Kapitel 2
Doch so sehr Alice auch wartete, dieser Cain kam nicht zurück. Die Tage auf dem Dachboden verstrichen langsam und mit jeder Minute schwand ihre Hoffnung.
Langsam dachte sie sogar darüber nach, ob sie nicht doch alles nur geträumt hatte, wie sie es schon einmal angenommen hatte.
Sie dachte darüber nach, Stunde um Stunde. Bis in der Woche von Halloween schließlich eine der Schwestern auf dem Dachboden erschien und Alice verkündete, sie könne wieder vom Speicher herunter.
Schwester Margaret hielte es für angebracht, dass sie zum Pastor in die Sonntagsmesse gingen. Sie solle mitkommen und beichten, weil der Dämon in ihr sie nicht mehr davon abhalten könne.
Das Mädchen hielt diese Vermutung zwar für ausgemachten Unsinn, doch sie folgte der Schwester ohne Murren die Treppen hinab in die Halle.
Wie immer fühlten sich Alices Beine dabei wie betäubt an. Nach dem langen Sitzen am Fensterbrett war das auch nicht verwunderlich.
Unten in der Halle standen schon die anderen Kinder und warfen dem blassen Mädchen, das der Treppe hinunter kam, ängstliche Blicke zu.
Unter Alice Augen hatten sich vom vielen Lesen dunkle Ringe gebildet und an ihren Lippen klebte immer noch ein wenig verkrustetes Blut. Sie bot so sicher nicht gerade einen traumhaften Anblick.
Schwester Margaret begutachtete ihre Erscheinung mürrisch und schüttelte dann den Kopf. So könne man das Kind doch nicht in die Kirche gehen lassen. Sie wies zwei Schwestern an, Alice rasch herzurichten.
Die Zwei taten, wie ihnen geheißen, und führten das Mädchen in einen Nebenraum.
Hastig wuschen sie ihr Gesicht und Hände, steckten sie in ein schlichtes, weißes Kleid und machten ihr noch die Haare zurecht. Dieses Mal blieb jedoch keine Zeit, die vielen Löckchen darin glatt zu kämmen und so steckten die Frauen Alice rasch einen weißen Haarreif auf den Kopf, um die Strähnen zu bändigen.
Nach diesem Rekordakt von nicht einmal zehn Minuten brachten sie Alice schließlich zurück in die Halle.
Schwester Margaret rümpfte über die wild aussehende Lockenpracht auf dem Kopf des Mädchens zwar die Nase, meinte aber, man könne jetzt gehen.
Die Kinder reihten sich auf ihren Geheiß hin in Zweierreihen zusammen und verließen das Haus. Nur Alice musste alleine zwischen den zwei Nonnen, die sie umgezogen hatten, folgen.
Der kleine Tross lief zielgenau über die Straße und um einige Häuserblocks zur Nordseite des nahe liegenden Parkes. Da, wo sich die Kirche des Ortes befand.
Die Leute auf dem Gehweg huschten zur Seite, um den Kindern Platz zumachen. Dabei blieben viele Augen entzückt auf Alice hängen.
Das Mädchen mit dem honigblonden Haar sähe aus wie ein kleiner Engel, meinte eine ältere Frau, die ganz aus dem Häuschen zu sein schien.
Alice wand sich nach ihr um und die Frau winkte ihr freundlich zu. Das Mädchen wollte höflicher Weise zurückwinken, doch eine der Nonnen drückte ihre Hand herunter und drängte sie mit sanfter Gewalt weiter.
Alice wand sich von der Frau ab und sah sich gekränkt die Gegend an.
Es war eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal auf dem Weg zur Kirche gewesen war. Letztes Ostern, so glaubte sie. Dazwischen war sie zu oft auf dem Speicher gewesen und der Pastor war immer zu ihr gekommen.
Wie sehr sich die Straßen doch in so kurzer Zeit verändert hatten...
Der Park zu ihrer rechten bestand nur noch aus knorrigen Bäumen, deren Blütenpracht sich in einzelne, rotbraune Blätter verwandelt hatte.
Laub lag auf den Wegen und wurde über die Bürgersteige geweht. In den Schaufenstern der Geschäfte prangten neue Auslagen. Der Friseur hatte einen frischen Anstrich bekommen und ein Juwelier war in die Stadt gezogen.
Auch ein neuer Konditor hatte sein Geschäft gegenüber der Kirche eröffnet.
Mit prächtigen Pastellfarben hob es sich deutlich von den schlichten Gebäuden herum ab. In der Auslage standen eine Hochzeitstorte, ein Marzipankuchen und eine Schwarzwälder Kirschtorte.
Rundherum noch der eine oder andere Leckerei. Die Blicke der Kinder blieben neugierig an der Scheibe haften. Auch Alice konnte sich nicht von den Süßwaren losreißen. Ihr Bauch hing ihr schon in den Knieskehlen.
Der Konditor, der gerade ein Schild vor dem Laden postierte, meinte zu den Nonnen, wie mager das Kind doch aussähe und bot Alice eine Cremeschnitte an.
Dieses Angebot wurde jedoch von den Nonnen ablehnt, mit der Begründung, dass das Kind keine Milchprodukte vertrage.
Sie schoben das Mädchen hastig weiter über die Straße, damit sie nicht den Anschluss an den restlichen Tross verloren.
Der hatte sich bereits vor der Kirche eingefunden und drängte hinein.
Alice warf einen hasserfüllten Blick auf das Gotteshaus. Es war das einzige Gebäude, das sich keinen Deut verändert hatte.
