Der Herbstwind zog sanft um seine Ohren als Aaron
mit langsamen Schritten die George-St hinunterging.
Das einzige Geräusch war das trockene Knacken von
Laub wenn er einen Schritt tat, und über den Häusern
und den Bäumen am Rand der Straße verschwand gerade
der letzte goldgelbe Schimmer.
Zu dieser Zeit herrschte hier eigentlich reger Betrieb,
doch jetzt sah er keinen Menschen. Aaron kam es vor,
als liefe er in einem Gemälde umher; ausser ihm
vollkommen unbeweglich, doch angsteinflößend in
seiner Starrheit, ehrfurchtgebietend in seiner Stille. Das
regelmäßige Knacken des Laubs stockte für einen
winzigen Moment als die Unbehaglichkeit überhand
nahm. Er fühlte sich als mache er Lärm in einer
Bibliothek.
Dieses kurze Stocken war ein ganz unbewusstes; doch
so regelmäßig das Knacken der Blätter Aarons nächsten
Schritt verkündete, so fahrig und abgehackt zuckte sein
Blick von Links nach Rechts, nervöser werdend während
die Schatten länger wurden. Diese zogen sich die Bäume
der Allee hinauf und die Straße lag vor ihm wie ein
Friedhof.
Er hörte wie ein Fenster geöffnet wurde und die
Szenerie verlor ihre Bedrohlichkeit. Das Gemälde wurde
lebendig; ein Auto bog auf die George-St., er hörte
Stimmen. An der Ecke St. Paul-St. überquerten gerade
ein paar Kinder die Straße. Die untergehende Sonne
schien mit einer gelben Wärme, wie sie es nur an einem
Herbstabend kann.
Das Knacken hörte auf. Aaron blieb stehen und
blickte über die Straße in eine kleine Gasse auf der
anderen Straßenseite. Er konnte zusehen, wie die Sonne
am Ende der Gasse unterging, sie kurz hell ausleuchtete,
um sie direkt darauf in Dunkelheit zu hinterlassen.
Diese Dunkelheit hatte jetzt nichts bedrohliches mehr.
Es war ein gewöhnlicher, sogar angenehmer,
Herbstabend, und es war Zeit, nach hause zu gehen.
Er drückte dem Taxifahrer einen Zwanzig-Dollar
Schein in die Hand. Danke. Aaron fühlte sich zuhause.
Grantley Road 14.
Sein Blick wanderte über den ungemähten Rasen. Der
Briefkasten stand nur noch halb auf einem verwitterten
Holzbalken. Und das ganze kleine, bescheidene Haus
sah so aus, als würde es bei der ersten ernsteren Brise
zusammenbrechen. Überall waren Schatten; das kleine
Garagentor lag verdunkelt links des Hauses, über die
kleine Rasenfläche zog sich Dunkelheit, die einzige
Lichtquelle war eine kleine Lampe auf der zerfallenen
Veranda. Doch er fühlte nicht, wie die Schatten sich
bewegten. Auf der George-St. hatte er sie pulsieren
gespürt, hatte bemerkt dass sie versuchten, aus ihrem
Rahmen zu brechen, um in die wirkliche Welt zu fließen.
Das Haus war hingegen ein Bollwerk, eine Festung
gegen diese Art der Dunkelheit; und wenn es doch
gerade zu einem guten Teil von ihr verschlungen war,
wusste Aaron, dass er sich hier nicht zu fürchten
brauchte. Nicht etwa weil es Licht gäbe, oder weil es
sich ausleuchten ließe; sondern wegen dem was er
fühlte, wenn er es betrat. Die kurze Umarmung eines
alten Freundes.
Das Holz der Veranda seufzte als er auf die Tür
zutrat, ihren alten Türknauf drehte, und sie öffnete. Als
er hineintrat und die Tür hinter sich zuzog, umfing ihn
die Schwärze wie eine zähe, teer-artige Masse, doch sie
war warm und hieß ihn willkommen. Mit einem klick
betätigte er die Lampe auf dem kleinen Tisch neben der
Tür. Die Dunkelheit zog sich ein paar Meter zurück,
widerwillig und ein klein wenig zu langsam, gerade
genug um einem Unwissenden nicht aufzufallen; Aaron
nahm es hin. Er sah kurz den schmalen Flur hinab; alte
Holzdielen und eine fleckige Tapete, zwei hellere
Flecken an der Wand als Platzhalter für Bilder die dort
hangen als er noch rauchte.
Aaron wandte sich nach rechts und trat in ein
Esszimmer. Ein dicker, dunkelroter Vorhang vor dem
einzigen Fenster verbot jeden Blick nach draussen, das
Flurlicht ließ nur Schemen erkennen. Mit einem
trockenen Kratzen zog er einen der drei Stühle ein paar
Zentimeter weg von dem runden Tisch und setzte sich
darauf. Hier wartete er.
