Aaron

TausendTN

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Der Herbstwind zog sanft um seine Ohren als Aaron

mit langsamen Schritten die George-St hinunterging.

Das einzige Geräusch war das trockene Knacken von

Laub wenn er einen Schritt tat, und über den Häusern

und den Bäumen am Rand der Straße verschwand gerade

der letzte goldgelbe Schimmer.

Zu dieser Zeit herrschte hier eigentlich reger Betrieb,

doch jetzt sah er keinen Menschen. Aaron kam es vor,

als liefe er in einem Gemälde umher; ausser ihm

vollkommen unbeweglich, doch angsteinflößend in

seiner Starrheit, ehrfurchtgebietend in seiner Stille. Das

regelmäßige Knacken des Laubs stockte für einen

winzigen Moment als die Unbehaglichkeit überhand

nahm. Er fühlte sich als mache er Lärm in einer

Bibliothek.

Dieses kurze Stocken war ein ganz unbewusstes; doch

so regelmäßig das Knacken der Blätter Aarons nächsten

Schritt verkündete, so fahrig und abgehackt zuckte sein

Blick von Links nach Rechts, nervöser werdend während

die Schatten länger wurden. Diese zogen sich die Bäume

der Allee hinauf und die Straße lag vor ihm wie ein

Friedhof.

Er hörte wie ein Fenster geöffnet wurde und die

Szenerie verlor ihre Bedrohlichkeit. Das Gemälde wurde

lebendig; ein Auto bog auf die George-St., er hörte

Stimmen. An der Ecke St. Paul-St. überquerten gerade

ein paar Kinder die Straße. Die untergehende Sonne

schien mit einer gelben Wärme, wie sie es nur an einem

Herbstabend kann.

Das Knacken hörte auf. Aaron blieb stehen und

blickte über die Straße in eine kleine Gasse auf der

anderen Straßenseite. Er konnte zusehen, wie die Sonne

am Ende der Gasse unterging, sie kurz hell ausleuchtete,

um sie direkt darauf in Dunkelheit zu hinterlassen.

Diese Dunkelheit hatte jetzt nichts bedrohliches mehr.

Es war ein gewöhnlicher, sogar angenehmer,

Herbstabend, und es war Zeit, nach hause zu gehen.

Er drückte dem Taxifahrer einen Zwanzig-Dollar

Schein in die Hand. Danke. Aaron fühlte sich zuhause.

Grantley Road 14.

Sein Blick wanderte über den ungemähten Rasen. Der

Briefkasten stand nur noch halb auf einem verwitterten

Holzbalken. Und das ganze kleine, bescheidene Haus

sah so aus, als würde es bei der ersten ernsteren Brise

zusammenbrechen. Überall waren Schatten; das kleine

Garagentor lag verdunkelt links des Hauses, über die

kleine Rasenfläche zog sich Dunkelheit, die einzige

Lichtquelle war eine kleine Lampe auf der zerfallenen

Veranda. Doch er fühlte nicht, wie die Schatten sich

bewegten. Auf der George-St. hatte er sie pulsieren

gespürt, hatte bemerkt dass sie versuchten, aus ihrem

Rahmen zu brechen, um in die wirkliche Welt zu fließen.

Das Haus war hingegen ein Bollwerk, eine Festung

gegen diese Art der Dunkelheit; und wenn es doch

gerade zu einem guten Teil von ihr verschlungen war,

wusste Aaron, dass er sich hier nicht zu fürchten

brauchte. Nicht etwa weil es Licht gäbe, oder weil es

sich ausleuchten ließe; sondern wegen dem was er

fühlte, wenn er es betrat. Die kurze Umarmung eines

alten Freundes.

Das Holz der Veranda seufzte als er auf die Tür

zutrat, ihren alten Türknauf drehte, und sie öffnete. Als

er hineintrat und die Tür hinter sich zuzog, umfing ihn

die Schwärze wie eine zähe, teer-artige Masse, doch sie

war warm und hieß ihn willkommen. Mit einem klick

betätigte er die Lampe auf dem kleinen Tisch neben der

Tür. Die Dunkelheit zog sich ein paar Meter zurück,

widerwillig und ein klein wenig zu langsam, gerade

genug um einem Unwissenden nicht aufzufallen; Aaron

nahm es hin. Er sah kurz den schmalen Flur hinab; alte

Holzdielen und eine fleckige Tapete, zwei hellere

Flecken an der Wand als Platzhalter für Bilder die dort

hangen als er noch rauchte.

Aaron wandte sich nach rechts und trat in ein

Esszimmer. Ein dicker, dunkelroter Vorhang vor dem

einzigen Fenster verbot jeden Blick nach draussen, das

Flurlicht ließ nur Schemen erkennen. Mit einem

trockenen Kratzen zog er einen der drei Stühle ein paar

Zentimeter weg von dem runden Tisch und setzte sich

darauf. Hier wartete er.