Die dicken Backsteinmauern waren das Moos und den Efeu immer noch nicht losgeworden. Das große Glasbild über dem Eingang mit der Heiligen Jungfrau Maria und dem kleinen Jesus sah immer noch ein bisschen krumm und schief aus. Die alten Türen waren dieselben und auch die uralten Glocken, die zur Messe riefen, hatten den gleichen, schrecklichen Klang behalten.
Die Kirche war so trostlos wie eh und je.
Alice ließ sich nur widerwillig durch die zwei Türflügel hinein bugsieren. Drinnen war es stickig und noch kälter als draußen. Unzählige Leute hatten sich in der winzigen Kapelle versammelt und die meisten der Bänke waren bereits besetzt.
Für das Waisenhaus wurden jedoch die ersten Reihen rechts unter dem Kirschenschiff frei gehalten. Die Kinder sowie die Nonnen schlängelten sich durch die Menge und ließen sich auf den reservierten Plätzen nieder. Alice hatte das Pech, in der ersten Reihe zu landen.
Zwischen einer äußerst hässlichen Engelsstatur und Schwester Margaret. Diese nahm wohl den meisten Platz auf der Bank ein und ließ Alice gerade einmal genug, um sich schräg an das Ende zu setzen.
Das Mädchen mühte sich, einen möglichst gemütlichen Sitz zu finden, aber nach ein paar kläglichen Versuchen gab Alice es auf.
Mehr als unzufrieden drehte sie schließlich den Kopf zum Altar und sah gelangweilt dabei zu, wie der Pastor in seinem überlangen Gewand vor sein Pult trat. In der Kapelle wurde es augenblicklich still. Alle starrten auf den hageren, großen Mann.
Dieser gab irgendeine Seite im Gesangbuch vor und die ganze Kirche erhob sich zum Singen. Alice hatte kein Buch und Schwester Margaret hielt ihres fiel zu hoch.
Das Mädchen öffnete einfach nur den Mund und bewegte stumm die Lippen, bis der Pastor allen gebot, sich wieder zu setzen.
Er räusperte sich kurz und als das Rascheln und Rutschen der Leute wieder verklungen war, begann er, einen Abschnitt aus der Bibel vorzulesen, den er sich zurecht gelegt hatte. Alice hörte wie immer nur mit einem Ohr zu. Es ging um Adam und Eva und ihre Söhne.
Der eine brachte den anderen aus Eifersucht heraus um. Oder so etwas...
Die Worte des Pastors zogen sich nur schleppen dahin und er sprach so leise, dass nur die halbe Kapelle ihn verstehen konnte. Nur eine Stelle betonte er so stark, dass sogar Alice aufsah.
„ ... Und Gott machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände...“, sagte der Pastor mit einem Unterton in der Stimme, der andeutete, dass er diesen Zeilen in irgendeiner Weise abgeneigt war. Anscheinend fand er es nicht rechtens, dass dieser Kain am Leben blieb, während sein Bruder tot war.
Cain... Alice dachte sofort wieder an den seltsamen Jungen, der seit heute morgen aus ihren Gedanken verschwunden war. Sein Name klang sehr ähnlich dem aus der Bibel. Ob das wohl Absicht war?
Alice drehte sich nachdenklich zu der Engelsstatur neben ihr um. Ihr Hals war ganz steif uns sie konnte nicht mehr auf den Pastor und den Altar blicken.
Es war viel angenehmer, in die Fratze des Marmordings zu starren (die im übrigen besser aussah, als der Pastor.) Das Mädchen legte den Kopf schief und versuchte die Mimik des Engels zu entschlüsseln.
Das schiefe Grinsen, das man ihm verpasst hatte, machte es nicht einfach. War er traurig oder lachte er? Oder sie?
Man hatte Alice gesagt, Engel seinen androgyn, doch wie sollten sie dann Kinder bekommen? Man brauchte doch einen Mann und eine Frau dazu.
Das stand ja sogar in der Bibel. Mit Adam und Eva.
Der Engel vor dem Mädchen hatte etwas weibliches, so fand sie. Er hatte lange Haare und weiche Gesichtszüge. Außerdem trug er so etwas Ähnliches wie ein Kleid. Und welcher Mann trug schon ein Kleid?
Nachdem diese Frage geklärt war, blickte Alice sich in der Kapelle um.
Hinter ihr waren drei Männer in eine Bibel vertieft und lasen stumm die Worte, die der Pastor vorne sprach. Bis hinten saß ein kleiner Junge, der eingeschlafen zu sein schien.
Eine Frau, die ebenfalls sehr weit hinten saß, sprach gerade aufgeregt mit einer anderen. Alice war also nicht die Einzige, die nicht richtig bei der Sache war.
Auch ein anderes Mädchen in der Mitte suchte die Kapelle ab und ihre Blicke trafen sich zufällig.
Sie warf Alice ein Lächeln zu und drehte sich dann wieder um. Alice ließ ihren Blick weiterwandern. Über die Orgel hinter dem Altar, die kleine Jesusikone, die am Kreuz hing.
Die Decke, an der ein abblätterndes Fresko thronte und auch die oberen Ränge, die heute leer geblieben waren.
Zumindest fast leer.
Ein Junge hockte über ein paar Bänken neben Alice und starrte, die Hände unter dem Kopf verschränkt, auf den Pastor.
Das Mädchen musste einige Male blinzeln, ehe sie sich sicher war, dass sie sich den Jungen nicht nur einbildete. Sie erkannte ihn sofort wieder.