_
Zeit verhält sich sonderbar wenn man nicht schläft.
Jeder kennt das Phänomen der Minute die ewig zu
dauern scheint, oder des Augenblicks der viel zu schnell
vorbei ist. Nach einer Weile ohne Schlaf steigert sich
diese Varianz ins Absurde und hängt nicht mehr davon
ab, ob uns der Augenblick angenehm ist oder nicht.
Überhaupt, und das fällt meistens erst auf wenn der
verlorene Schlaf nachgeholt ist, ist es sehr schwer,
wirkliche Freude zu empfinden. Grundlose Euphorie, auf
der anderen Seite, mag von Zeit zu Zeit auftauchen. Der
Großteil der Zeit ist allerdings von einer Taubheit
geprägt, die uns alles mit einer unangebrachten Distanz
erleben lässt.
An manchen Abenden saß Aaron auf seinem Stuhl,
den Blick gesenkt, und hatte nur Zeit für ein oder zwei
Gedanken bis ein leichter Schimmer hinter dem Vorhang
ihn dazu bewegte, wieder den Kopf zu heben; an anderen
hielt ihn jede Sekunde fest, klammerte sich an seine
Füße wie ein Sumpf, und sobald er endlich einen Schritt
tat, steckte er wieder fest. Diese Abende waren es, die
ihm zeigten, wie die Dinge wirklich sind.
Er sah sich an seinem Tisch sitzen, fast eins mit dem
Haus, direkt gegenüber des Fensters, und er sah wie die
dunkle pulsierende Masse sich an den Ecken des
Fensters konzentrierte, und er war froh; das Haus war ein
Verbündeter.
Aus dem gleichen Grund aus dem andere Leute ihre
Kellertür verschließen, hatte Aaron diesen Vorhang. Er
schloss nichts ein, sondern aus, und es gab kein rettendes
Licht das dem Dunkel von Zeit zu Zeit Boden abgewann,
dafür jedoch eine Dunkelheit die noch wilder und noch
älter war. Vielleicht brauchte er den Vorhang garnicht;
doch es war eine Sache, von diesen Dingen zu wissen,
eine andere, sie Nacht für Nacht anzustarren.
Wenn er das Haus verließ, verhielt sich die Zeit nicht
anders. Vielmehr ließ ihn die Interaktion mit Anderen
den wirklichen Grad dieser Distortion spüren; er sah
Gesichter wie in Zeitlupe an sich vorbeiziehen, oder
merkte garnicht wie schnell sie auftauchten und wieder
verschwanden. Und es bedurfte immer erst einem
zittrigen Was? nach einer zu spät erkannten Frage um
sich des Ausmaß dieser Verzerrung bewusst zu werden.
Ein Blick in ein fremdes Gesicht mit einer leicht in
Falten gelegten Stirn das zu fragen schien hört er mich
nicht?
_
Am Donnerstag Nachmittag, dem 22. August, öffnete
Aaron die Tür des einzigen Coffeeshops der Gegend und
trat wieder hinaus auf den Bürgersteig. Er schlenderte
den Boulevard hinunter und warf seinen heissen Kaffee
im Vorbeigehen angewidert in eine Mülltonne. Seit es
für ihn in der George-St. eng geworden war, waren drei
Tage vergangen. Und seitdem hatte er etwas gelernt.
Seine Schlaflosigkeit, so sehr sie ihn unter all dem
quälte, verlieh ihm einen ungefilterten, klaren Blick für
die Dunkelheit. Doch vor einem Tag erkannte er, dass
der Blick des ausgeschlafenen Menschen viel mehr
verdreht und kaschiert als er dachte. Es ist nicht ganz so
wie mit der Schwärze der Nacht und den Schatten; bevor
er diese deutlich erkannte, hatte er eine völlig falsche
Vorstellung von ihrem Wesen. Sie sind lebendig, haben
einen Willen, streben -- Sind Welten entfernt von der
toten, bloßen Abwesenheit von Licht.
Seine neuere Erkenntnis war subtiler, und lag in der
Dame begründet, die ihm jeden Morgen seine Post
brachte. Sobald er, den roten Vorhang anstarrend, im
frühen Morgen das Schnaufen der etwas fülligen Mrs.
Brown hörte, die sich auf dem Fahrrad die Straße zur
Hausnummer vierzehn hochmühte, trat er für
gewöhnlich hinaus auf die Veranda und begrüßte sie. Zu
dieser Zeit ist es gerade hell genug, und Aaron spürte
eine gewisse Genugtuung, sich der Dunkelheit so
entgegenzustellen; zwar gab es keine wirkliche Gefahr
mehr, doch sah er die Schwärze noch in einigen Ecken,
und spürte dass sie in seine Richtung zuckte. Mrs.
