„Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt...“

weisserrabe

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„Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt...“

- Unscharfes Bild vor dem inneren Auge -

So lange ich mich zurück erinnern kann, habe ich immer eine Art Sehnsucht in mir getragen. Ich war ein verträumtes Kind, ein aufgewühlter Teenager und eine opportunistische junge Frau. Meine Phantasien waren wild und ungezügelt, meine Wünsche zwar bodenständiger aber nicht weniger unangepaßt, unerwünscht, mißliebig. Einiges, was ich mir vorgestellt habe, konnte ich verwirklichen. Teilweise gab das im Endeffekt dennoch viel Potential für Enttäuschungen her. Aber ich hatte sehr, sehr glückliche Momente... Wenn wieder eine Etappe geschafft war, wenn ich mich durchsetzen konnte, wenn sich ein ersehnter Erfolg eingestellt hat – ich kann diese Augenblicke durch und durch genießen. Eine besondere Rolle haben dabei immer besondere Menschen gespielt. Bis heute bin ich unsagbar stolz auf gute Freunde. In der Anzahl überschaubar, in ihrer unverbrüchlichen Treue beispiellos und bei vielen Gelegenheiten mein ganzer Halt. Meine Kinder sind eins wie das andere perfekt. Mit dem ganzen Subjektivismus einer liebenden Mutter sage ich absolut überzeugt: nicht mehr und nicht weniger hätte ich mir wünschen können. Kein Grund zur Klage! Und bei all dem bleibe ich die Person mit dem unerfüllten heimlichen und offenbarten Sehnen. Den Zustand möchte ich mir durchaus gerne erhalten; er ist eine ungeheure Antriebskraft und schiebt mich voran auf meinem Weg.

Am spannendsten finde ich den Anfang, die Geburt einer großen, neuen Idee. Man spürt, daß etwas auf einen wartet. Einen magisch anzieht, eine Lücke schließen wird. Man kann jedoch noch nicht genau festmachen, worin dieses „etwas“ besteht. Wie der Plan aussieht. Wie man ans Ziel gelangt. Dann beginnt eine intensive Selbsterforschung. Bei dieser Reflexion gewinnt man unerwartete Erkenntnisse über die eigene Entwicklung, durchlebte Veränderungen und Einstellungen. Man lernt dazu. Aus diesem Wissen erwächst

nach und nach ein Bild, dem man sich annähern möchte. Zur Zeit besteht das bei mir aus vielen kleinen Puzzlestücken, die ich bereits aneinander fügen konnte und den Teilen, die hartnäckig fehlen. Denen werde ich meine nächste Zeit und Energie widmen. Vollkommenheit ist dabei kein Maßstab. Nein, es geht um Zufriedenheit, innere Ruhe und Harmonie mit allem, was für mich bedeutsam ist.

Die unbenannte Sehnsucht, die sich immer klarer manifestiert, ist eine Form des selbstbestimmten und unabhängigen Lebens, die heutzutage und hierzulande nicht mehr zu praktizieren ist. Den Weg ins Ausland habe ich zwar schon früh gefunden, mich aber aus Erwerbszwängen heraus immer wieder Mechanismen und Prozeduren unterwerfen müssen, die ich eigentlich nicht ertragen kann. Mit fortschreitendem Alter und Lebenserfahrung, abnehmender Verantwortung für den Nachwuchs und einer reiferen Einstellung zu Konsum, Lebensstandard und Bedürfnissen ergibt sich auf einmal eine reelle Chance, mit dem lange gehegten Wunschtraum auf Tuchfühlung zu gehen.

