Bornstein
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Zwischen Leben und Tod, ein Spiel für Fortgeschrittene (nicht nur)
Haben Sie schon mal versucht das Leben von der Perspektive eines Verstorbenen zu betrachten? Nein? Noch nicht? Dann versuchen Sie es mal. Es ist ganz einfach. Alles ist Übungssache, Gewohnheit, wie die Abendgymnastik oder das Zähneputzen am frühen Morgen.
Nein, ich glaube nicht an Seelenwanderung, ich glaube auch nicht an die Rückkehr der Toten oder andere solche Geschichten. Ich meine hier nur die Einbildungskraft, das Sich-verstellen, die Möglichkeit die Sachen von einer ganz anderen Perspektive zu sehen.
Nehmen wir mal an, Sie sind gestorben, und sind gerade wieder kurz zurückgekehrt, um mal ein Blick auf die gute alte Erde zu werfen. Sie sind unsichtbar für die anderen, oder auch nicht, das ist nicht so wichtig. Wie es auch sei, was Sie sagen wird nicht gehört, was Sie machen wird nicht bemerkt. Das ist doch fast genauso als wie Sie noch am Leben waren, nicht wahr?
Jedenfalls, es geht Ihnen alles nichts mehr an, es ist einfach nicht mehr Ihre Sache, Sie haben damit nichts mehr zu tun. Sie laufen durch die Menge und lächeln erleichtert. Sie sind entlastet, frei von allen Verantwortungen. Sie kennen keine Sorge mehr. Die Beiden die da streiten, was ist denn da so wichtig, dass sie sich so aufregen? Die Zeitungen und Zeitschriften am Kiosk liegen ausgebreitet hinter Glas, und Sie merken, zum ersten Mal, wie schön die bunten Farben der Bilder sich vermischen. Der Wind, das himmlische Kind, spielt verzückt mit Haaren und Frisuren, mit den Grashalmen der Wiese die sich wellenförmig wogt, und Sie denken nicht an den Regenschirm den Sie zu Hause vergessen haben. Verstanden?
Verstanden! Das mit der Perspektive und der Einbildungskraft mag ja sogar stimmen. Das mit den Zeitungen und dem Wind mag ja sogar schön klingen. Und das mit dem Verstorbenen mag ja sogar witzig sein. Aber …. Da ist doch die Arbeit, da ist der Chef der wieder einmal schlechter Stimmung ist, und gerade verlangt, dass ich die Arbeit nochmals schreibe. Da sind die Kinder die essen wollen, und der Nachbar telefoniert gerade wegen dem Krach.
Hallo bitte, ein Moment! Langsam mit der Sache! Sie sind Anfänger. Es handelt sich hier nur um eine kleine Übung. Sie machen das alles nur einige Stunden am Tag, nur in besonderen Umständen, wenn Sie mal gerade in der Strassenbahn sitzen, und die ernsten Mienen, die vor Ihnen liegen, betrachten; wenn Sie mal gerade wieder Besuch von der alten Tante bekommen, oder am Abend, vor dem Schlafengehen. Das mit der Arbeit und den Sorgen zu Hause, das ist nur für Fortgeschrittene.