Brown schniefte, hob ihr Bein über den Fahrradsattel
und blieb einen Moment keuchend stehen.
Mr. Park, sagte sie. Schlecht geschlafen? Sie sehen
aus als bräuchten sie einen Kaffee.
Mir gehts gut, Liz sagte Aaron. Er lächelte. Und du
siehst aus wie jemand, der es hasst, diesen elenden Berg
hinaufzufahren. Sie lachte. Mit ihren siebenundzwanzig
Jahren war sie weit entfernt von der Naivität der Jugend,
doch auch noch nicht zynisch genug, als dass es sich in
ihrem Lachen bemerkbar machte. Es war ehrlich.
Sie wissen, wie es ist, sagte sie. Ich bringe ihnen gerne
die Post, aber diese Strecke direkt nach dem Aufstehen
ist Körperverletzung. Sie reichte ihm 2 schmale
Briefumschläge; nichts als die Strom- und die
Telefonrechnung. Und als sie im Umdrehen die Hand
zum Gruß hob, sah Aaron für einen winzigen Moment
die ekelhafte Fratze, die sich unter ihrem wie als Make-
Up aufgetragenem Gesicht befand.
Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten ihre
Gesichtszüge, ihre Augen wurden zu gemeinen, dunklen
Punkten und neben einem grausamen Zug um die Lippen
entblößte ihr leicht geöffneter Mund ein paar spitzere,
gierig aussehende Zähne. Aaron zuckte zurück, sein
rechter Arm machte eine Bewegung wie um auszuholen;
doch der Moment war so schnell vorbei, wie er
gekommen war. Liz starrte ihn an.
Alles okay Mr. Park?.
Aaron schaute ihr ins Gesicht. Wie immer, ein wenig
füllig jedoch gutaussehend, und ein wenig verängstigt.
Alles bestens, sagte er. Sie ging einen halben Schritt
rückwärts, drehte sich langsam um und ging auf ihr
Fahrrad zu.
_
Dies geschah am Morgen nach seinem Besuch in der
George-St. Die Dame die ihm seinen Kaffee servierte
hatte unter ihrer Maske eine Fratze von der gleichen Art
wie die der Postbotin. Nicht ganz so gierig und alt, aber
auch nicht weit davon entfernt. Es musste einen Sinn
haben dass er sie plötzlich erkannte; und es war mit
Sicherheit keine gute Idee, von ihnen Getränke
anzunehmen.
Dass es sich nicht um eine Störung seiner
Wahrnehmung handelte, dessen konnte er sich jetzt
sicher sein. Es gab keinen Zweifel mehr.
Die Leute auf dem Bürgersteig zogen an ihm vorbei,
mal quälend langsam, mal zu schnell um sie zu
erkennen. Aaron spürte einen fast angenehmen Druck
hinter seiner Stirn, der ihm mittlerweile nur zu bekannt
worden war. Er zog den linken Ärmel seiner Jacke
zurück, spürte den Stoff erst eine halbe Sekunde später
an den Fingerspitzen, und sah auf seine Uhr. Sechzehn
Uhr zweiundvierzig.
Vom Coffeeshop waren es nur fünf Minuten bis zur
Grantley Road. Der Herbstwind war schon ein wenig
schneidender, deshalb vergrub er sein Kinn ein wenig in
seinem Parka, wechselte nach einem langen Blick die
Straßenseite und machte sich auf den Weg. Er ging jetzt
den Berg der Grantley Rd. hoch, über den "Liz" sich so
vehement beschwert hatte. Aaron wusste noch nicht
genau, wie er sie nennen sollte.
Nun ja, man kann nicht alles aus jemanden
rausbekommen. Fünf Minuten später ging er an seinem
verfallenen Briefkasten vorbei auf seine Haustür zu, sah,
dass er seinen Spaten auf der Veranda an der Wand hatte
lehnen lassen, und nahm ihn beim Vorbeigehen in die
Hand.
Das Haus hatte einen Keller. Doch wie die Dunkelheit
hier eine andere war, so war der Keller kein Quell von
Angst und Grauen, sondern der Ort an dem sich Aaron
am sichersten fühlte, denn hier war die Konzentration
am höchsten, er spürte es jedes Mal sobald er den ersten
Schritt die Treppe hinunter tat. Auf diese Treppe ging er
jetzt zu, am Esszimmer vorbei bis zu einer kleinen Tür
links am Ende des Flurs.
