.....und gibt zu großen Bedenken Anlass

Horstingo

Mitglied
Eine gedrängte Traube von Menschen schiebt sich hinein in die S-Bahn. Mitten unter ihnen ein junger Mann, der einen zusammengerollten Teppich mit beiden Armen um­klammert und durch die Enge bugsiert, dabei schaut er links und rechts an seiner geballten Fracht vorbei, um zwi­schen vorauseilenden Absätzen und Bahnsteigkante nicht ins Straucheln zu geraten.
„Könnse nich `n bisjen aufpassen, Mann,“ beschwert sich einer vor ihm. „Wat haste denn Mann, war ja keine Ab­sicht,“ kam als Antwort zurück. Hier hätte der bissige Dialog bereits beendet sein können, wenn nicht die Beklemmung der menschlichen Nähe eine weitere Reaktion herausgefordert hätte. „Wat sag`n se da ? Hab ich Ihnen erlaubt mich zu duzen ? Sie sollten sich entschuldigen wie sich das gehört !“ Betretenes Schweigen, suchende Blicke, verlegenes Räuspern, einige tiefe Atemzüge, bei den Mitmenschen ringsherum. „Mann sind Sie empfindlich. Ich sagte doch, daß es keine Absicht war !“
Und weil Höflichkeit schon lange keine Zier mehr ist, wurde die Unmutsäußerung mit hämischem Unterton been­det: „Und entschuldigen se vielmals !“ Ende der Um­gangsform. Diese Querele im Kleinen kann im Großen eine Katastrophe verursachen. Ich presse meine Lippen zusam­men, tue unbeteiligt und versuche, mich auf das Lesen meiner Zeitung zu konzentrieren. Die Kultusminister wollen die Kopfnoten aus den Zeug­nissen entfernen,‘ lese ich. Ich erinnere mich, daß meine Kopfnoten meinen Eltern und Lehrern nie Anlaß zu Bedenken gaben. Mein Betragen, Fleiß und meine Mitar­beit müssen demnach in Ordnung gewesen sein, wie die Ordnung selbst. Es ist wohl zuerst eine Frage der Erziehung junger Menschen, der Sozialisation, wie unter anderem in diesem Artikel geschrieben steht. Das Fremd­wort „Sozialisation“ ist im Bildungsnotstand unserer Technokratiegesellschaft ein Fremdwort geblieben, während Vulgär-Amerikanismen in aller Munde und damit „in“ sind.
Die Zeitungsglosse gehört mit zu meiner Lieblingslektü­re. Sie ist ein kurzer Augenaufschlag ins Alltägliche, ins vermeintlich Unwichtige. Der Verfasser beschreibt eine Szene aus einem anderen Menschenmassentransport­mittel: Nach einer laut johlenden, sich gegenseitig frozzelnden Gruppe von Schülern besteigt ein „Weißkopf“, wie der Autor ihn nennt, als letzter den vollbesetzten Bus und hält nach einem freien Platz Ausschau. Sicher, es hätte noch einige Sitzgelegenhei­ten gegeben, wenn nicht Schulrucksäcke und „Edelbotten“ an ausgestreckten Beinen Sitzhälften belagert hätten. So forderte der alte Mann höflich – mit Sie-Anrede – eine Halbwüchsige auf, doch bitte ihre Füße vom Sitz zu nehmen und auf den Boden zu stellen, damit er Platz nehmen könne. Der alte Mann bekam sogleich das neue Selbstbewußtsein der aufgeklärten Schüler zu spüren: „Eh Opa, hast wohl `n grauen Star. Wir sind total kaputt und brauchen Entspannung. Der Alte, dem es die Sprache nicht verschlug konterte ruhig: „Daß Du ne kaputte Type bist, sieht `n Blinder mit`m Krückstock und wenn ich neben Dir Platz nehmen darf, kann ich Dir ja zum Dank Deine Pubertätspickel ausdrücken,“ sagte es und setzte sich auf den mit Schnürstiefeln belegten Platz. Der Göre gelang es gerade noch ihre Beine anzuziehen, stand auf und verließ mit koketter Gebärde die Sitzbank. Aus dem Hintergrund konnte man „cool, Alter“ und lautes Gegröhle hören. Ich blätterte meine Zeitung zurück und las nochmals, jetzt mit mehr Aufmerksamkeit, den Arti­kel über die Streichung der Kopfnoten aus den Schul­zeugnissen, was laut dem Kultusministerium zu keinen großen Bedenken Anlaß gibt.
Auch das Zeitungsfeuilleton, welches als anderer, so unwichtiger Teil einer Zeitung gerne überblättert, bestenfalls quergelesen wird, gehört zu meinen bevor­zugten Seiten. Obwohl ich als Arbeitsloser und Empfän­ger sozialer Hilfe alle Privilegien unserer Gesell­schaft verloren habe, lese ich die Feuilletonseiten mit Genuß und tue so, wie einer in der Musestunde nach getaner Arbeit. Ich habe mir alles genommen – auch meine Zivilcourage – aber ich lese trotzdem das Feuil­leton und gebe meiner Umgebung vor, es mir leisten zu können.
„Pathos einer multiplen Generation“, heißt die Über­schrift auf der ersten Seite. „Wie wahr,“ denke ich und beginne die Zeilen unter dem Eindruck des Geschehenen und des zuvor Gelesenen mit großen Interesse in meine Gedanken aufzunehmen. Der Bericht ist ein Abriß über die Lebensgeschichte und das soziale Umfeld einer der schillernsten Frauenfiguren der Moderne, wie es heißt. Der Autor erzählt von der Hoffnungslosigkeit einer Epoche, von Drogensucht, Prostitution und Kriminalität.
Dem Leiden einer jungen Generation ohne Zukunft, von Gleichgültigkeit, Intoleranz und der existenziellen Not der Menschen. Unwillkürlich kommt mir ein Kernsatz aus der Philosophie J.P. Sartres in den Sinn. Er sagt: „Der Mensch sei ein zur Freiheit Verurteilter, der sich in unüberwindbarer Subjektivität den Sinn seiner Existenz selbst setzten müsse.“ Obwohl ich mit 54 Existenzjahren diesen Kampf längst verloren habe, weigere ich mich nach wie vor, die Niederlage anzuerkennen. Man muß Sartre hassen, weil er Recht hat !
Dieses Pathos einer multiplen Generation könnte über die 90er-Jahre, die Jahrzehnte davor und wahrscheinlich die Jahrzehnte danach geschrieben werden. Aber diese schillernde Menschenfigur lebte von 1885 bis 1948 und der Artikel beschreibt ihren Lebensabschnitt von 1909 bis zum 2. Weltkrieg. Ich blättere weiter, verdränge die alten Gedanken, um mich mit neuen Gedanken dem Leitartikel über „Die Wahrheit im Kosovokrieg“ zu widmen.
Diese halbe Stunde Tagtäglichkeit, diese halbe Stunde vielfältig angeregter Gedanken zeigte mir die Wahrheit, nicht nur im Kosovokrieg, nicht nur in der Zeit von 1909 bis 1939, nicht nur im Jahre 2000 und gibt zu großen Beden­ken Anlaß.
Dann hält die S-Bahn an meiner Zielstation und anonyme Menschen tauschen sich aus, so, als ob nichts gewesen wäre.
 