Und so könnte sie aussehen: Eines Sonnabends am Anfang des noch taufrischen Jahres - auf eine lange zuvor gestellte Suchanfrage stellt sich plötzlich und unerwartet ein Angebot ein. Ein kleines Haus mitten im sibirischen Nirgendwo mit allem, was ich mir in schlaflosen Nächten ausgemalt und als illusorisch verworfen habe, wartet buchstäblich nur auf mich! Zu einem erschwinglichen Preis, in weit mehr als akzeptablem Zustand und in genau der bevorzugten – weil unerschlossenen - Lage... bräuchte ich einfach nur zuschlagen. Was in aller Welt hält mich jetzt davon ab, dies ohne weitere Grübeleien zu tun? Die liebe Macht der Gewohnheit. Natürlich will so ein Schritt gründlich abgeklärt sein. So ist meine Arbeit von dort aus nicht mehr wie gewohnt unkompliziert möglich – was neue Probleme aufwerfen dürfte. Aber die Verlockung ist so riesig. Wird die Leidenschaft gewinnen oder rückwärts gerichtetes Kalkül?

Welche Rolle spielen andere Menschen an diesem Punkt, in
meinem Leben? Die Kinder sind weitgehend selbständig und aus dem Haus. Ihre Wege führen in die unterschiedlichsten Richtungen, die ich mit Freude im Auge behalten aber nicht mehr permanent mitgestalten werde. Meine Freundschaften leben verteilt auf dem Erdball und führen jeder für sich ein ungewöhnliches und selbstgenügsames Dasein, so daß meine Rücksichtnahme auch hier nicht gefordert ist. Ein Lebenspartner? Die Möglichkeit habe ich früher angestrebt und als für mich untauglich verworfen. Später kamen zwei ernsthafte Versuche dazu, die nicht nur scheiterten sondern mich für den Rest meiner Tage prägten und zeichneten. Ich war auf eine Zweisamkeit schon längst nicht mehr eingestellt. Im vergangenen Jahr hat zu meiner und zur allgemeinen Überraschung auch diese feste Überzeugung eine totale Wende erlebt. Ich bin seitdem in etwas eingebettet, das ich nicht präzise benennen kann und will. Es fühlt sich gut an, es hat Charme und Potential. Gehört dazu auch eine Zukunft? Ist diese mit meinem kleinen Traum vereinbar? Ist sie womöglich sogar schon immer ein Teil dieser Sehnsucht gewesen, die mir erst jetzt bewußt wird? Ich hätte viel lieber Antworten statt der ewigen Fragen...

Das Haus am Ufer eines Sees, gespeist von einem klaren Flüßchen. Die Ruhe und Abgeschiedenheit, die Unberührtheit und das Archaische in Reinform – jeder gedankliche Ausflug dorthin, jede Überlegung über das „Ob“ und „Wie“ wird qualvoller als die vorhergehende. Die Sehnsucht macht sich mit Urgewalt breit im Herzen und im Hirn. Jede Abweichung, jeder Kompromiß und jeder Verzicht scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Körper und Geist haben sich vereint in der Annahme der vorweggenommenen Realität. Eigentlich gibt es nur den Schritt nach vorn in Richtung der Erfüllung. Warum fällt dieser logische Schluß trotzdem so schwer? Warum springt man nicht einfach in das Eiswasser und riskiert... Ja, was denn? Glücklich zu sein? Ist es vielleicht genau das, was zur größten Bremse auf dem langen Weg wird? Die uneingestandene Angst vor dem Glücklichsein? Hat man, habe ich Glück verdient? Kann ich damit überhaupt leben? Die Sache geht viel tiefer, bis zu den großen
Sinnfragen des Lebens: worin liegt die Bestimmung, was will man wirklich, was wird einmal sein...?

Ich versuche mich dem sprichwörtlichen Gaul momentan von hinten zu nähern: Was passiert mit mir, wenn ich aus Feigheit, Schubladendenken, Unsicherheit oder sogar Teilnahmslosigkeit heraus gar nichts unternehme und diese phantastische Möglichkeit im Sande verlaufen lasse? Genau das wird passieren, wenn ich nicht eine aktive Entscheidung herbeiführe und mir dabei ein enges zeitliches Limit setze. Ich traue mich nicht, diese unausgesprochene Frage ehrlich zu beantworten. Wahrheit kann wehtun, verletzen. Wenn ich weiter davor weglaufe, ist das Selbstschutz. Und vermutlich der Garant dafür, daß meine Sehnsucht eine Illusion bleibt... Will ich womöglich verlieren?