Dasselbe weiße Hemd, die schwarzen Handschuhe und Haare... Die goldenen Augen, in denen sie sich im nächsten Moment spiegelte.
Es war dieser Junge von vor ein paar Tagen. Dieser Cain. Er warf Alice ein Grinsen zu und winkte freudig.
Sie winkte sprachlos zurück und ihr Mund klappte ihr dabei auf. Sie hätte nicht erwartet, ihn doch noch einmal zu sehen. Und vor allem hier. In der Kirche.
„ Alice!“, die scharfe Stimme von Schwester Margaret erklang und Alice drehte sich erschrocken um. Der Pastor hatte aufgehört zu reden und starrte sie missbilligend an. Auch manche der Leute warfen ihr düstere Blicke zu.
Alice bemerkte erst jetzt, dass sie beinahe auf der Bank stand.
Sie hatte sich wohl so zu Cain umgedreht, ohne es zu bemerken. Etwas verlegen wand sie sich wieder von ihm ab und setzte sich unter den wachsamen Augen von Schwester Margaret kerzengerade auf ihren Platz.
Der Pastor nickte stumm und versank abermals in der Bibel.
„ Und das mir das nicht noch einmal passiert!“, warnte Schwester Margaret sie zornig, ehe sie wieder nach vorne sah.
Alice warf ihr einen grimmigen Blick zu, drehte sich dann aber wieder leicht nach hinten.
Das Mädchen suchte die oberen Ränge ab, doch Cain war auf einmal nicht mehr da. Verschwunden, genau wie beim letzten Mal.
„ Pst! Hier drüben!“
Alice fuhr erschrocken auf, als die Stimme des Jungen plötzlich neben ihr ertönte. Cain lehnte auf einmal an dem hässlichen Engel, den sie vorhin gemustert hatte.
Sie wunderte sich, wie er dorthin gelangt war, bis ihr ja wieder einfiel, dass er auch so etwas wie ein Geist war.
„ Na? Du scheinst überrascht, mich zu sehen“, meinte er und seine goldenen Augen blitzten schelmisch auf. „ Habe ich dich erschreckt?“
„ Das kann man wohl sagen“, erwiderte Alice im Flüsterton. Sie wand sich kurz zu Schwester Margaret um, aber die hatte sie Gott sei Dank nicht gehört.
„ Was machst du hier?“
„ Was wohl? Du hast mich doch um etwas gebeten, nicht?“
„ Ja. Aber warum kommst du gerade jetzt?“, zischte sie verärgert und deutete dabei mit einem flüchtigen Blick auf Schwester Margaret.
„ Ich war gerade in der Gegend.“, erwiderte Cain. Das ließ für Alice natürlich nur den Schluss zu, dass hier irgendwo jemand gestorben war. Dieser Gedanke bereitete ihr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
„ Und?“, fragte sie, um es rasch wieder zu verdrängen.
„ Was und?“
„ Na... Was hat er gesagt, dieser Hades?“
„ Oh, eine ganze Menge!“, entgegnete Cain stolz. „ Scheinst etwas ganz besonderes zu sein. Er war total verblüfft über das, was ich ihm von dir erzählt habe. Hat gleich seine ganze Bibliothek auf den Kopf gestellt, um nachzuschlagen, ob so was schon einmal vorgekommen ist. Es wird dich sicher interessieren, was er herausgefunden hat. Komm nach der Messe wieder auf deinen Dachboden, dann können wir reden.“
„ Erzähl's mir doch gleich!“, warf sie drängend und etwas zu laut ein. Schwester Margaret drehte sich zu ihr um, doch Alice tat so, als hätte sie nur laut die Worte des Pastors wiederholt.
Die alte Frau sah sie skeptisch an, schenkte ihre Aufmerksamkeit dann aber wieder der Messe.
Alice atmete erleichtert auf und blickte zurück zu der hässlichen Engelsstatur.
Zu ihrer großen Enttäuschung hatte sich Cain wieder einfach so davon gestohlen. Dabei hatte er doch selbst gesagt, er hätte genug Zeit!
Nun gut, jetzt ließ es sich auch nicht mehr ändern. Sie würde sich wohl gedulden müssen, bis sie wieder im Waisenhaus war und dann...
„ Alice, steh gefälligst auf!“, Schwester Margaret packte Alice grob am Arm und stellte sie auf die Füße. Der Pastor hatte gerade seine Predigt beendet und zum Singen aufgerufen, als Alice sich nach Cain umgesehen hatte. Das Mädchen hatte das gar nicht bemerkt.
Sie sang rasch das Lied – dessen Text sie ausnahmsweise einmal kannte – und wartete ungeduldig darauf, dass es bald endete.
Nach einer unendlich langen Zeit trat dann die ersehnte Ruhe ein und der Messdiener ging mit einem Spendenteller durch die Reihen.
Der Pastor schlug die Bibel auf seinem Altar zu und die ersten Kinder und Nonnen gingen bereits aus der Kirche. Sie mussten keine Spende entrichten, da sie sowieso nicht sehr viel besaßen.
Alice wollte ihnen rasch folgen, doch noch ehe sie einen Schritt gemacht hatte, packte Schwester Margaret sie am Schlafittchen.
„ Du bleibst noch“, sagte sie knapp. „ Du musst noch zu deiner Beichte.“
Dämliche Beichte. Das hatte sie ja völlig vergessen. Alice verfluchte die alte Nonne und den Pastor, der gerade auf sie zukam.