Diese gab ein langes, hölzernes Knarren von sich,
wenn man sie öffnete. Aaron begann Stufe für Stufe den
Weg nach unten, und schloß dabei mit einen leichten
Lächeln die Augen. Hier gab es keinen Milimeter den er
nicht im Dunkeln genau wahrnahm. Und wieder spürte
er, wie er willkommen geheißen wurde. Als er am Boden
der vierzehn Stufen ankam, stand er still und roch für
eine Sekunde den eigentümlichen Geruch dort unten.
Dann ging er einen Schritt weiter, lehnte den Spaten an
die Wand rechts der kleinen Werkbank die gegenüber
der Treppe stand. Der Geruch kam von dort.
Er drehte sich langsam um und begann, die Treppe
wieder hinaufzugehen. Oben angekommen ging er in die
Küche. Für einen kurzen Moment stand er vor dem
Fenster und sah sich draussen die Schatten an. Mit einem
Ruck zog er den Vorhang zu, ging zum Tisch und zog
seinenStuhl zurück, das wehleidige Kratzen garnicht
wahrnehmend. Aaron setzte sich.
Für eine unbestimmte Zeit blickte er den Vorhang an.
Er beobachtete wie die letzte dumpfe Helligkeit draussen
verschwand, und der Vorhang von dunkelrot zu schwarz
wurde. Danach konnte er nur noch schwer schätzen.
KNALL
Er fuhr hoch und drehte sich hastig um.
KNALL
Aaron schlich in den Flur und blickte zur Tür. Sie
erbebte zum dritten Mal. KNALL. Er schlich die zwei
Schritte zur Tür um durch den Spion zu blicken; und
fuhr sofort herum als er vor seiner Tür die zwei
ekelhaftesten Exemplare von ihnen erblickte die er sich
vorstellen konnte. Es war schlimmer als bei "Liz". Alles
Menschliche war fort, ihre Gesichter waren runzlig und
wirkten seltsam zusammengepresst. Und ihr irres
Grinsen machte Aaron für einen Moment glauben, er
könne ihr Kichern hören.
Er sprang zurück in die Küche und griff zum
Messerblock; nur um sich zu erinnern, dass sein einziges
gutes Küchenmesser unten im Keller lag. Er wusste nicht
ob die beiden Viecher hinein konnten. Das Haus musste
ihn beschützen.
Die paar Meter zur Kellertür legte er sprintend zurück,
und hörte hinter sich das Geräusch von splitterndem
Holz als er sie aufriss. Aaron blickte nicht zurück. Zwei
Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe
hinunter, griff das Messer von der Werkbank und hastete
wieder hoch.
Er kauerte in der Dunkelheit neben der Tür und
wusste, dass er nur einen Moment haben würde. Als der
Schatten des ersten begann, die Tür auszufüllen, rammte
er das Messer mit aller Kraft dahin, wo er in dieser
Position seinen Hals vermutete. Und er spürte einen
Widerstand.
Das Geräusch befriedigte ihn ungemein. Kein
wirkliches Gurgeln, sondern eher das Einatmen einer
Person mit einem schlimmen Husten. Aaron riß das
Messer heraus, griff das Ding an seinen widerlichen,
borstigen Haaren und stieß es die Treppe hinunter, wo es
liegenblieb.
Er eilte sofort hinterher; wieder unten angekommen
wendete er sich nach links und wartete in der Ecke links
von der Treppe. Das war kein Versteck, der Zweite
wusste, dass er hier war. Aaron hörte schon den zweiten
Schritt und machte sich bereit. Er würde nur einen
winzigen Moment haben, wenn der Gang des Zweiten
kurz stockte, und der schmale Lichtschein von oben
gerade so die Werkbank erreichte. Denn dort lag sie.
Und als er den nächsten Schritt hörte, preschte er
hervor. KNALL.
Aaron sah die Verunsicherung in seinem Blick, als er
dem Monster sein Messer in die Brust trieb. Seine Augen
zuckten von Aarons Gesicht auf die Werkbank hinter
ihm, und auf das widerliche Bündel am Fuß der Treppe.
Dann wieder zu Aaron. Er sah aus als wollte er etwas
sagen als Aaron das Messer wieder herausriss und es
ihm ins rechte Auge rammte. Er starb sofort.
Auch Aaron blutete. Das Vieh hatte ihn direkt über
dem Bauchnabel erwischt, und er spürte, wie das Blut an
seinem Bauch und danach am linken Bein hinunterlief.
Er war durchnässt.
Die eigentümliche Luft seines Kellers tief einatmend,
machte er einen großen Schritt über den Zweiten und
ging langsam die Treppe hoch. Er schloss die Tür hinter
sich und schlurfte in die Küche.
Mit einem Kratzen zog er seinen Stuhl zurück, setzte
sich, und blickte den Vorhang an.
_____________________________________________________________
Entschuldigt bitte das Format, ursprünglich DINa5
mit langsamen Schritten die George-St hinunterging.
