Advent

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Silea

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Advent!
Der erste Tag, das erste Türchen.
Ich sehe aus dem Fenster. Adventsstimmung überall ringsum. Besinnliche, friedvolle Zeit. In den Fenstern, Vorgärten und an den Balkonen glitzern und leuchten wieder weihnachtliche Dekorationen. Milde Lichter, blanke Kugeln und frische Tannenzweige, Glitzergirlanden und Sterne.
Doch der Schein trügt. Etwas hat sich eingeschlichen, was die Besinnlichkeit Lügen straft und die friedvolle Stimmung verhöhnt.
Schräg gegenüber, im Erdgeschoss, hat Frau N., wie jedes Jahr, wieder einen kleinen Weihnachtsmann an der Balkonbrüstung angebracht. Meine Adventsstimmung verpufft mit einem Schlag. Der arme Kerl!
Und er ist leider nicht der Einzige. Überall in der Stadt hängen in Scharen kleine Weihnachtsmänner, die meisten nicht größer als 1,20 m, aus Fenstern, über Balkongeländer und an Dachschrägen. Eine Armee kleiner, rotgewandeter, hoffnungsloser Wichte. Bei Wind, Schnee und Regen hängen sie da, erbarmungslos der Witterung ausgesetzt, manche schon im dritten oder vierten Jahr, ausgeblichen, abgeschabt, mit eingestaubten Mützen und sich ablösenden Nylonbärten.
So auch der kleine Weihnachtsmann von Frau N. Ergeben hängt er da, nicht fern von einem konzentrisch beleuchteten Weihnachtsstern, dessen Licht von innen nach außen pulsiert und an einen mittels kleiner Leuchtdioden dargestellten Muskelkrampf erinnert. Moderne Kunst? Oder doch die Leuchtreklame eines Spielcasinos?
Der Weihnachtsmann jedenfalls schaut traurig in die Landschaft. Wieso, scheint sein Blick zu sagen, wieso habt ihr die Adventsbotschaft vergessen? Was wurde aus dem Christkind? Und wieso habt ihr mich aufgehängt? War ich nicht immer gut? Habe ich euch nicht immer Freude gebracht? Habt ihr die Äpfel, Nüsse und die Schokolade vergessen? Denkt ihr nicht mehr an die Lebkuchen und Orangen? Ihr habt sie eingetauscht gegen kitschige Hollywood-Philosophie und weihnachtlichen Konsumterror. Und damit ihr euch nicht daran erinnern müsst, werft ihr mich aus der warmen Stube, hinaus in die Kälte und die Dunkelheit.
Was ist aus den Zeiten geworden, wo ich – nur am 6. Dezember auftretend – einen einzigen Tag im Jahr etwas Besonderes war?
Etwas Besonders ist er nicht mehr. Jetzt ist er die ganze Adventszeit über präsent, und nicht nur einer, nein Heerscharen von Weihnachtsmännern bevölkern die westliche Hemisphäre. Eine wahre Weihnachtsmann-Inflation, überall rote Kutten, weißes Haar und rosige Bäckchen. Man mag schon gar nicht mehr hinsehen. Was ist bitte schön daran, den Weihnachtsmann aufzuhängen, ihn zu degradieren zu einem Dekoartikel wie einer Wachskerze oder einem Strohstern? Besinnlichkeit ist aus der Mode gekommen. Lautes „Ho! Ho! Ho!“, penetrante Jingle-Bells-Musik und mechanisch schnarrendes „Merry Christmas!“ tönt aus allen Lautsprechern.
Niemand hat mehr Achtung vor ihm. Vorbei die Zeiten, als man sich an den heiligen Bischof Nikolaus erinnerte, als die Kinder bangten, nicht brav genug gewesen zu sein, und seine Rute fürchteten. Die Rute wurde abgeschafft. Der Weihnachtsmann wurde geschrumpft. Sein Buch mit den Aufzeichnungen, wer artig und wer unartig war, wanderte ins Antiquariat.
Bring Geschenke, oder wir hängen Dich auf. Das ist die neue Adventsbotschaft, die Botschaft des Konsumterrors. Von allen Fenstern, von allen Balkonen. Und von den Dachschrägen. Keine Hoffnung auf Rettung, nicht mal durch seine Rentiere. Denn die stehen, von innen leuchtend und mit Glitter bestreut, neben den Gartenzwergen in den Vorgärten, als Sinnbilder für viele kleine Außenposten von Disneyland.
Oh, du Fröhliche! Um den „neuen Advent“ zu ertragen, hilft wirklich nur noch Glühwein. In diesem Sinne: Prost!
 
Liebe Silea!

Dein Beitrag hat mir sehr, sehr gut gefallen, vor allem wegen der wohltuend klaren Sprache.
Und wenn sich jetzt jemand meldet, den die Ausführlichkeit gestört hat, dem kann ich nur sagen:
Endlich hat mal einer einen Missstand angeprangert, der mich schon lange ärgert.
Der Beitrag hätte wohl auch ins Forum 'Essays und Kolumnen' gepasst.
Lieben Gruß
Eberhard
 

Silea

Mitglied
Dankeschön! Und wem es zu lang war: Es kann ja nicht jedem gefallen. Ich wünsche Dir und allen, die der Disney-Advent auch nervt, eine besinnliche Vorweihnachtszeit.
 



 
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