... ein Fetzen Alltag ...

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Marc Olivier

Mitglied
... barsten hervor aus dem Untergrund. Geschäftiges Treiben verriet die Tageszeit. Krawatten flogen, Röcke flatterten. Einige strauchelten, aber keiner kam zu Fall. Manche kniffen die Augen zusammen. Daran erkannte Werner Hof, ein kleiner, hellhäutiger Mann, dessen Körper genauso rundlich war wie sein Kopf, auf dem sein ausgedünntes, rotblondes Haar thronte, dass sie eine lange Zeit unterhalb der Stadt verbracht hatten, wohl einige Male hatten umsteigen müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Das helle Tageslicht brannte wohl in ihren Augen, die sich bereits an das kalte Licht dort unten gewöhnt hatten. Als der Pulk wortlos an ihm vorbeiraste, spürte er den schneidenden Luftzug. Er beobachtete, wie er sich von ihm wieder entfernte und immer weiter ausdünnte. Manche verschwanden in Seitengassen, andere in Hofeingängen. Und der Rest verteilte sich bald auf beide Straßenseiten. Alle waren darauf bedacht, möglichst schnell und ohne Kontakt zur Umwelt ihr Ziel zu erreichen, was auch immer es gewesen sein mag. Werner Hof wartete hier. Er hatte sich verabredet. Um ein Uhr wollte seine Kollegin aus dem Büro fünf Etagen unter seinem hier sein, um mit ihm bei einem Kaffee die Mittagspause zu verbringen. Er hatte die Verabredung absichtlich auf seinen freien Tag gelegt, um auf keinen Fall gestresst, müde oder auch nur in Zeitdruck zu sein. Doch es waren bereits zwanzig Minuten seitdem vergangen und sie war nicht da. Bereits als sie schon zehn Minuten überfällig war, hatte er begonnen, zu überlegen. An ihren Arbeitsplatz zu gehen, das traute er sich nicht. Sich diese Blöße vor den Kollegen geben? Nein danke!!! Einfach wieder wegzugehen empfand er als Kapitulation. Außerdem – vielleicht hatte sie sich ja auch nur verspätet und die Chance wäre verpasst gewesen. Letztendlich war sein Blick auf eine Telefonzelle gefallen und er fasste den Entschluss, sie bald anzurufen, sofern sie weiterhin nicht auftauchen sollte. Nun stand er da, hatte den Zettel mit ihrer Durchwahl bereits in der Hand. Die Straße hatte den Ansturm aus dem Untergrund bereits überstanden und die Menschenmenge sich wieder auf das übliche Maß reduziert. Er wartete noch einen Augenblick, in dem nichts geschah, und lief in Richtung Telefonzelle.
Kurz zuvor war Andreas Pröll, ein junger, adrett gekleideter Mann mit Anzug, Krawatte sowie Aktentasche und Mitglied des Pulks aus dem Untergrund - er war einer der angestrengtesten, seine Krawatte war am höchsten geflogen – von einem Schild am Fenster eines Fast-Food-Restaurants, das ihm einen Milchshake nach Wahl für wenig Geld versprach, aus eben jener Gruppe herausgesogen worden. Er hatte Glück. Er fand eine Kasse, an der vor ihm nur eine Frau mit ihrem kleinen Kind bezahlte und an einen Tisch ging. Sein verzerrtes Gesicht verriet jedem seine Eile, die Dringlichkeit des Geschäftstermins, der in wenigen Minuten anstand. Die Anstrengung und der Stress waren ihm deutlich anzusehen und das wusste er. Aber sein Erfolg gab ihm Recht. Er hatte großen Hunger, aber keine Zeit für Essen. Deswegen war ihm der Milchshake gerade recht gekommen. Es war schwere Nahrung und täuschte dem Magen einige Zeit ausreichenden Füllungszustand vor. Seine Wahl fiel auf Schoko. Er zahlte eilig... er zahlte in dem Moment, als sich Werner Hof mit Ziel Telefonzelle in Bewegung setzte. Dieser stieß einen spitzen Schrei aus, als er in den fast rennenden Andreas Pröll voll hineinlief. Er hatte sich zu Tode erschrocken, genauso wie sein Unfallpartner, denn der war anderthalb Köpfe größer und hatte nichts Böses geahnt, Werner Hof schlicht nicht gesehen. Beim Zusammenprall wurde Andreas Prölls Becher wie eine Tomate zerquetscht und ähnlich fontänenartig wie Fruchtfleisch ergoss sich der Inhalt über die Hemden der Männer.
„Sehen Sie sich doch vor!“, herrschte Pröll Hof an. Das Schlimmste, was einem Geschäftsmann passieren konnte, war passiert. Er stellte seine braun gesprenkelte Aktentasche ab und versuchte verzweifelt, mit bloßen Händen die Schweinerei zu beseitigen.
„Entschuldigen Sie bitte!“ Werner Hofs Stimme war leise und verhalten. „Ich habe so schnell nicht ausweichen können!“
Dem Klang seiner Stimme war es zu verdanken, dass Andreas Pröll dies nicht als Schuldzuweisung verstand. Er stand ihm nun gegenüber und beobachtete, wie der andere ein Taschentuch hervorholte und hektisch an den Flecken auf seinem Hemd herumwischte – erfolglos. „Ach, Scheiße!“ Er schleuderte das Taschentuch auf den Boden. Sein Ton hatte sich immer noch nicht entschärft.
„Ich bezahle ihnen das Hemd!“
Pröll funkelte ihn an. „Ich habe bestimmt keine Zeit, mir ihre Adresse aufzuschreiben. Sehen sie sich diese Sauerei an. Das kann ich im Moment überhaupt nicht brauchen!“
Hof überlegte, wie er sich verhalten sollte. „Lassen Sie mich Ihnen wenigstens die einsfünfzig für das Getränk geben!“
Statt zu antworten, riss Pröll seine Aktentasche, in der er für solche Fälle stets ein Ersatzhemd mit sich führte, an sich, wirbelte herum und stürzte zurück in das Restaurant. Werner Hof sah ihm ratlos nach, bis er in der Herrentoilette verschwunden war. Jetzt endlich fiel ihm wieder ein, was er eigentlich vorgehabt hatte und ging langsam und über den Vorfall nachdenkend zur Telefonzelle. Er fütterte den Apparat mit Münzen und wählte die Nummer. Es klickte einige Male und er hörte das...
 



 
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