_

Zeit verhält sich sonderbar wenn man nicht schläft.

Jeder kennt das Phänomen der Minute die ewig zu

dauern scheint, oder des Augenblicks der viel zu schnell

vorbei ist. Nach einer Weile ohne Schlaf steigert sich

diese Varianz ins Absurde und hängt nicht mehr davon

ab, ob uns der Augenblick angenehm ist oder nicht.

Überhaupt, und das fällt meistens erst auf wenn der

verlorene Schlaf nachgeholt ist, ist es sehr schwer,

wirkliche Freude zu empfinden. Grundlose Euphorie, auf

der anderen Seite, mag von Zeit zu Zeit auftauchen. Der

Großteil der Zeit ist allerdings von einer Taubheit

geprägt, die uns alles mit einer unangebrachten Distanz

erleben lässt.

An manchen Abenden saß Aaron auf seinem Stuhl,

den Blick gesenkt, und hatte nur Zeit für ein oder zwei

Gedanken bis ein leichter Schimmer hinter dem Vorhang

ihn dazu bewegte, wieder den Kopf zu heben; an anderen

hielt ihn jede Sekunde fest, klammerte sich an seine

Füße wie ein Sumpf, und sobald er endlich einen Schritt

tat, steckte er wieder fest. Diese Abende waren es, die

ihm zeigten, wie die Dinge wirklich sind.

Er sah sich an seinem Tisch sitzen, fast eins mit dem

Haus, direkt gegenüber des Fensters, und er sah wie die

dunkle pulsierende Masse sich an den Ecken des

Fensters konzentrierte, und er war froh; das Haus war ein

Verbündeter.

Aus dem gleichen Grund aus dem andere Leute ihre

Kellertür verschließen, hatte Aaron diesen Vorhang. Er

schloss nichts ein, sondern aus, und es gab kein rettendes

Licht das dem Dunkel von Zeit zu Zeit Boden abgewann,

dafür jedoch eine Dunkelheit die noch wilder und noch

älter war. Vielleicht brauchte er den Vorhang garnicht;

doch es war eine Sache, von diesen Dingen zu wissen,

eine andere, sie Nacht für Nacht anzustarren.

Wenn er das Haus verließ, verhielt sich die Zeit nicht

anders. Vielmehr ließ ihn die Interaktion mit Anderen

den wirklichen Grad dieser Distortion spüren; er sah

Gesichter wie in Zeitlupe an sich vorbeiziehen, oder

merkte garnicht wie schnell sie auftauchten und wieder

verschwanden. Und es bedurfte immer erst einem

zittrigen Was? nach einer zu spät erkannten Frage um

sich des Ausmaß dieser Verzerrung bewusst zu werden.

Ein Blick in ein fremdes Gesicht mit einer leicht in

Falten gelegten Stirn das zu fragen schien hört er mich

nicht?

_



Am Donnerstag Nachmittag, dem 22. August, öffnete

Aaron die Tür des einzigen Coffeeshops der Gegend und

trat wieder hinaus auf den Bürgersteig. Er schlenderte

den Boulevard hinunter und warf seinen heissen Kaffee

im Vorbeigehen angewidert in eine Mülltonne. Seit es

für ihn in der George-St. eng geworden war, waren drei

Tage vergangen. Und seitdem hatte er etwas gelernt.

Seine Schlaflosigkeit, so sehr sie ihn unter all dem

quälte, verlieh ihm einen ungefilterten, klaren Blick für

die Dunkelheit. Doch vor einem Tag erkannte er, dass

der Blick des ausgeschlafenen Menschen viel mehr

verdreht und kaschiert als er dachte. Es ist nicht ganz so

wie mit der Schwärze der Nacht und den Schatten; bevor

er diese deutlich erkannte, hatte er eine völlig falsche

Vorstellung von ihrem Wesen. Sie sind lebendig, haben

einen Willen, streben -- Sind Welten entfernt von der

toten, bloßen Abwesenheit von Licht.

Seine neuere Erkenntnis war subtiler, und lag in der

Dame begründet, die ihm jeden Morgen seine Post

brachte. Sobald er, den roten Vorhang anstarrend, im

frühen Morgen das Schnaufen der etwas fülligen Mrs.

Brown hörte, die sich auf dem Fahrrad die Straße zur

Hausnummer vierzehn hochmühte, trat er für

gewöhnlich hinaus auf die Veranda und begrüßte sie. Zu

dieser Zeit ist es gerade hell genug, und Aaron spürte

eine gewisse Genugtuung, sich der Dunkelheit so

entgegenzustellen; zwar gab es keine wirkliche Gefahr

mehr, doch sah er die Schwärze noch in einigen Ecken,

und spürte dass sie in seine Richtung zuckte. Mrs.