„ Guten Tag Vater“, begrüße Schwester Margaret den Mann und verbeugte sich, was sicherlich graziös aussehen sollte, jedoch mehr den Anschein erweckte, als müsse sie sich plötzlich übergeben.
Dem Pastor schien das allerdings nicht aufzufallen. Er nickte kurz und wand sich dann Alice zu.
Schwester Margaret gab dem Mädchen einen schmerzhaften Stoß und es verbeugte sich ebenfalls vor dem Geistlichen.
„ Und, wie ist es ihr ergangen?“, fragte der Mann die Nonne.
„ Oh, sehr gut“, versicherte diese, woraufhin Alice ihr am liebsten auf den Fuß getreten wäre.
Auf dem Dachboden war es ihr – abgesehen von der Begegnung mit diesem Cain – alles andere als „ sehr gut“ ergangen. Das Mädchen zwang sich jedoch, darüber zu schweigen.
„ Und der Dämon?“, fuhr der Pastor fort, während sich tiefe Sorgenfalten auf seine Stirn legten. „ Ist er noch bei Kräften?“
„ Nein. Ganz sicher nicht. Wir haben getan, was Ihr uns rietet, Vater. Der Dämon ist sicher geschwächt. Ich bringe das Mädchen nur noch zur Beichte, damit er sie mit ihren Sünden verlässt.“
„ Ja, das ist einzig Richtige. Hast du das auch verstanden?“, er blickte kurz auf Alice hinab; mit einem freundlichen Lächeln, das noch gekünstelter nicht hätte aussehen können.
„ Du darfst nichts bei der Beichte verschweigen. Sonst bist du offen für das Böse.“
„ Oh, nein, das würde mir nicht im Traum einfallen...“, murmelte Alice sarkastisch.
„ Was hast du gesagt?“
„ Ach, nichts, Vater“, entgegnete das Mädchen schnell. „ Ich meinte nur, dass Ihr Recht habt.“
„ Gutes Kind“, lobte er. „ Na los, dann komm mit.“
Er nahm Alice bei der Hand und wies Schwester Margaret an, in der Kapelle Platz zu nehmen und auf sie zu warten. Dann führte er das Mädchen in den hinteren Teil der Kirche.
Dieser gefiel Alice noch weniger als das restliche Gebäude.
Die Beichtstube befand sich dort. Zwei kleine, hölzerne Kabinen, die nur durch ein kleines Fenster miteinander verbunden waren. Es stank darin immer fürchterlich nach einem Gemisch aus Parfüm, Zigaretten und Alkohol.
Außerdem war der Weg dorthin mit den unheimlichsten Skulpturen und Bildern versehen.
Einmal tötete der Erzengel Michael auf grausame Weise einen Dämon. Auf einem Ölgemälde sah man den gekreuzigten Jesus Qualen leiden, auf einem anderen eine wirklich unschöne Version des Jüngsten Gerichts.
Alice fröstelte es bei dem Anblick und sie war wie immer etwas froh darüber, als sie den Beichtstuhl endlich erreichten.
Der Pastor drängte sie sofort in den linken Raum und schloss hinter ihr die Tür, ehe er in den rechten ging und sich setzte.
Auch Alice ließ sich auf dem kleinen Holzschemel in der Kabine nieder und musste erst einmal die Luft anhalten. Der Gestank hier drin war noch unerträglicher als sonst. Das rührte sicher daher, dass sie so lange nicht mehr in der Kirche gewesen war.
Trotzdem fand das Mädchen, dass es heute besonders schlimm war.
Das sagte sie dem Pastor, der sogleich das kleine Fenster zwischen den Kabinen aufschob, natürlich nicht.
„ Mein Kind“, begann der Mann, wie er bei jeder dieser Sitzungen. „ Berichte mir von deinen Sünden. Ich werde sehen, ob Gott dir vergeben kann.“
Alice hingen diese Worte zum Hals heraus und sie trieben sie schier zur Weißglut.
Doch sie würde nicht aus der Kabine kommen, würde sie nicht irgendetwas darauf erwidern. Also,... was hatte sie denn schreckliches getan?
„ Nun, Vater“, fing sie vorsichtig an. „ Ich habe letzte Woche gesündigt. Ich habe Elly, einem der Mädchen, den Kamm weggenommen und wollte ihn nicht wieder hergeben.“
Ja, das war eine gute Story.
Nicht zu hart oder unglaubwürdig. Das sollte den Pastor zufrieden stellen.
Der Mann in der anderen Kabine schüttelte jedoch nur den Kopf und seufzte beklommen.
„ Mein liebes Kind“, sprach er mahnend. „ Ich kann dir nur helfen, wenn du mir die Wahrheit nicht verschweigst.“
„ Aber das ist doch die Wahrheit!“, stammelte Alice verblüfft. Was war nur mit dem Pastor los?
Was störte ihn an dieser Geschichte? Sonst schluckte er doch auch die erfundenen Untaten von ihr und den anderen Kindern.
„ Nein, das kann nicht die Wahrheit sein.“, warf der Pastor ein. „ Ein Dämon hat von dir Besitz ergriffen. Also musst du eine sehr große Sünde begangen haben. Also, was hast du getan?“
„ Aber ich sagte doch schon...“
„ Das ist eine viel zu leichte Sünde. Du verschweigst mir etwas.“
Alice wollte ihren Ohren nicht trauen. Eine „ zu leichte“ Sünde? Was sollte sie sich den noch aus den Fingern saugen? Vor allem etwas, bei der sie eine noch härtere Bestrafung erwartete?