Der Schrei nach Hilfe verhallt – niemand außer mir selbst kann einen inneren Konflikt wirklich auflösen. Niemand außer mir selbst darf diese Wahl für mich treffen. Niemand außer mir trägt alle Antworten bereits fix und fertig in sich. Im Umkehrschluß heißt das nichts anderes, als daß die Schuld an unerfüllten Sehnsüchten in der Regel bei einem selbst liegt. Dabei könnte es doch so folgerichtig sein, sich einfach auszuleben...

Kann das ganze Leben nur eine stetige Entscheidung zwischen zwei Ängsten, zwei Übeln, zwei Zugeständnissen sein? Wie sehr kann man sich selbst blockieren und wie anfällig bin ich persönlich dafür? Auch hier fürchte ich, bei ehrlicher Betrachtung nicht unbedingt mein äußerstes Wohlgefallen zu erregen.

Um die Sache zu einem guten Abschluß zu bringen (und damit meine ich gut besten Sinne des Wortes...) werde ich über etliche meiner Schatten springen und etwas wagen. Mit Zaudern und Zögern gehe ich nur das Risiko ein, mich später wieder und wieder zu verfluchen, weil ich nicht genug Courage hatte für eine Veränderung. Schon die Annahme, ich hätte vielleicht den rechten Zeitpunkt verpaßt, schmerzt. In
der Seele, im Herzen, in den Gliedern. Mein Ventil für Ängste, Gedanken, Gefühle, Erfahrungen und Hoffnungen wird zu jeder Zeit das geduldige Papier sein, das sich meine Ergüsse gefallen läßt. Allerdings würde ich wahnsinnig gerne einmal einen Jubelschrei formulieren und nicht nur die ewige Melancholie, die sich in den letzten Jahren verstohlen in meine Grundhaltung eingeschlichen hat. Darum gebe ich der umschriebenen diffusen Sehnsucht hier und heute ihren Namen: Ich möchte endlich ankommen. Nach vielen Umwegen, Zwischenstationen und Abzweigungen möchte ich, will ich einen Anker werfen und mich aufgehoben fühlen. Schon in dem Augenblick, wo ich das schreibe, bin ich schlagartig ruhig und entspannt. Ich versuche mir auszumalen, wie das dauerhafte Erleben mich gefangen nimmt...

Konkrete Dinge sind zu veranlassen, Unterschriften müssen geleistet werden – das alles gehört nicht mehr hierher sondern in das Reich der Realität. Letztendlich dorthin zu gelangen, unter anderem mit Hilfe der Niederschrift verworrener und nicht selten destruktiver Gedankengänge, ist eine Sehnsucht, der ich selbst schon früh und aktiv nachgegeben habe. Und ich lebe die Hoffnung, daß mein System mir recht gibt... Als nicht ganz gelöst betrachte ich die Fragen um den Menschen, der eventuell Platz an meiner Seite nimmt. Für meinen Teil, für mich allein kann ich weitgehend Klarheit erlangen und erklären. Alles weitere wird die Zeit zeigen und unterliegt nicht ausschließlich meiner Regie. Kann ich mich dem unterwerfen, unterordnen? Ein weiterer Stolperstein oder aber eine Bewährungsprobe mit optimistisch beurteilter Aussicht auf etwas ganz Neues. Und ich freue mich tatsächlich darüber. Manchmal hat man – kurzzeitig oder bleibend – den Eindruck, alles fügt sich irgendwie von allein. Ob ich das lange aushalte, erweist sich live und in Farbe. Aber es ist schön. Wirklich.

Und doch: eine Sehnsucht bleibt und bleibt...

22. Januar 2012
 



 
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