Brown schniefte, hob ihr Bein über den Fahrradsattel

und blieb einen Moment keuchend stehen.

Mr. Park, sagte sie. Schlecht geschlafen? Sie sehen

aus als bräuchten sie einen Kaffee.

Mir gehts gut, Liz sagte Aaron. Er lächelte. Und du

siehst aus wie jemand, der es hasst, diesen elenden Berg

hinaufzufahren. Sie lachte. Mit ihren siebenundzwanzig

Jahren war sie weit entfernt von der Naivität der Jugend,

doch auch noch nicht zynisch genug, als dass es sich in

ihrem Lachen bemerkbar machte. Es war ehrlich.

Sie wissen, wie es ist, sagte sie. Ich bringe ihnen gerne

die Post, aber diese Strecke direkt nach dem Aufstehen

ist Körperverletzung. Sie reichte ihm 2 schmale

Briefumschläge; nichts als die Strom- und die

Telefonrechnung. Und als sie im Umdrehen die Hand

zum Gruß hob, sah Aaron für einen winzigen Moment

die ekelhafte Fratze, die sich unter ihrem wie als Make-
Up aufgetragenem Gesicht befand.

Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten ihre

Gesichtszüge, ihre Augen wurden zu gemeinen, dunklen

Punkten und neben einem grausamen Zug um die Lippen

entblößte ihr leicht geöffneter Mund ein paar spitzere,

gierig aussehende Zähne. Aaron zuckte zurück, sein

rechter Arm machte eine Bewegung wie um auszuholen;

doch der Moment war so schnell vorbei, wie er

gekommen war. Liz starrte ihn an.

Alles okay Mr. Park?.

Aaron schaute ihr ins Gesicht. Wie immer, ein wenig

füllig jedoch gutaussehend, und ein wenig verängstigt.

Alles bestens, sagte er. Sie ging einen halben Schritt

rückwärts, drehte sich langsam um und ging auf ihr

Fahrrad zu.

_

Dies geschah am Morgen nach seinem Besuch in der

George-St. Die Dame die ihm seinen Kaffee servierte

hatte unter ihrer Maske eine Fratze von der gleichen Art

wie die der Postbotin. Nicht ganz so gierig und alt, aber

auch nicht weit davon entfernt. Es musste einen Sinn

haben dass er sie plötzlich erkannte; und es war mit

Sicherheit keine gute Idee, von ihnen Getränke

anzunehmen.

Dass es sich nicht um eine Störung seiner

Wahrnehmung handelte, dessen konnte er sich jetzt

sicher sein. Es gab keinen Zweifel mehr.

Die Leute auf dem Bürgersteig zogen an ihm vorbei,

mal quälend langsam, mal zu schnell um sie zu

erkennen. Aaron spürte einen fast angenehmen Druck

hinter seiner Stirn, der ihm mittlerweile nur zu bekannt

worden war. Er zog den linken Ärmel seiner Jacke

zurück, spürte den Stoff erst eine halbe Sekunde später

an den Fingerspitzen, und sah auf seine Uhr. Sechzehn

Uhr zweiundvierzig.

Vom Coffeeshop waren es nur fünf Minuten bis zur

Grantley Road. Der Herbstwind war schon ein wenig

schneidender, deshalb vergrub er sein Kinn ein wenig in

seinem Parka, wechselte nach einem langen Blick die

Straßenseite und machte sich auf den Weg. Er ging jetzt

den Berg der Grantley Rd. hoch, über den "Liz" sich so

vehement beschwert hatte. Aaron wusste noch nicht

genau, wie er sie nennen sollte.

Nun ja, man kann nicht alles aus jemanden

rausbekommen. Fünf Minuten später ging er an seinem

verfallenen Briefkasten vorbei auf seine Haustür zu, sah,

dass er seinen Spaten auf der Veranda an der Wand hatte

lehnen lassen, und nahm ihn beim Vorbeigehen in die

Hand.

Das Haus hatte einen Keller. Doch wie die Dunkelheit

hier eine andere war, so war der Keller kein Quell von

Angst und Grauen, sondern der Ort an dem sich Aaron

am sichersten fühlte, denn hier war die Konzentration

am höchsten, er spürte es jedes Mal sobald er den ersten

Schritt die Treppe hinunter tat. Auf diese Treppe ging er

jetzt zu, am Esszimmer vorbei bis zu einer kleinen Tür

links am Ende des Flurs.