Nein, ohne sie.
Das Mädchen verschränkte selbstsicher die Arme.
„ Tut mir leid, Vater“, sagte sie störrisch. „ Aber das war meine einzige Sünde. Ich habe ansonsten nichts gemacht.“
„ Du lügst schon wieder...“
„ Nein, ganz sicher nicht!“, beharrte sie.
Der Pastor atmete schwer ein.
„ Jetzt hör mir einmal gut zu, Mädchen“, seine Worte waren hart und nicht mehr so ruhig wie vorhin. „ Du musst etwas Schreckliches getan haben, das steht außer Frage. Schließlich hat ein Dämon von dir Besitz ergriffen. Würdest du mir also bitte sagen, was du getan hast, damit ich dir deine Buße nennen und du deine Sünden begleichen kannst?“
„ Ich denke nicht daran, für Sie einen so großen Blödsinn zu erfinden.“, rief Alice in nicht minder gereiztem Ton. „ Ich habe mich nichts schuldig gemacht. Und wenn Sie das glauben, dann hat Ihr Gott Ihnen wohl einen ziemlich dämlichen Floh ins Ohr gesetzt.“
So, jetzt war es raus. Alice hatte ihrer Wut einmal Platz verschafft.
Komisch, wie gut sich das anfühlte. Sie hätte sofort damit weitermachen und dem Pastor sicher noch paar Takte mehr sagen können. Doch dieser hinderte sie daran.
Nach einer beschämenden Pause klappte er das kleine Trennfenster des Beichtstuhles wieder zu und ging aus der Kabine.
Alice hörte wie er zu ihrer Tür ging. Der Mann riss sie auf und packte das Mädchen noch grober am Handgelenk als Schwester Margaret.
Er zog sie heraus, was sich, sosehr Alice sich auch werte, nicht verhindern ließ.
Der Griff des Pastors war fest und drückte schmerzhaft ihre Knochen zusammen.
„ Lassen Sie mich los!“, schrie Alice zornig, doch der Pastor schien nicht einmal im Traum daran zu denken. Er drückte fester zu und schleifte Alice an den unheimlichen Skulpturen und Ölgemälden vorbei zurück in die Kapelle. Dort saß, wie man sie angewiesen hatte, immer noch Schwester Margaret und vertrieb sich die Zeit damit, in der Bibel zu lesen.
Als sie den Pastor kommen sah, legte sie das Buch jedoch schleunigst zur Seite und erhob sich von der Bank.
„ Das ging aber schnell, Vater...“, setzte die Nonne erfreut an, vollendete den Satz aber nicht, als sie die dunkle Miene des Pastors sah.
Der Mann hielt vor ihr an und zog Alice neben sich, die mit seinem Schritt nicht wirklich mithalten konnte.
„ Liebe Schwester, ich glaube, es ist schlimmer, als wir annahmen“, eröffnete er mit düsterer Stimme.
„ Der Dämon ist stark und hat sich durch die Maßnahmen, die wir ergriffen, nicht beirren lassen.“
Die Nonne wurde aschfahl im Gesicht und ihr Mund kräuselte sich erschrocken. Sie zog ihr Kreuz aus dem Gewand und schickte ein stummes Gebet zum Himmel.
„ Das wird wohl nicht viel nutzen“, sagte der Pastor schweren Herzens und Schwester Margaret hielt entgeistert inne.
„ Aber... warum?“
„ Der Dämon ist zu mächtig. Er hat sich den Körper des Mädchens bereits zu Eigen gemacht, um sie daran zu hindern, ihre Sünden zu gestehen!“
„ Das ist ja schrecklich!“, stieß die Nonne aus. „ Vater, was bleibt uns in solch einem Fall zu tun?“
„ Ich fürchte, wir müssen uns an wahrhafte Exorzisten wenden. Ich kenne mich auf dem Gebiet leider nicht so gut aus, um diesen Dämon zu vertreiben... Ich werde gleich morgen eine Nachricht an den Vatikan schicken, damit man uns Hilfe entsendet.“
„ So schlimm ist es also...“, stellte Schwester Margaret fest und sah erschütternd auf Alice hinab.
Das Mädchen konnte ihr und dem Pastor nur einen verständnislosen Blick zuwerfen.
Was glaubten die Beiden bloß? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein, dass sie Exorzisten aus dem Vatikan holen wollten. Was für ein Schwachsinn.
„ Ich glaube, Sie beide übertreiben etwas“, warf Alice ein. Ihr dämmerte, dass die Sache kein gutes Ende nehmen würde, wenn sie sich nicht schleunigst aufklärte.
„ Ich bin nicht von einem Dämon besessen. Ich habe den Pastor vorhin mit Absicht beleidigt.“
„ Du!“, schrie Schwester Margaret erbost und packte die Schultern des Kindes, um es kräftig zu schütteln.
„ Du Dämon, was hast du bloß mit dem Mädchen angestellt? Ich weiß, ihr Inneres ist nicht das Reinste, aber das gibt dir keinen Grund, sich ihrer zu bemächtigen.“
„ Schwester Margaret, Sie tun mir weh!“, rief Alice und versuchte, sich der Frau zu entziehen.
Diese ließ jedoch erst von ihr ab, als der Pastor sie von Alice löste.