Das einzige Geräusch war das trockene Knacken von
Laub wenn er einen Schritt tat, und über den Häusern
und den Bäumen am Rand der Straße verschwand gerade
der letzte goldgelbe Schimmer.
Zu dieser Zeit herrschte hier eigentlich reger Betrieb,
doch jetzt sah er keinen Menschen. Aaron kam es vor,
als liefe er in einem Gemälde umher; ausser ihm
vollkommen unbeweglich, doch angsteinflößend in
seiner Starrheit, ehrfurchtgebietend in seiner Stille. Das
regelmäßige Knacken des Laubs stockte für einen
winzigen Moment als die Unbehaglichkeit überhand
nahm. Er fühlte sich als mache er Lärm in einer
Bibliothek.
Dieses kurze Stocken war ein ganz unbewusstes; doch
so regelmäßig das Knacken der Blätter Aarons nächsten
Schritt verkündete, so fahrig und abgehackt zuckte sein
Blick von Links nach Rechts, nervöser werdend während
die Schatten länger wurden. Diese zogen sich die Bäume
der Allee hinauf und die Straße lag vor ihm wie ein
Friedhof.
Er hörte wie ein Fenster geöffnet wurde und die
Szenerie verlor ihre Bedrohlichkeit. Das Gemälde wurde
lebendig; ein Auto bog auf die George-St., er hörte
Stimmen. An der Ecke St. Paul-St. überquerten gerade
ein paar Kinder die Straße. Die untergehende Sonne
schien mit einer gelben Wärme, wie sie es nur an einem
Herbstabend kann.
Das Knacken hörte auf. Aaron blieb stehen und
blickte über die Straße in eine kleine Gasse auf der
anderen Straßenseite. Er konnte zusehen, wie die Sonne
am Ende der Gasse unterging, sie kurz hell ausleuchtete,
um sie direkt darauf in Dunkelheit zu hinterlassen.
Diese Dunkelheit hatte jetzt nichts bedrohliches mehr.
Es war ein gewöhnlicher, sogar angenehmer,
Herbstabend, und es war Zeit, nach hause zu gehen.
Er drückte dem Taxifahrer einen Zwanzig-Dollar
Schein in die Hand. Danke. Aaron fühlte sich zuhause.
Grantley Road 14.
Sein Blick wanderte über den ungemähten Rasen. Der
Briefkasten stand nur noch halb auf einem verwitterten
Holzbalken. Und das ganze kleine, bescheidene Haus
sah so aus, als würde es bei der ersten ernsteren Brise
zusammenbrechen. Überall waren Schatten; das kleine
Garagentor lag verdunkelt links des Hauses, über die
kleine Rasenfläche zog sich Dunkelheit, die einzige
Lichtquelle war eine kleine Lampe auf der zerfallenen
Veranda. Doch er fühlte nicht, wie die Schatten sich
bewegten. Auf der George-St. hatte er sie pulsieren
gespürt, hatte bemerkt dass sie versuchten, aus ihrem
Rahmen zu brechen, um in die wirkliche Welt zu fließen.
Das Haus war hingegen ein Bollwerk, eine Festung
gegen diese Art der Dunkelheit; und wenn es doch
gerade zu einem guten Teil von ihr verschlungen war,
wusste Aaron, dass er sich hier nicht zu fürchten
brauchte. Nicht etwa weil es Licht gäbe, oder weil es
sich ausleuchten ließe; sondern wegen dem was er
fühlte, wenn er es betrat. Die kurze Umarmung eines
alten Freundes.
Das Holz der Veranda seufzte als er auf die Tür
zutrat, ihren alten Türknauf drehte, und sie öffnete. Als
er hineintrat und die Tür hinter sich zuzog, umfing ihn
die Schwärze wie eine zähe, teer-artige Masse, doch sie
war warm und hieß ihn willkommen. Mit einem klick
betätigte er die Lampe auf dem kleinen Tisch neben der
Tür. Die Dunkelheit zog sich ein paar Meter zurück,
widerwillig und ein klein wenig zu langsam, gerade
genug um einem Unwissenden nicht aufzufallen; Aaron
nahm es hin. Er sah kurz den schmalen Flur hinab; alte
Holzdielen und eine fleckige Tapete, zwei hellere
Flecken an der Wand als Platzhalter für Bilder die dort
hangen als er noch rauchte.
Aaron wandte sich nach rechts und trat in ein
Esszimmer. Ein dicker, dunkelroter Vorhang vor dem
einzigen Fenster verbot jeden Blick nach draussen, das
Flurlicht ließ nur Schemen erkennen. Mit einem
trockenen Kratzen zog er einen der drei Stühle ein paar
Zentimeter weg von dem runden Tisch und setzte sich
darauf. Hier wartete er.