Diese gab ein langes, hölzernes Knarren von sich,

wenn man sie öffnete. Aaron begann Stufe für Stufe den

Weg nach unten, und schloß dabei mit einen leichten

Lächeln die Augen. Hier gab es keinen Milimeter den er

nicht im Dunkeln genau wahrnahm. Und wieder spürte

er, wie er willkommen geheißen wurde. Als er am Boden

der vierzehn Stufen ankam, stand er still und roch für

eine Sekunde den eigentümlichen Geruch dort unten.

Dann ging er einen Schritt weiter, lehnte den Spaten an

die Wand rechts der kleinen Werkbank die gegenüber

der Treppe stand. Der Geruch kam von dort.

Er drehte sich langsam um und begann, die Treppe

wieder hinaufzugehen. Oben angekommen ging er in die

Küche. Für einen kurzen Moment stand er vor dem

Fenster und sah sich draussen die Schatten an. Mit einem

Ruck zog er den Vorhang zu, ging zum Tisch und zog

seinenStuhl zurück, das wehleidige Kratzen garnicht

wahrnehmend. Aaron setzte sich.

Für eine unbestimmte Zeit blickte er den Vorhang an.

Er beobachtete wie die letzte dumpfe Helligkeit draussen

verschwand, und der Vorhang von dunkelrot zu schwarz

wurde. Danach konnte er nur noch schwer schätzen.

KNALL

Er fuhr hoch und drehte sich hastig um.

KNALL

Aaron schlich in den Flur und blickte zur Tür. Sie

erbebte zum dritten Mal. KNALL. Er schlich die zwei

Schritte zur Tür um durch den Spion zu blicken; und

fuhr sofort herum als er vor seiner Tür die zwei

ekelhaftesten Exemplare von ihnen erblickte die er sich

vorstellen konnte. Es war schlimmer als bei "Liz". Alles

Menschliche war fort, ihre Gesichter waren runzlig und

wirkten seltsam zusammengepresst. Und ihr irres

Grinsen machte Aaron für einen Moment glauben, er

könne ihr Kichern hören.

Er sprang zurück in die Küche und griff zum

Messerblock; nur um sich zu erinnern, dass sein einziges

gutes Küchenmesser unten im Keller lag. Er wusste nicht

ob die beiden Viecher hinein konnten. Das Haus musste

ihn beschützen.

Die paar Meter zur Kellertür legte er sprintend zurück,

und hörte hinter sich das Geräusch von splitterndem

Holz als er sie aufriss. Aaron blickte nicht zurück. Zwei

Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe

hinunter, griff das Messer von der Werkbank und hastete

wieder hoch.

Er kauerte in der Dunkelheit neben der Tür und

wusste, dass er nur einen Moment haben würde. Als der

Schatten des ersten begann, die Tür auszufüllen, rammte

er das Messer mit aller Kraft dahin, wo er in dieser

Position seinen Hals vermutete. Und er spürte einen

Widerstand.

Das Geräusch befriedigte ihn ungemein. Kein

wirkliches Gurgeln, sondern eher das Einatmen einer

Person mit einem schlimmen Husten. Aaron riß das

Messer heraus, griff das Ding an seinen widerlichen,

borstigen Haaren und stieß es die Treppe hinunter, wo es

liegenblieb.

Er eilte sofort hinterher; wieder unten angekommen

wendete er sich nach links und wartete in der Ecke links

von der Treppe. Das war kein Versteck, der Zweite

wusste, dass er hier war. Aaron hörte schon den zweiten

Schritt und machte sich bereit. Er würde nur einen

winzigen Moment haben, wenn der Gang des Zweiten

kurz stockte, und der schmale Lichtschein von oben

gerade so die Werkbank erreichte. Denn dort lag sie.

Und als er den nächsten Schritt hörte, preschte er

hervor. KNALL.

Aaron sah die Verunsicherung in seinem Blick, als er

dem Monster sein Messer in die Brust trieb. Seine Augen

zuckten von Aarons Gesicht auf die Werkbank hinter

ihm, und auf das widerliche Bündel am Fuß der Treppe.

Dann wieder zu Aaron. Er sah aus als wollte er etwas

sagen als Aaron das Messer wieder herausriss und es

ihm ins rechte Auge rammte. Er starb sofort.

Auch Aaron blutete. Das Vieh hatte ihn direkt über

dem Bauchnabel erwischt, und er spürte, wie das Blut an

seinem Bauch und danach am linken Bein hinunterlief.

Er war durchnässt.

Die eigentümliche Luft seines Kellers tief einatmend,

machte er einen großen Schritt über den Zweiten und

ging langsam die Treppe hoch. Er schloss die Tür hinter

sich und schlurfte in die Küche.

Mit einem Kratzen zog er seinen Stuhl zurück, setzte

sich, und blickte den Vorhang an.


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Entschuldigt bitte das Format, ursprünglich DINa5
 



 
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