27 Minuten

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Nina Trebesi

Mitglied
Ihr Haus steht noch an seinem Platz, als sie ankommt. Jedes Mal hat sie Angst, es könne während Ihrer Abwesenheit verschwunden sein. Passanten würden behaupten, hier habe nie ein Haus gestanden. Sie würde ihre Schlüssel hochhalten und schreien: „Da, der Beweis! Meine Schlüssel!“ „Was beweisen schon Schlüssel“, würde die Antwort lauten.

Doch auch heute, wie schon so oft, steht das Haus an seinem Platz. Nur wäre es ihr heute fast lieber gewesen, ihr Haus wäre tatsächlich verschwunden.
Mit zittrigen Knien steigt sie die Treppe hinauf. Das Telefon hört auf zu klingeln, als es ihr endlich gelingt, die Türe zu öffnen. Auf dem Tisch liegt ein Messer. Ein Messer mit einem rauen, rissigen Griff. Sie sieht es zum ersten Mal.

„Paul?“ Ihrer Stimme fehlt die gewohnte Festigkeit. Sie streicht mit den Fingern über den Messergriff. Und ist mit drei Schritten bei der alten Kommode. Das Seil liegt an seinem Platz. Was für ein grotesker Gedanke! Dieses Seil ist viel zu schwach und zu kurz.
Aus dem Badezimmer hört sie ein Geräusch. Geräusche bedeuten: Leben. Das Messer, das Seil: Es gibt so viele Möglichkeiten. Sie zu entfernen würde nichts lösen. „Antworte mir, Paul!“

In der alten Kommode liegen auch weiße Handschuhe, ihre Brauthandschuhe. Sie hatte sie ganz vergessen. Bestimmt haben sie schon immer dort gelegen, all die Jahre.
Sie streift sie über und sieht sich erneut in diesem Kleid einer Königin, dessen Saum bei jedem Schritt tanzte. Erneut liegt die Zukunft vor ihnen.

Sie stößt die Tür zum Badezimmer auf. Paul steht da, er lebt und dreht ihr den Rücken zu. Der Badezimmerspiegel wirft ihr sein merkwürdiges Lächeln entgegen. Sie will ihm sagen: „Du irrst dich, Paul“, doch da sieht sie die Dose. Es ist nur eine einfache Teedose, genau so alt wie die Brauthandschuhe und genau so beladen mit Erinnerungen. Es sind nicht dieselben Erinnerungen. Paul hätte sie niemals finden dürfen.
„Gib mir diese Dose zurück“, sagt sie, endlich mit fester Stimme. “Du hast also in meinen Sachen gekramt? Wolltest du die Wahrheit wissen? Die wirst du jetzt erfahren!“
Mit einem Mal überkommt sie die Wut. Nicht mehr Angst, sondern Wut.

„So können wir nicht weitermachen“, antwortet er einfach.
„Zieh diese alberne Brille ab“, sagt er mit unerwarteter Zärtlichkeit in der Stimme.
„Nein, mir brennt das Licht in den Augen.“
Doch er nimmt sie ihr ab, ohne auf ihren Protest zu achten.
„Er schlägt dich also?“
„Niemand schlägt mich. Du bist verrückt, Paul.“

Sie setzt die schwarze Brille wieder auf, als ob diese das Bild abwehren könne, das sie in all den Jahren nicht vertreiben konnte: Das Kind, das ausgestreckt auf der Strasse liegt, mit abgewinkelten Gliedern, wie eine Stoffpuppe. Genauso leblos. Kein Puppenspieler würde es je wieder zum Leben erwecken können.
Und alles andere? Was zählt schon alles andere?

Das Telefon klingelt wieder. Paul hebt ab. „Davon rate ich Ihnen ab“, sagt er nur, in trockenem Tonfall. „Jedem seine Trauerarbeit“, sagt er zu ihr, als er aufgelegt hat.

„Gib mir diese Dose“, wiederholt sie.
„Es ist auch mein Sohn, nicht nur deiner.“
Sie reißt ihm die Dose weg.
Und sagt dann, ruhiger geworden: „Komm, wir sehen uns zusammen diese Fotos an, wir versuchen zusammen, etwas zu verstehen.“

Blumen, so viele Blumen.
Merkwürdig, dass es immer Blumen sind. Zur Geburt, den wenigen Geburtstagen. Und schließlich zur Beerdigung.


P.S. Der Titel bezieht sich diesmal nicht auf den Inhalt sondern auf die Machart: der Text ist bei einer Schreibübung entstanden, bei der ich alle drei Minuten einen neuen, mir vorher unbekannten Gegenstand vor die Nase gesetzt bekam. Diese insgesamt neun Gegenstände sollte ich dann nach und nach in die Geschichte integrieren. Sie ist also in 27 Minuten und ohne vorige Planung entstanden. Eine interessante und amüsante Übung, die ich jedem nur empfehlen kann!
 

katia

Mitglied
spannend

einerseits finde ich das p.s. interessant. andererseits hätte mich interessiert, welche kommentare hier gekommen wären, wenn du es weg gelassen hättest. diese übung werde ich auch mal machen. danke für den impuls!
lg
katias
 

Nina Trebesi

Mitglied
P.P.S.

Tja, da muss ich Dir zustimmen! Das hätte mich jetzt auch interessiert: welcher Kommentar von Dir gekommen wäre, wenn ich das P.S. weggelassen hätte!!
Danke jedenfalls für Deine Reaktion und viel Spass bei der Schreibübung!
Nina
 



 
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