Achtung: Bissig!

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Timaro

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Seit nunmehr zwei Tagen zähle ich die Quadrate auf der gepunkteten Tapete meines Spitalzimmers. Dass ich dabei nicht sehr weit komme beunruhigt mich. Ebenso die Tatsache, dass sich Gips und Verband nahtlos aneinanderreihen. Das muss so sein, versichern mir die Ärzte. Trotzdem erkenne ich in ihren Augen eine gewisse Sorge, nicht zuletzt der Quadrate wegen.
„Was genau ist passiert?“ Fragt ein junger Assistenzarzt.
„Ich erinnere mich nicht.“ Geistesabwesend starre ich wieder zu meiner gepunkteten Tapete. „Null ...“ Flüstere ich leise.
Ich muss das Feld von hinten aufrollen. Nur so werde ich herausfinden, welche Ereignisse mich in diese missliche Lage gebracht haben.
„Null ...“ Verflixt, ich muss mich von dieser Tapete losreissen und mich auf das Wesentliche konzentrieren. „Null ...“
Ich sehe die Faust des Arztes auf die einzige, nicht eingebundene Stelle meines Körpers niederpreschen. Eine etwas unkonventionelle Methode des Wachrüttelns, wie ich finde.
Es hilft! Zwar schmerzt nun auch die letzte, heilgebliebene Stelle, dem Gedankenfluss, abseits meiner Tapete, hat diese rechte Gerade aber auf die Sprünge geholfen:

„Ich erinnere mich an einen jungen, motivierten Postboten, der sich darauf freut, Frau Müller die von ihr lang erwartete Karte ihrer Cousine aus Übersee in die Hände zu drücken. Der glücklich ist, wenn er zwischen dem Bedienen zweier Briefkästen dem behinderten Herr Lehner, oder noch lieber der kerngesunden, vollbusigen Frau Rindlisbacher über die vielbefahrene Strasse helfen darf. Der schnell zwischen der Auslieferung parfümierter, sehnlichst erwarteter Liebesbriefe und dem Überreichen unparfümierter Zahlungsbefehle, der schwangeren Ute aus dem dritten Stock bei der Niederkunft zur Seite steht.“

Verklärten Blickes versuche ich mich auf die Seite zu drehen. Ähnlich wie bei den Quadraten scheitert auch diese Aktion.
„Wenden sie sich der Realität zu.“ Interveniert der Arzt leicht genervt. „Und halten sie sich bitte kurz. Ich habe noch andere Patienten. Während er sich seine Hand hält, vernehme ich, kaum hörbar, leicht wimmernd meinen Bettnachbarn: „Es eilt nicht.“

„Na gut“, fahre ich fort, „dieser junge, motivierte Postbote bin ich.Leider hat mein Beruf auch Schattenseiten.“
„Liegt auf der Hand. So waagrecht wie sie vor mir liegen. Tschuldigung.“
Dieser Arzt hat einen wirklich seltsamen Humor. Mein Nachbar zieht sich die Decke noch ein Stückchen höher.

„Diese Schattenseite hat Fell und hört meist auf den Namen Bello. Ich bin das Gegenteil eines Hundeflüsterers. Ich hasse Hunde. Wenn ich etwas flüstere, dann meist den Hundebesitzern, sie sollen ihre haarigen Bestien von mir fernhalten. Noch besser einsperren, oder im Idealfall, gleich einschläfern.“
„Na, na“, beschwichtigt Herr Doktor, „auch Hunde sind Lebewesen. Als ehemaliger, promovierter Tierarzt ...“
Von meinem Zimmergenossen sind nunmehr nur noch die Haarspitzen zu sehen.
„Lassen wir das, fahren sie fort ...“

„Immer und immer wieder haben sich Begegnungen mit meinen Kunden und deren Hunden so zugetragen:
Mit der Linken halte ich einen Stapel Briefe, mit der Rechten den eingeschriebenen Brief und den Unterschriftenbogen. Im Hintergrund knurrt ein kräftiger, gutbezahnter Rottweiler, während ich meine Transpiration und die weichen Knie kaum unter Kontrolle halten kann. Während der Kunde mit Nachdruck bekräftigt, dass sein Liebling keiner Menschenseele etwas antun könnte, hängt Bello bereits an meinen Waden und versucht verzweifelt, sein Image als Schosshündchen loszuwerden. Ich schreie, der Besitzer staunt und Bello beisst. Glauben sie mir, ich und meine Waden hatten die Schnauze voll. Wir mussten etwas ändern. Dieses Leben zwischen beschwichtigenden Hundehaltern und Hunden, die sich nicht an deren Prognosen hielten, war nicht mehr auszuhalten.“
Ich drehte den Spiess um.
„Ich bin eigentlich ein harmloser Briefträger, möchte nur etwas spielen.“ Mit diesen Worten packte ich den Kunden und biss in Wade, Ohr, Arm, oder was sich gerade in Bissnähe aufhielt.
Auch die kampferprobtesten Vierbeiner, welche sich in Lauerstellung positionierte hatten, suchten schockiert das Weite. Den noch etwas überraschteren, ob des Blutverlustes immer blasser werdenden Postempfängern gegenüber, entschuldigte ich mich höflich:
„Tut mir echt leid. Ich bin sonst völlig harmlos. Ist bestimmt nur ein Kratzer. Bis Morgen dann.“

„Was denken Sie, Herr Doktor, könnten wir unter diesen Umständen auf die Zwangsjacke verzichten? Ich tu doch niemandem was. Ich bin so ein braver Briefträger.“
 



 
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