, und danach müsste ja erst noch jemand auf den Weg geschickt werden. Er würde sich wieder dem Schreiben an die Botschaft widmen, während er auf eine erneute Antwort wartete.
Sie kamen zu viert und gingen entschlossen und professionell zur Sache: Einer blieb an der Tür, zwei andere postierten sich so im Raum, dass sie jeden Winkel einsehen konnten und alle Besucher des Internet-Cafés im Visier hatten, der vierte ging mit schnellen Schritten zum dem Mann am Aufsichtsplatz, der erschrocken zusammenzuckte. Dieser vierte trug Zivilkleidung, die anderen waren uniformiert und hatten ihre Waffen deutlich sichtbar im Anschlag. Jeder Gedanke an Flucht war vollkommen zwecklos.
„Übertreibst du nicht ein bisschen mit deinem Bohai? Aber bitte: Dieser Link führt zu einem Forum, das schon seit Jahren brach liegt. Habe dich dort als „Hoelderlin“ angemeldet. Password: Schiebermond. Bis gleich.“
So schnell er konnte, loggte Markus sich in das Forum ein und versuchte gleichzeitig, das Geschehen in dem Café nicht aus den Augen zu verlieren. Der Mann, der zum Aufsichtsplatz gegangen war, erteilte dem Typ am Rechner immer neue Anweisungen, sprach dabei aber viel zu leise, als dass Markus seine Worte hätte verstehen können. Die übrigen verharrten an ihren Plätzen und warteten. Dass Markus weiter seine Tastatur bediente, schien ihnen nicht aufzufallen oder sie nicht zu stören. Markus kopierte den noch nicht annähernd fertigen Entwurf für das Schreiben an die Botschaft in das Textfeld des Forums und fügte hinzu: „Wenn ich gleich verstumme, bin ich widerrechtlich festgenommen und entführt worden, werde dann bestimmt nicht mehr lange leben. Im Südwesten der USA existiert ein abgeschirmtes Forschungszentrum, in dem noch viel mehr Wissenschaftler festgehalten werden, gegen alle Gesetze.“
„Keine Bewegung!“, hörte Markus jetzt laut und deutlich, klickte trotzdem noch auf „Absenden“, ehe er seine Hände hob, um sie gleich wieder sinken zu lassen.
Die beiden Polizisten, die zuvor in der Mitte des Raumes gestanden hatten, waren jetzt am Rechner des Mannes, von dem Markus immer noch nicht sicher sagen konnte, ob es der Polizist von dem Geldautomaten war. Einer legte ihm Handschellen an, brachte ihn zur Tür und zusammen mit dem Polizisten, der dort gewartet hatte, aus dem Café. Der andere Polizist nahm an dem Rechner Platz, an dem der abgeführte Mann bis gerade gesessen hatte.
„Markus Dörner? Das glaube ich ja nicht! Ich bin’s, Gerrit! Gerrit Brinkmann. Was ist los?“, tauchte auf Markus’ Bildschirm auf. Während seine Augen dies lasen, vernahmen seine Ohren: „Er hat es wohl bereits abgeschickt“, und Markus brauchte wieder einen Moment, um zu begreifen, dass er nicht gemeint war. Die Worte kamen aus dem Mund des Polizisten, der jetzt an dem Rechner saß, und galten dem Mann in Zivil, der immer noch am Aufsichtsplatz stand.
„Gerrit? Das glaube ich auch nicht! Und du wirst nicht glauben, was ich in den letzten Jahren erlebt habe. Ich schwebe in großer Gefahr, auch wenn es jetzt gerade so aussieht, als sei der Kelch noch einmal an mir vorbeigegangen.“
Als Markus die neue Botschaft abschickte, ging die Tür des Cafés auf und der Polizist, der die meiste Zeit dort gestanden hatte, kam wieder herein. Er ging zu dem Mann in Zivil und machte eine angedeutete Kopfbewegung in Markus’ Richtung, während er leise redete. Markus fühlte das Blut in seinen Adern gefrieren, als die beiden sich zu ihm umdrehten und auf ihn zukamen. Der Mann in Zivil sprach ihn an, wollte einen Ausweis sehen. „Haben Sie keinen Pass dabei?“, fragte er nach, als Markus ihm seinen Führerschein gab. Markus schüttelte den Kopf und hoffte, dass man ihm die Lüge nicht ansah. „Kennen Sie den Mann, den wir gerade verhaftet haben?“, wollte der Polizist weiter wissen. Markus schüttelte erneut den Kopf und brachte mit großer Mühe „Nein Sir, nie gesehen“ hervor.