_
Zeit verhält sich sonderbar wenn man nicht schläft.
Jeder kennt das Phänomen der Minute die ewig zu
dauern scheint, oder des Augenblicks der viel zu schnell
vorbei ist. Nach einer Weile ohne Schlaf steigert sich
diese Varianz ins Absurde und hängt nicht mehr davon
ab, ob uns der Augenblick angenehm ist oder nicht.
Überhaupt, und das fällt meistens erst auf wenn der
verlorene Schlaf nachgeholt ist, ist es sehr schwer,
wirkliche Freude zu empfinden. Grundlose Euphorie, auf
der anderen Seite, mag von Zeit zu Zeit auftauchen. Der
Großteil der Zeit ist allerdings von einer Taubheit
geprägt, die uns alles mit einer unangebrachten Distanz
erleben lässt.
An manchen Abenden saß Aaron auf seinem Stuhl,
den Blick gesenkt, und hatte nur Zeit für ein oder zwei
Gedanken bis ein leichter Schimmer hinter dem Vorhang
ihn dazu bewegte, wieder den Kopf zu heben; an anderen
hielt ihn jede Sekunde fest, klammerte sich an seine
Füße wie ein Sumpf, und sobald er endlich einen Schritt
tat, steckte er wieder fest. Diese Abende waren es, die
ihm zeigten, wie die Dinge wirklich sind.
Er sah sich an seinem Tisch sitzen, fast eins mit dem
Haus, direkt gegenüber des Fensters, und er sah wie die
dunkle pulsierende Masse sich an den Ecken des
Fensters konzentrierte, und er war froh; das Haus war ein
Verbündeter.
Aus dem gleichen Grund aus dem andere Leute ihre
Kellertür verschließen, hatte Aaron diesen Vorhang. Er
schloss nichts ein, sondern aus, und es gab kein rettendes
Licht das dem Dunkel von Zeit zu Zeit Boden abgewann,
dafür jedoch eine Dunkelheit die noch wilder und noch
älter war. Vielleicht brauchte er den Vorhang garnicht;
doch es war eine Sache, von diesen Dingen zu wissen,
eine andere, sie Nacht für Nacht anzustarren.
Wenn er das Haus verließ, verhielt sich die Zeit nicht
anders. Vielmehr ließ ihn die Interaktion mit Anderen
den wirklichen Grad dieser Distortion spüren; er sah
Gesichter wie in Zeitlupe an sich vorbeiziehen, oder
merkte garnicht wie schnell sie auftauchten und wieder
verschwanden. Und es bedurfte immer erst einem
zittrigen Was? nach einer zu spät erkannten Frage um
sich des Ausmaß dieser Verzerrung bewusst zu werden.
Ein Blick in ein fremdes Gesicht mit einer leicht in
Falten gelegten Stirn das zu fragen schien hört er mich
nicht?
_
Am Donnerstag Nachmittag, dem 22. August, öffnete
Aaron die Tür des einzigen Coffeeshops der Gegend und
trat wieder hinaus auf den Bürgersteig. Er schlenderte
den Boulevard hinunter und warf seinen heissen Kaffee
im Vorbeigehen angewidert in eine Mülltonne. Seit es
für ihn in der George-St. eng geworden war, waren drei
Tage vergangen. Und seitdem hatte er etwas gelernt.
Seine Schlaflosigkeit, so sehr sie ihn unter all dem
quälte, verlieh ihm einen ungefilterten, klaren Blick für
die Dunkelheit. Doch vor einem Tag erkannte er, dass
der Blick des ausgeschlafenen Menschen viel mehr
verdreht und kaschiert als er dachte. Es ist nicht ganz so
wie mit der Schwärze der Nacht und den Schatten; bevor
er diese deutlich erkannte, hatte er eine völlig falsche
Vorstellung von ihrem Wesen. Sie sind lebendig, haben
einen Willen, streben -- Sind Welten entfernt von der
toten, bloßen Abwesenheit von Licht.
Seine neuere Erkenntnis war subtiler, und lag in der
Dame begründet, die ihm jeden Morgen seine Post
brachte. Sobald er, den roten Vorhang anstarrend, im
frühen Morgen das Schnaufen der etwas fülligen Mrs.
Brown hörte, die sich auf dem Fahrrad die Straße zur
Hausnummer vierzehn hochmühte, trat er für
gewöhnlich hinaus auf die Veranda und begrüßte sie. Zu
dieser Zeit ist es gerade hell genug, und Aaron spürte
eine gewisse Genugtuung, sich der Dunkelheit so
entgegenzustellen; zwar gab es keine wirkliche Gefahr
mehr, doch sah er die Schwärze noch in einigen Ecken,
und spürte dass sie in seine Richtung zuckte. Mrs.