„ Das bringt nichts, Schwester“, versuchte er der Nonne klar zu machen. „ Da braucht es stärkere Methoden, wie schon gesagt. Man wird ihr Zimmer mit Kreuzen aushängen und mit Weihwasser segnen, damit der Dämon nicht entkommen kann. Und dann wird er ausgetrieben und vernichtet. Es wird eine schreckliche Prozedur werden, aber dann ist das Kind gerettet...“
„ Das ist langsam nicht mehr komisch!“, unterbrach Alice den Pastor. „ Es gibt keinen Dämon! Vielleicht in ihrer Fantasie, aber das geht mich herzlich wenig an! Lassen Sie mich endlich los!“
„ Schweig, Dämon!“, befahl der Pastor gebieterisch. „ Du kannst deiner gerechten Strafe nicht entkommen!“
„ Das werden wir ja noch sehen!“, schrie Alice, der es nun endgültig reichte.
Sie wollte nicht zu irgendwelchen Exorzisten und irgendeinen Hokuspokus über sich ergehen lassen. Sie musste sofort weg von hier!
Das Mädchen spuckte dem Pastor wütend ins Gesicht und trat ihn mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, auf den Fuß. Der Mann schrie vor Schmerz und lockerte wie beabsichtigt seinen Griff.
Alice zog ihre Arme aus seiner Hand und rannte los, ehe Schwester Margaret oder der Pastor irgendetwas dagegen unternehmen konnten.
Die Leute, die noch in der Kirche waren, sahen dem Spektakel teils erstaunt, teils erschrocken zu. Doch keiner maß es sich an das Mädchen, das da durch die Bankreihen rannte, aufzuhalten.
Nur Schwester Margaret, der es noch ein paar Sekunden gelang, zu reagieren, setzte Alice schließlich nach. Auch wenn sie nicht gerade die Zierlichste war, so war sie dabei unheimlich schnell.
Alice war in der Mitte der Kapelle, da hatte die alte Nonne sie auch schon fast eingeholt.
Das Mädchen legte einen Schritt zu, sosehr, wie es das unpraktische Kleid an ihr eben zuließ, und stürzte aus der Kirche.
Die Passanten draußen auf der Straße warfen ihr verblüffte Blicke zu und noch verblüffter sahen sie drein, als Schwester Margaret im nächsten Moment erschien.
Sie blieben stehen und sahen zu, wie die Nonne die Hand nach dem Mädchen ausstreckte und es schließlich zu packen bekam, ehe es an die Straße gelangte.
Alice versuchte verzweifelt, sich loszureißen, doch es war vergebens.
Schwester Margaret war um einiges kräftiger als sie. Besonders jetzt, da sie wütend war. Man sah das eindeutig an ihrem violetten Gesicht, das in ein sattes Rot überging.
Alice hatte eine solche Farbe bei der alten Frau zwar noch nie gesehen, war sich aber sicher, dass sie nichts Gutes verheißen konnte.
Was die Nonne das Mädchen auch deutlich spüren ließ. Sie drückte erbarmungslos das dünne Handgelenk und versuchte, das Kind in die Kirche zurückzuziehen.
„ Lassen Sie mich doch los! Ich habe nichts getan!“, rief Alice so laut, dass es jeder hören konnte. Die kleine Menge, die sich um sie versammelt hatte, tuschelte aufgebracht.
Doch die Nonne zog unerbittlich weiter und achtete nicht auf die Worte des Mädchens.
Sie murmelte nur andauernd ihre Gebete und stieß allerhand Verwünschungen gegen den Teufel und den Dämon, der Alice angeblich besaß, aus.
„ Hilfe! Helft mir doch!“, schrie Alice verzweifelt und wand sich zu der Menge um. Alle sahen sie schockiert an, doch keiner wollte es wagen, sich der Nonne in den Weg zu stellen.
Das Mädchen brach in Tränen aus, als sie merkte, dass sich keiner wirklich für sie interessierte. Die Leute sahen in dem Aufruhr wohl nur eine spannende Geschichte.
Alice spührte, wie ihre Füße sie nicht mehr auf der Stelle hielten und Schwester Margaret die Oberhand gewann. Sie weinte noch bitterliche und rief noch verzweifelter nach Hilfe.
Sie suchte die Menge nach jemanden ab, den sie kannte und der sie erhören würde. Doch selbst der Konditor von vorhin konnte ihr nicht mehr schenken, als einen mitleidigen Blick.
„ Brauchst du Hilfe?“
Alice glaubte, sich verhört zu haben. Sie drehte sich hoffnungsvoll um, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Und sah dabei in ein vertrautes Gesicht.
„ Cain!“, rief sie freudig, als sie den Jungen erspähte. Er stand wie durch ein Wunder plötzlich zwischen den anderen Leuten. Anscheinend war er doch nicht so einfach verschwunden, wie sie gedacht hatte.
„ Cain, oh gut, dass du da bist!“
Schwester Margaret hielt abrupt inne, als sie diese Worte vernahm. Sie drehte sich zu Alice um und sah ihr dabei zu, wie sie mit der Luft hinter sich sprach.
„ Kain?“, wiederholte sie in der dunkelsten Stimme, die das Mädchen je bei ihr gehört hatte.
Sie wollte wohl noch etwas hinzufügen, doch der Pastor, der gerade aus der Kirche kam, hielt sie davon ab.
„ Oh, Schwester, ihr habt den Dämon aufgehalten, Gott sei Dank!“, entgegnete er erfreut, während er die Stufen hinunter humpelte.
Die Menge rundherum starrte ungläubig auf ihn und dann wieder auf Alice. Dämon? Bis jetzt hatten sie einfach nur geglaubt, das Mädchen hätte sich in der Kirche einen üblen Streich erlaubt und wolle nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Doch jetzt...