„Mein Kollege hat mir gerade erzählt, dass Sie vorhin Ihre Hände gehoben haben, beinahe so, als rechneten Sie damit, selbst auch verhaftet zu werden“, gab der Polizist noch immer keine Ruhe.
„Ich habe den Befehl vernommen und nicht sofort gesehen, ob er nicht vielleicht uns allen galt, hatte zuvor auf den Bildschirm geguckt, weil gerade eine neue Nachricht von meinem Freund aus Deutschland kam. Wahrscheinlich habe ich gedacht, dass es besser sei, die Hände zu heben, statt eventuell jemanden mit einer Waffe in der Hand nervös zu machen.“
Markus wunderte sich selbst über seinen plötzlichen Ideenreichtum, der seine Wirkung nicht zu verfehlen schien, denn der Polizist musterte ihn zwar weiterhin durchdringend, nickte jetzt aber leicht mit dem Kopf.
„Sein Name steht auf der Liste, Sir!“, hörte Markus den Uniformierten sagen, der immer noch an dem Rechner des Abgeführten saß.
Der Zivilpolizist ging dort hinüber, und Markus las auf seinem Bildschirm: „Wollen die dich wirklich laufen lassen? Ob die wissen, mit wem sie es zu tun haben?“
„Es ist leider verdammt ernst, Gerrit. Die Gefahr ist zurück, ich muss aufhören. Erreiche ich dich noch unter deiner alten Telefonnummer?“
„Nein: +3-2-5+2+6+1+7“
„Alles klar. Melde mich so bald wie möglich. Danke.“
„Besitzen Sie eine Sparkarte der Deutschen Postbank, Sir?“, fragte der Zivilpolizist. „Haben Sie die bei sich?“
Markus holte sein Portemonnaie hervor, bemühte sich vor allem nicht zu zeigen, was sich sonst noch alles darin befand, als er die Sparkarte herauszog. Der Polizist nahm sie, ging zurück zu dem anderen Rechner, drehte sich dann wieder zu Markus und sagte: „Die Geheimzahl lautet 3478, nicht wahr? Sie sollten Ihre Karte umgehend sperren lassen, am besten sofort, auf der Stelle. Außerdem muss ich Sie bitten, morgen aufs Revier zu kommen, um Anzeige zu erstatten. Bitte bringen Sie dann auch Ihren Pass mit.“
Markus spürte, dass es noch in dieser Nacht geschehen musste. Es war nicht aussichtsreicher als in all den Nächten zuvor, aber er konnte unmöglich morgen auf diesem Revier auflaufen, und wenn er nicht erschiene, würden sie ihn sicher suchen.
Gerrit konnte ihm jetzt nicht helfen, also beschloss Markus, ihn erst morgen anzurufen. Wenn alles gut ginge, wäre er dann in Mexiko. Den Code für die Errechnung der neuen Nummer hatte er sich eingeprägt und war sicher, ihn nicht zu vergessen.
Auf den Straßen war kein Mensch und kein Auto mehr unterwegs. Zum Hotel waren es nur ein paar Blocks, die Markus vorhin zu Fuß gegangen war. Jetzt wünschte er sich den Wagen herbei, doch ins Zimmer hätte er sowieso noch einmal gemusst, denn er wollte dort nichts zurücklassen.
Dem Nachtportier sagte er, dass er einen Anruf bekommen habe und in einer dringenden Angelegenheit auf der Stelle abreisen müsse, als er ihm den Schlüssel gab. Der Mann war sehr jung und wirkte beinahe etwas überfordert, doch die Rechnung war ja bereits bezahlt.
Markus setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Die leeren Straßen wirkten hinter dem Steuer genauso unheimlich wie zuvor als Fußgänger, obwohl es doch sicher ein Vorteil war, dass nicht viel los war.
Zur Grenze war es nicht weit.
Als sie näher kam, sah Markus zwar Lichter, aber keine Menschen. Er verringerte das Tempo, schaute genauer hin, konnte aber immer noch niemanden ausmachen. Fuhr er jetzt schon verdächtig langsam? Er beschleunigte wieder und überlegte, wie schnell er fahren würde, wenn es ihm egal wäre, ob er kontrolliert würde. Es war nicht möglich, unter diesen Bedingungen eine Antwort zu finden, aber er fuhr und fuhr, und dann war er durch.