4. Abendspaziergang

molly

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Abendspaziergang

Beim Essen kamen sie nicht dazu, dem Vater alle Neuigkeiten vom Tag zu erzählen, denn es war Zeit, zu Frau Böhler ins Milchhäuschen zu gehen. Dorthin lieferten die Bauern die Milch ihrer Kühe und die wurde am nächsten Morgen von einem Tankwagen abgeholt.
Aber abends durften sich die Menschen im Dorf im Milchhäuschen mit frischer Milch versorgen.
Frau Böhler trug über ihrem eisengrauen Haar stets ein Kopftuch. Sie lächelte selten und vergaß nie, die Kinder auf schmutzige Fingernägel oder offene Schnürsenkel aufmerksam zu machen.
Kamen die Leute auch nur eine Minute zu spät, hatte sie alle Milch in den Kühltank geschüttet und sperrte die Türe zu.

Abwechselnd durften die Kinder den Vater begleiten und heute war Michael an der Reihe. Er genoss den kurzen Spaziergang sehr, denn nun hatte er den Vater für sich alleine. Frohgemut schlenderten sie in Richtung Oberdorf. Sie kamen auch an Davids Elternhaus vorbei. An diesem Abend standen alle noch im Hof, David, seine Eltern, die Großeltern und sogar das Baby in seinem Wagen.

„Michi", sagte Vater, „da im Hof steht eine tolle Maschine, die schauen wir uns gleich an!" Er strebte mit Riesenschritten dem Milchhäuschen zu, Michael musste fast hinterher rennen. Als sie dort ankamen, warteten mindestens vier Leute. Es roch angenehm nach warmer, frischer Milch und ein wenig nach Kuhstall. Sie stellten sich in die Reihe, denn selbst der Vater hätte sich nicht getraut, vorzudrängeln. Das duldete Frau Böhler überhaupt nicht. Die Leute vor ihnen tauschten ruhig die neuesten Dorfnachrichten untereinander aus und merkten nicht, wie ungeduldig der Vater von einem Bein aufs andere trat. An diesem Abend hatte er auch keine Zeit, mit Frau Böhler zu scherzen. Kaum war ihre Kanne gefüllt, stürmte er wieder los.
Alle standen noch im Hof und der Vater wollte zu ihnen gehen.

Mit aller Kraft hielt Michael ihn zurück. „Du darfst da nicht hin, Papa, Davids Großmutter will keine Fremden im Hof", erklärte er. Aber der Vater hörte nicht auf Michaels Warnung, runzelte nur einen Augenblick lang die Stirne: Dann umarmte er Michael kurz, flüsterte: „komm nur", und gesellte sich zu den anderen. Selbstverständlich blieb Michael an seiner Seite. Wenn Davids Großmutter ihn fortschickte, sollte er nicht alleine sein. Doch keiner nannte sie „Fremde", alle waren freundlich.

Jetzt sah Michael auch die Maschine, ein großes Motorrad. Das Lenkrad leuchtete in der untergehenden Sonne. Michael und Davids Vater plauschten öfters mit einander und meistens ging es dabei um Autos, Motorräder und andere Fahrzeuge. Jetzt aber wandte sich der Vater an Davids Großmutter und fragte: „Na, wann drehen Sie die erste Runde mit ihrem Sohn auf dem schönen Motorrad?" Sie schüttelte nur den Kopf und meinte, dass keine zehn Pferde sie jemals auf diese Höllenmaschine bringen werde. Michael glaubte ihr aufs Wort. Auch der Großvater war nicht begeistert über das Motorrad. „Völlig unnötig." brummte er und ging in den Stall. Nun wünschte uns Davids Mutter eine gute Nacht. Sie schob den Kinderwagen in den Schuppen, holte das winzige Baby heraus und trug es in die Wohnung. Auch die Großmutter hatte noch zu tun. Sie ging in ihren Garten.

Jetzt konnte Michael den Vater beruhigt alleine lassen und mit David spielen. Der holte den Leiterwagen aus der Scheune und sie zogen sich gegenseitig über den Hof. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Väter das Motorrad bestaunt hatten. Als Davids Vater den Buben eine Probefahrt versprach, wären sie am liebsten mit ihm losgebraust. Leider war es schon dunkel geworden und der Vater wollte nach Hause.

„Na, ihr Nachtgeister, was hat euch denn heute aufgehalten?" fragte die Mutter und der Vater erzählte von dem Motorrad. Michael räusperte sich und sagte: „Papa?"
„Was willst du wissen?"
Er dachte natürlich noch an das Motorrad, doch das interessierte Michael nicht mehr.
„Eben war doch Davids Großmutter sehr freundlich zu uns. Aber am Nachmittag hat sie Nele und mich fortgeschickt, weil sie keine Fremden mag. Und David hat gesagt, wir wären Preußen. Nicht wahr, Papa, wir sind keine Preußen." Sein freundliches Gesicht wurde finster, die Mutter legte beschwichtigend die Hand, auf seinen Arm.
„Bist du zornig?" fragte Michael.
„Nein, nur sehr traurig, weil ich immer wieder hören muss, dass meine Familie Fremde sind."
„Warum denn?" wollte Nele wissen.
„Das ist eine lange Geschichte, ich werde sie euch einmal erzählen“, versprach er.
„Das ist eine gute Idee“, fand die Mutter, „doch jetzt ist es Zeit für euch, ins Bett zu gehen!"
„Mama, sag mir nur noch, ob wir Preußen sind", bat Michael. Nun lachten die Eltern wieder. Der Vater gab seinem Sohn einen Nasenstüber: „Ach weißt du, Michael, Preußen sind Menschen wie du und ich, ihr Land liegt nur in einer anderen Gegend. Eure Mutter ist eine echte Schwäbin und ich bin in Schlesien geboren. Aber hier fühle ich mich Zuhause, weil ihr bei mir seid. Du kannst mich auch einen schlesischen Schwaben nennen, wenn du willst", lachte er vergnügt.

Nein, das wollte Michael nicht. Vielleicht galten die Schlesier hier noch fremder als die Preußen. Vorläufig würde er David nichts von Schlesien erzählen, jedenfalls solange nicht, bis er Vaters Geschichte kannte. Im Augenblick fühlte sich Michael besänftigt. Er gehörte nicht zu den Preußen. Getröstet stieg er ins Bett und schlief im Nu ein.

Es dauerte sehr lange, bis der Vater seine Geschichte erzählte und in der Zwischenzeit hatte sich vieles geändert.
*
In der nächsten Geschichte geht es um Spiele.
 



 
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