„ Pastor!“, das Gemüt der Nonne erhellte sich etwas. „ Gut, dass Ihr kommt. Ich glaube, ich habe die Wurzel allen Übels gefunden.“
Sie deutete mit ihrer freien Hand hinter Alice, genau auf die Stelle, an die das Mädchen vorhin einige Worte gerichtet hatte. Direkt auf Cain. Dieser sah die Nonne verwirrt an.
„ Kann sie mich auch sehen?“, fragte er neugierig und ging auf die Frau zu, noch bevor Alice ihm antworten konnte. Er hob die Hand und wedelte damit vor dem Gesicht von Schwester Margaret herum. Doch die schien ihn nicht zu bemerken.
„ Fehlalarm“, Cain stieß einen erleichterten Seufzer aus und kehrte zu Alice zurück.
„ Hab ich einen Schreck bekommen! ... Aber sag' mal, was ist hier eigentlich los?“, er starrte auf die Nonne, die mit dem Pastor sprach, und die ganzen Leute um sie herum.
„ Was ist passiert? Dreht sich die Welt denn so schnell, nur weil ich für einen Moment nicht hinsehe?“
„ Ach, es ist schrecklich!“, entgegnete Alice schluchzend. „ Sie glauben, ich sei besessen oder so etwas und wollen Exorzisten holen!“
„ Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte Cain ungläubig. „ Du kannst nicht besessen sein! Hades bringt jeden eigenhändig um, wenn er sich eines Menschen bemächtigt. Und das macht er nicht gerade schnell und schmerzlos.“
„ Dann erklär ihnen das! Für die bin ich ein Teufel! Oh Cain, hilf mir doch!“
„ Da!“, die Nonne drehte sich plötzlich wieder zu Alice um, als sie Cains Namen vernahm.
„ Ich habe es Euch gesagt! Der Dämon in ihr spricht mit jemanden! ... Und wie es aussieht, ist dieser jemand kein geringerer als Kain selbst!“
„ Oh Gott, Schwester, Ihr habt recht! Ich habe seinen Namen auch vernommen!“, der Pastor schlug sich kreidebleich die Hände vors Gesicht. „ Wahrhaftig! Kain selbst muss den Dämon in dieses Mädchen geschickt haben!“
„ Aber wie sollen wir damit umgehen?“, fragte die Nonne verängstigt. „ Kain ist kein gewöhnlicher Dämon!“
„ Ich fürchte, wir müssen gleich hier einige Exorzismen vornehmen, wenigstens, um die Situation in den Griff zu bekommen. Wir können nicht auf die Hilfe des Papstes warten... Bringt das Mädchen in die Kirche. Ich habe einen Raum, den wir nutzen können...“
„ Nein, nein, lasst mich in Ruhe!“, schrie Alice und zappelte wie wild, um sich der Nonne zu entziehen.
Doch die griff noch stärker zu und Alice glaubte, ihre Knochen würden jeden Moment brechen.
„ Cain! Cain hilf mir doch!“, das Mädchen blickte den Jungen mit trüben Augen an.
Er zögerte einen Moment.
Einen Moment zulange, den kaum hatte Alice seinen Namen ausgesprochen, trat Schwester Margaret zu ihr und ohrfeigte sie kräftigt.
Die Menge zog entsetzt die Luft ein, als der Kopf des Mädchens zur Seite flog und man sah, wie ihr das Blut aus der Nase und dem Mund rann. Es tropfte auf das weiße Kleid und bildete dort große, rote Flecken.
„ Cain... Mach bitte etwas! Egal was, nur irgendetwas...“
„ Irgendetwas ist gut“, meinte der Junge und legte den Kopf schief, so, wie es bei ihm Gewohnheit zu seien schien, dachte er gerade über etwas nach.
„ Sag...“, fragte er dann nach einigen Sekunden. „ Gefällt es dir im Waisenhaus?“
„ Was soll das denn jetzt, Cain?!“, fragte Alice perplex und wurde von Schwester Margaret sofort dafür bestraft. Es knackte, als die Hand der Nonne Alices Gesicht traf. Ob ihre Nase gebrochen war?
„ Beantworte mir einfach die Frage“, entgegnete Cain gelassen.
„ Nein!“, rief Alice und wich gerade noch einmal der Hand der alten Nonne aus. „ Nein! Ich würde alles geben, um von dort wegzukommen! Alles!“
„ Wirklich alles?“, hakte Cain skeptisch nach.
„ Wirklich alles!“, bestätigte Alice aus lauter Verzweiflung heraus.
„ Nun gut... Ich werde dir helfen...“
Cain ging an ihr vorbei und zu Schwester Margaret, die das Mädchen immer noch in eisernem Griff hielt.
Der Junge schnippte mit den Fingern und wie Alice es schon einmal gesehen hatte, erschien plötzlich etwas in seiner Hand. Doch es war kein Pergament, wie letztes Mal.
Sondern ein kleiner Beutel, in den Cain beherzt hinein griff und eine Prise von einem bläulichen Pulver herauszog.
Er hielt es in der Handfläche genau vor das Gesicht der Nonne und blies kräftig. Das Pulver verteilte sich auf dem Gesicht der Schwester, mit der augenblicklich etwas geschah.
Ihre Augen schienen ihr auf einmal furchtbar schwer zu werden. Die Lider fielen ihr zu und wie durch einen Zauber sank die Nonne abrupt zusammen und schlief ein.
Dabei ließ sie natürlich auch von Alice ab.