P

Prosaiker

Gast
Was hat das mit Prosalyrik zu tun?

Ferner: "Obwohl ich als Arbeitsloser und Empfän­ger sozialer Hilfe alle Privilegien unserer Gesell­schaft verloren habe, lese ich die Feuilletonseiten mit Genuß und tue so, wie einer in der Musestunde nach getaner Arbeit"

Warum sollte ein Arbeitsloser nicht die (zeitungsabhängig) schön zu lesenden Feuilletonseiten lesen dürfen? Welcher Zusammenhang besteht da mit dem Verlust aller Privilegien? Das Wörtchen "obwohl" am Satzanfang finde ich verwirrend und sehe die Verknüpung von arbeitslos sein und etwas nicht lesen dürfen nicht. Allgemein finde ich keinen Bezug zu deinem Text, ich lese ihn, lese ihn durch und denke: aha. Sprachstil ist nicht besonders (im Sinne von extravagant), zum Inhalt finde ich keinen Zugang, er ist für mich praktisch nicht vorhanden. Vielleicht kann ein anderer damit mehr anfangen.

Liebe Grüße, Prosaiker
 

Horstingo

Mitglied
....und gibt zu großen Bedenken Anlass

Vielen Dank für die Kritik, lieber Prosaiker!
Ich nehme jede Kritik ernst, auch eine solche.
Ich bedauere sehr, daß du den Zugang zu meinen Gedanken in dieser Geschichte nicht gefunden hast.
Entschuldigung für die Einordnung in die falsche Rubrik.
Bitte schreibe es meiner Unerfahrenheit zu, denn ich bin erst wenige Tage Mitglied. Später habe ich das Prosa-Forum und dort die "Kurzgeschichten" gefunden, wo mein Text eigentlich hingehört, meine ich.
Nochmals danke.
Horstingo
 



 
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