Brown schniefte, hob ihr Bein über den Fahrradsattel
und blieb einen Moment keuchend stehen.
Mr. Park, sagte sie. Schlecht geschlafen? Sie sehen
aus als bräuchten sie einen Kaffee.
Mir gehts gut, Liz sagte Aaron. Er lächelte. Und du
siehst aus wie jemand, der es hasst, diesen elenden Berg
hinaufzufahren. Sie lachte. Mit ihren siebenundzwanzig
Jahren war sie weit entfernt von der Naivität der Jugend,
doch auch noch nicht zynisch genug, als dass es sich in
ihrem Lachen bemerkbar machte. Es war ehrlich.
Sie wissen, wie es ist, sagte sie. Ich bringe ihnen gerne
die Post, aber diese Strecke direkt nach dem Aufstehen
ist Körperverletzung. Sie reichte ihm 2 schmale
Briefumschläge; nichts als die Strom- und die
Telefonrechnung. Und als sie im Umdrehen die Hand
zum Gruß hob, sah Aaron für einen winzigen Moment
die ekelhafte Fratze, die sich unter ihrem wie als Make-
Up aufgetragenem Gesicht befand.
Für den Bruchteil einer Sekunde entgleisten ihre
Gesichtszüge, ihre Augen wurden zu gemeinen, dunklen
Punkten und neben einem grausamen Zug um die Lippen
entblößte ihr leicht geöffneter Mund ein paar spitzere,
gierig aussehende Zähne. Aaron zuckte zurück, sein
rechter Arm machte eine Bewegung wie um auszuholen;
doch der Moment war so schnell vorbei, wie er
gekommen war. Liz starrte ihn an.
Alles okay Mr. Park?.
Aaron schaute ihr ins Gesicht. Wie immer, ein wenig
füllig jedoch gutaussehend, und ein wenig verängstigt.
Alles bestens, sagte er. Sie ging einen halben Schritt
rückwärts, drehte sich langsam um und ging auf ihr
Fahrrad zu.
_
Dies geschah am Morgen nach seinem Besuch in der
George-St. Die Dame die ihm seinen Kaffee servierte
hatte unter ihrer Maske eine Fratze von der gleichen Art
wie die der Postbotin. Nicht ganz so gierig und alt, aber
auch nicht weit davon entfernt. Es musste einen Sinn
haben dass er sie plötzlich erkannte; und es war mit
Sicherheit keine gute Idee, von ihnen Getränke
anzunehmen.
Dass es sich nicht um eine Störung seiner
Wahrnehmung handelte, dessen konnte er sich jetzt
sicher sein. Es gab keinen Zweifel mehr.
Die Leute auf dem Bürgersteig zogen an ihm vorbei,
mal quälend langsam, mal zu schnell um sie zu
erkennen. Aaron spürte einen fast angenehmen Druck
hinter seiner Stirn, der ihm mittlerweile nur zu bekannt
worden war. Er zog den linken Ärmel seiner Jacke
zurück, spürte den Stoff erst eine halbe Sekunde später
an den Fingerspitzen, und sah auf seine Uhr. Sechzehn
Uhr zweiundvierzig.
Vom Coffeeshop waren es nur fünf Minuten bis zur
Grantley Road. Der Herbstwind war schon ein wenig
schneidender, deshalb vergrub er sein Kinn ein wenig in
seinem Parka, wechselte nach einem langen Blick die
Straßenseite und machte sich auf den Weg. Er ging jetzt
den Berg der Grantley Rd. hoch, über den "Liz" sich so
vehement beschwert hatte. Aaron wusste noch nicht
genau, wie er sie nennen sollte.
Nun ja, man kann nicht alles aus jemanden
rausbekommen. Fünf Minuten später ging er an seinem
verfallenen Briefkasten vorbei auf seine Haustür zu, sah,
dass er seinen Spaten auf der Veranda an der Wand hatte
lehnen lassen, und nahm ihn beim Vorbeigehen in die
Hand.
Das Haus hatte einen Keller. Doch wie die Dunkelheit
hier eine andere war, so war der Keller kein Quell von
Angst und Grauen, sondern der Ort an dem sich Aaron
am sichersten fühlte, denn hier war die Konzentration
am höchsten, er spürte es jedes Mal sobald er den ersten
Schritt die Treppe hinunter tat. Auf diese Treppe ging er
jetzt zu, am Esszimmer vorbei bis zu einer kleinen Tür
links am Ende des Flurs.
