Zwischentöne

Eleluku

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Zwischentöne

Nach knapp acht Stunden auf der sonntäglich leeren Autobahn rollte Markus' Wagen in das kleine Schweizer Dorf am Vierwaldstättersee. Er stellte den Motor ab, und plötzlich war da nur noch diese Stille, die das innere Brummen seines Körpers umhüllte wie eine warme Decke.
Während der Fahrt hatte er kaum eine Pause gemacht – nur einmal kurz getankt. Die ganze Zeit kreisten seine Gedanken um die chaotischen Wochen an der Schule, wo der Druck als Lehrer immer unerträglicher wurde.
Als er aus dem Wagen stieg, empfing ihn ein zartes Klangnetz: das ferne Bimmeln der Kuhglocken von den Talwiesen. Er setzte sich auf eine niedrige Natursteinmauer. Hinter ihm scharrten Hühner leise im Boden, ihr sanftes Gackern wie ein Flüstern in der Mittagsstille.
Seine Gedanken wanderten zu Anna, seiner Frau, die hier eine Woche an einem Gesangsworkshop teilgenommen hatte. Sie hatten sich vor fünfzehn Jahren kennengelernt, als er gerade sein Referendariat begann und sie im Chor sang.
Es war dieses leise Geräusch, das ihn zurückbrachte in seine Kindheit. An die Sonntage im Dorf seiner Großeltern. Wo die Mittagsruhen heilig waren und er leise spielen musste, während die Erwachsenen schliefen. Damals war alles klar gewesen. Die Zeit dehnte sich wie ein endloser Sommer.
"Markus?"
Er blinzelte. Anna stand vor ihm, ihr dunkles Haar zu einem losen Zopf gebunden.
"Du bist früher da als erwartet", sagte sie und lächelte.
Er umarmte sie, spürte ihren vertrauten Duft nach Lavendel und etwas Neuem – vielleicht die Bergluft, vielleicht etwas anderes.
"Wie war der Workshop?", fragte er.
"Transformativ", antwortete sie und in ihren Augen lag ein Glanz, den er lange nicht gesehen hatte. "Du hättest die Leute hören sollen, Markus. Die Art, wie sie ihre Stimmen benutzen, wie sie... leben."
Die nächsten Tage verbrachten sie mit Wanderungen. Anna sprach viel über den Workshop, besonders über den Leiter, einen Bariton aus Wien.
"Stefan hat uns beigebracht, dass Singen nicht nur eine Technik ist, sondern eine Art zu sein", erklärte sie während einer Rast. "Es geht darum, deinen eigenen Klang zu finden, deine Authentizität."
"Und hast du deinen Klang gefunden?", fragte er.
Sie lächelte, aber ihr Blick ging durch ihn hindurch, zu etwas, das er nicht sehen konnte. "Ich glaube, ich bin auf dem Weg."
Am dritten Abend saßen sie auf der Terrasse ihrer Pension. Die Sonne versank hinter den Bergen und tauchte alles in goldenes Licht.
"Ich habe ein Angebot bekommen", sagte Anna plötzlich. "Stefan meint, ich hätte Potenzial. Er hat mich eingeladen, im Herbst bei einem Projekt in Wien mitzumachen."
"In Wien?" Er versuchte, seine Stimme neutral zu halten. "Das ist... weit weg."
"Es wären nur acht Wochen", sagte sie schnell. "Aber es könnte eine Chance sein, Markus."
Er nickte langsam. "Was ist mit deinem Job?
"Ich könnte unbezahlten Urlaub nehmen."
Die Sonne war fast vollständig verschwunden. Markus spürte einen Knoten in seiner Brust – eine Mischung aus Angst und Neid.
"Du solltest es tun", hörte er sich selbst sagen.
Anna griff nach seiner Hand. "Wirklich?"
"Ja." Er drückte ihre Finger. "Wirklich."
Später in dieser Nacht stand Markus am offenen Fenster. Der Mond spiegelte sich im ruhigen Wasser des Sees. Er dachte an das Gackern der Hühner vom ersten Tag, an die Erinnerungen, die es geweckt hatte. An das Gefühl der absoluten Klarheit: Mein Leben musste eine Wendung nehmen, sofort...
Vielleicht war das hier der Anfang dieser Wendung. Nicht nur für Anna, sondern auch für ihn.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sagte er: "Ich denke, ich werde kündigen."
Anna hielt inne, den Löffel auf halbem Weg zum Mund. "Was?"
"Die Schule. Ich bin dort nicht mehr glücklich, schon lange nicht mehr. Vielleicht ist es Zeit für etwas Neues."
"Aber was würdest du tun?"
"Ich weiß es noch nicht. Vielleicht etwas mit Holz. Ich habe immer gerne mit den Händen gearbeitet."
Anna musterte ihn eingehend. "Ist das wegen Wien? Du musst das nicht tun, nur weil ich—"
"Nein", unterbrach er sie sanft. "Es ist wegen mir. Wegen des Gefühls, das ich hatte, als ich hier ankam. Die Stille, die Erinnerungen... Ich habe erkannt, wie weit ich mich von dem entfernt habe, was mir wichtig ist."
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. "Was für ein Paar sind wir, hm? Beide auf der Suche nach unserem... Klang."
Am letzten Tag besuchten sie eine kleine Kapelle am Berg. Der Raum war schlicht, aber das Licht durch die schmalen Fenster erschuf ein Spiel aus Schatten von erstaunlicher Schönheit.
Anna begann leise zu singen – eine einfache Melodie ohne Worte. Ihre Stimme füllte den Raum, reflektierte von den Steinwänden, schwebte unter dem Gewölbe.
Markus schloss die Augen und ließ sich tragen. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich vollkommen präsent, vollkommen lebendig.
Als sie die Kapelle verließen, hielt Anna ihn zurück. "Weißt du, vielleicht könntest du mitkommen."
"Nach Wien?"
Sie nickte. "Du könntest die Zeit nutzen, um herauszufinden, was du wirklich willst. Eine neue Stadt, neue Eindrücke..."
Er betrachtete ihr Gesicht, das ihm so vertraut war und doch so neu erschien. "Das klingt nach einem Abenteuer."
"Das Leben sollte ein Abenteuer sein", sagte sie und nahm seine Hand.
Als sie am nächsten Tag die Rückreise antraten, war nichts mehr wie zuvor. Die Landschaft war dieselbe – der glitzernde See, die majestätischen Berge. Aber etwas in ihnen hatte sich verändert, als hätte die Stille dieses Ortes ein Echo in ihren Seelen erzeugt, das sie nicht mehr ignorieren konnten.
Markus nahm ein letztes Mal diesen Ort in sich auf. Das Bimmeln der Kuhglocken. Das leise Gackern der Hühner. Die tiefe Stille.
Er wusste, dass er diese Geräusche für immer in sich tragen würde. Als Erinnerung daran, dass manchmal die leisesten Klänge die stärksten Wendungen bewirken können.
 



 
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