1. Die Kreuzung

hein

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1. Die Kreuzung

Dienstag, 8 Uhr 27, eine neuralgische Kreuzung in der Innenstadt. Der viel zu dichte Autoverkehr schiebt sich über die Spuren, behindert durch Radfahrer ohne jegliche Kenntnis der Verkehrsregeln (oder mit Kenntnis, aber in völliger Ignoranz, schließlich ist das Fahrrad dem Kraftfahrzeug moralisch und ökologisch haushoch überlegen!) und gefüllt mit einsamen (vom Sex - oder dem nicht stattgefundenen - des Vorabends deprimierten, sowieso zu späten) Arbeitnehmern oder sonstigen, sich als geistig-moralisch-intelligenzmäßig überlegen fühlende, Zeitgenossen.
Ein Pulk Fußgänger wartet auf das Grün der Ampel. Auf dem Bordstein, mit einem Bein fast schon auf der Straße, steht ein Mann und starrt gebannt und weltvergessen auf sein Smartphone. Einen halben Schritt rechts daneben verzieht eine Frau mittleren Alters nach einem beabsichtigten Blick auf das Handy des Nachbarn angewidert das Gesicht und wendet sich ab. Links eine Frau mit Kopftuch und langem Mantel, bedacht, jeden Körperkontakt mit den umstehenden Fremden zu vermeiden. Dahinter weitere Reihen mit dem üblichen zu dieser Zeit unterwegs befindlichen Publikum, Sachbearbeiter, Fachverkäuferinnen und anderes niederes Personal auf dem Weg zur Arbeit, Putzpersonal nach bereits durchgestandenen Stunden unter Druck und für zu wenig Geld auf dem Weg zurück ins Bett oder den Freuden des Familienlebens, sonstige Zeitgenossen/Innen mit oder auch ohne mehr oder weniger sozialverträglichen Beschäftigungen.
Von hinten nähert sich ein Jüngling mit buntem Shirt und Kappe (langer, gerader Schirm und sinnloser Schriftzug), Stöpseln im Ohr und kaum beherrschtem Skateboard unten den Füssen. Bedröhnt durch laute Musik und den Folgen der asiatischen Kräuterkur letzte Nacht bemerkt er zu spät die Menschenansammlung und fährt mit einiger Geschwindigkeit direkt hinein. Eine Frau in der letzten Reihe gibt die Energie des Anpralls unabgeschwächt an den stämmigen Vordermann weiter, wird von diesem und den anderen Nebenstehenden abgefangen und kann so einen Sturz auf das Pflaster vermeiden. Der mit jetzt schon etwas reduziertem Schwung weitergereichte Anprall schubst den völlig überraschten Mann mit dem Smartphone direkt in den laufenden Verkehr. Hinter einem gerade vorbeigefahrenden Taxi und vor einem herannahenden Bonzen-Schlitten bleibt ihm wenig Zeit zur Konservierung seiner körperlichen Unversehrtheit. Er hat die Situation noch nicht einmal erfasst, geschweige denn eine Möglichkeit zur Rettung gesehen, als ein von Links kommender Arm seine Jacke packt und ihn zurück an den Fahrbahnrand zieht. Die Limousine ist glücklicherweise gut gepflegt, sodass die an seiner Kleidung entlangstreifende Alu-Karosserie keine Spuren hinterlässt. Lediglich die vom Hinterreifen überrollten vorderen zwei Zentimeter seiner Schuhe bedürfen dringend einer neuen Politur (seine Mutter hatte immer gepredigt, dass beim Kauf von Schuhen auf ausreichend Platz für die Zehen zu achten ist. Hier ist ersichtlich und kann als gutes Beispiel für ignorante Nachkommen zitiert werden, dass sich auch eine zunächst als unnütz angesehene Erziehung irgendwann im Leben auszahlen kann).
Geschockt von dem kaum erfassten Geschehen bemerkt er nicht das Grüne Männchen an der für ihn relevanten Fußgängerampel, lässt die Neben- und Nachstehenden an sich vorbeifließen und tritt erst bei erneut einsetzendem Autoverkehr einen Schritt auf den als sicherer angesehenen Fußweg zurück. Nach zwei weiteren Grünphasen zwingt er sich, dass bis vor Kurzem noch so unverzichtbare und jetzt seit Langem erstmals unbeachtete Smartphone in die Tasche zu stecken und seinen Weg mit offenen Augen fortzusetzen. Bewusst ignoriert er eine wichtige, durch Lautäußerung des Geräts angekündigte Nachricht, konzentriert sich auf den Verkehr und staunt über das schon seit Ewigkeiten nicht mehr registrierte vielfältige städtische Leben. So erreicht er unversehrt, eben nur mit lädierten Schuhen, seine Wohnung und kocht sich einen Tee.
 



 
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