Diese gab ein langes, hölzernes Knarren von sich,
wenn man sie öffnete. Aaron begann Stufe für Stufe den
Weg nach unten, und schloß dabei mit einen leichten
Lächeln die Augen. Hier gab es keinen Milimeter den er
nicht im Dunkeln genau wahrnahm. Und wieder spürte
er, wie er willkommen geheißen wurde. Als er am Boden
der vierzehn Stufen ankam, stand er still und roch für
eine Sekunde den eigentümlichen Geruch dort unten.
Dann ging er einen Schritt weiter, lehnte den Spaten an
die Wand rechts der kleinen Werkbank die gegenüber
der Treppe stand. Der Geruch kam von dort.
Er drehte sich langsam um und begann, die Treppe
wieder hinaufzugehen. Oben angekommen ging er in die
Küche. Für einen kurzen Moment stand er vor dem
Fenster und sah sich draussen die Schatten an. Mit einem
Ruck zog er den Vorhang zu, ging zum Tisch und zog
seinenStuhl zurück, das wehleidige Kratzen garnicht
wahrnehmend. Aaron setzte sich.
Für eine unbestimmte Zeit blickte er den Vorhang an.
Er beobachtete wie die letzte dumpfe Helligkeit draussen
verschwand, und der Vorhang von dunkelrot zu schwarz
wurde. Danach konnte er nur noch schwer schätzen.
KNALL
Er fuhr hoch und drehte sich hastig um.
KNALL
Aaron schlich in den Flur und blickte zur Tür. Sie
erbebte zum dritten Mal. KNALL. Er schlich die zwei
Schritte zur Tür um durch den Spion zu blicken; und
fuhr sofort herum als er vor seiner Tür die zwei
ekelhaftesten Exemplare von ihnen erblickte die er sich
vorstellen konnte. Es war schlimmer als bei "Liz". Alles
Menschliche war fort, ihre Gesichter waren runzlig und
wirkten seltsam zusammengepresst. Und ihr irres
Grinsen machte Aaron für einen Moment glauben, er
könne ihr Kichern hören.
Er sprang zurück in die Küche und griff zum
Messerblock; nur um sich zu erinnern, dass sein einziges
gutes Küchenmesser unten im Keller lag. Er wusste nicht
ob die beiden Viecher hinein konnten. Das Haus musste
ihn beschützen.
Die paar Meter zur Kellertür legte er sprintend zurück,
und hörte hinter sich das Geräusch von splitterndem
Holz als er sie aufriss. Aaron blickte nicht zurück. Zwei
Stufen auf einmal nehmend rannte er die Treppe
hinunter, griff das Messer von der Werkbank und hastete
wieder hoch.
Er kauerte in der Dunkelheit neben der Tür und
wusste, dass er nur einen Moment haben würde. Als der
Schatten des ersten begann, die Tür auszufüllen, rammte
er das Messer mit aller Kraft dahin, wo er in dieser
Position seinen Hals vermutete. Und er spürte einen
Widerstand.
Das Geräusch befriedigte ihn ungemein. Kein
wirkliches Gurgeln, sondern eher das Einatmen einer
Person mit einem schlimmen Husten. Aaron riß das
Messer heraus, griff das Ding an seinen widerlichen,
borstigen Haaren und stieß es die Treppe hinunter, wo es
liegenblieb.
Er eilte sofort hinterher; wieder unten angekommen
wendete er sich nach links und wartete in der Ecke links
von der Treppe. Das war kein Versteck, der Zweite
wusste, dass er hier war. Aaron hörte schon den zweiten
Schritt und machte sich bereit. Er würde nur einen
winzigen Moment haben, wenn der Gang des Zweiten
kurz stockte, und der schmale Lichtschein von oben
gerade so die Werkbank erreichte. Denn dort lag sie.
Und als er den nächsten Schritt hörte, preschte er
hervor. KNALL.
Aaron sah die Verunsicherung in seinem Blick, als er
dem Monster sein Messer in die Brust trieb. Seine Augen
zuckten von Aarons Gesicht auf die Werkbank hinter
ihm, und auf das widerliche Bündel am Fuß der Treppe.
Dann wieder zu Aaron. Er sah aus als wollte er etwas
sagen als Aaron das Messer wieder herausriss und es
ihm ins rechte Auge rammte. Er starb sofort.
Auch Aaron blutete. Das Vieh hatte ihn direkt über
dem Bauchnabel erwischt, und er spürte, wie das Blut an
seinem Bauch und danach am linken Bein hinunterlief.
Er war durchnässt.
Die eigentümliche Luft seines Kellers tief einatmend,
machte er einen großen Schritt über den Zweiten und
ging langsam die Treppe hoch. Er schloss die Tür hinter
sich und schlurfte in die Küche.
Mit einem Kratzen zog er seinen Stuhl zurück, setzte
sich, und blickte den Vorhang an.
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Entschuldigt bitte das Format, ursprünglich DINa5