Diese konnte es gar nicht fassen und vergaß ganz, mit dem Ziehen aufzuhören. Sie geriet aus dem Gleichgewicht und torkelte verwundert zurück über den Bordsteig hinaus. Das Mädchen fing sich erst dort wieder und konnte einen Blick auf die nicht minder erschrockenen Gesichter der Leute und des Pastors erhaschen.
Doch die schienen nur einen Moment ihr zu gelten. Denn kaum wenige Augenblicke später drehten sie all die Köpfe nach rechts und rissen entgeistert die Augen auf.
Alice folgte ihren Blicken. Und konnte selbst nicht anders, als laut zu schreien.
Sie stand mitten auf der Straße und ein Auto kam mit voller Geschwindigkeit auf sie zu. Der Fahrer sah das Mädchen, trat hastig auf die Bremsen und bedeutete dem Kind, zur Seite zu springen.
Doch das brachte Alice aus lauter Schrecken nicht fertig.
Sie schlug schützend die Arme vors Gesicht und kniff die Augen zusammen.
Alles, was sie danach noch hörte, war das Quietschen von Autoreifen und die Schreie der Leute, unter denen sicherlich auch ihre eigenen waren.
Dann fühlte Alice nur noch einen heftigen Schlag, der schlimmer war als alles, was sie bis jetzt von Schwester Margaret hatte einstecken müssen.
Alice
Doch so sehr Alice auch wartete, dieser Cain kam nicht zurück. Die Tage auf dem Dachboden verstrichen langsam und mit jeder Minute schwand ihre Hoffnung.
Langsam dachte sie sogar darüber nach, ob sie nicht doch alles nur geträumt hatte, wie sie es schon einmal angenommen hatte.
Sie dachte darüber nach, Stunde um Stunde. Bis in der Woche von Halloween schließlich eine der Schwestern auf dem Dachboden erschien und Alice verkündete, sie könne wieder vom Speicher herunter.
Schwester Margaret hielte es für angebracht, dass sie zum Pastor in die Sonntagsmesse gingen. Sie solle mitkommen und beichten, weil der Dämon in ihr sie nicht mehr davon abhalten könne.
Das Mädchen hielt diese Vermutung zwar für ausgemachten Unsinn, doch sie folgte der Schwester ohne Murren die Treppen hinab in die Halle.
Wie immer fühlten sich Alices Beine dabei wie betäubt an. Nach dem langen Sitzen am Fensterbrett war das auch nicht verwunderlich.
Unten in der Halle standen schon die anderen Kinder und warfen dem blassen Mädchen, das der Treppe hinunter kam, ängstliche Blicke zu.
Unter Alice Augen hatten sich vom vielen Lesen dunkle Ringe gebildet und an ihren Lippen klebte immer noch ein wenig verkrustetes Blut. Sie bot so sicher nicht gerade einen traumhaften Anblick.
Schwester Margaret begutachtete ihre Erscheinung mürrisch und schüttelte dann den Kopf. So könne man das Kind doch nicht in die Kirche gehen lassen. Sie wies zwei Schwestern an, Alice rasch herzurichten.
Die Zwei taten, wie ihnen geheißen, und führten das Mädchen in einen Nebenraum.
Hastig wuschen sie ihr Gesicht und Hände, steckten sie in ein schlichtes, weißes Kleid und machten ihr noch die Haare zurecht. Dieses Mal blieb jedoch keine Zeit, die vielen Löckchen darin glatt zu kämmen und so steckten die Frauen Alice rasch einen weißen Haarreif auf den Kopf, um die Strähnen zu bändigen.
Nach diesem Rekordakt von nicht einmal zehn Minuten brachten sie Alice schließlich zurück in die Halle.
Schwester Margaret rümpfte über die wild aussehende Lockenpracht auf dem Kopf des Mädchens zwar die Nase, meinte aber, man könne jetzt gehen.
Die Kinder reihten sich auf ihren Geheiß hin in Zweierreihen zusammen und verließen das Haus. Nur Alice musste alleine zwischen den zwei Nonnen, die sie umgezogen hatten, folgen.
Der kleine Tross lief zielgenau über die Straße und um einige Häuserblocks zur Nordseite des nahe liegenden Parkes. Da, wo sich die Kirche des Ortes befand.
Die Leute auf dem Gehweg huschten zur Seite, um den Kindern Platz zumachen. Dabei blieben viele Augen entzückt auf Alice hängen.
Das Mädchen mit dem honigblonden Haar sähe aus wie ein kleiner Engel, meinte eine ältere Frau, die ganz aus dem Häuschen zu sein schien.
Alice wand sich nach ihr um und die Frau winkte ihr freundlich zu. Das Mädchen wollte höflicher Weise zurückwinken, doch eine der Nonnen drückte ihre Hand herunter und drängte sie mit sanfter Gewalt weiter.
Alice wand sich von der Frau ab und sah sich gekränkt die Gegend an.
Es war eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal auf dem Weg zur Kirche gewesen war. Letztes Ostern, so glaubte sie. Dazwischen war sie zu oft auf dem Speicher gewesen und der Pastor war immer zu ihr gekommen.
Wie sehr sich die Straßen doch in so kurzer Zeit verändert hatten...
Der Park zu ihrer rechten bestand nur noch aus knorrigen Bäumen, deren Blütenpracht sich in einzelne, rotbraune Blätter verwandelt hatte.
Laub lag auf den Wegen und wurde über die Bürgersteige geweht. In den Schaufenstern der Geschäfte prangten neue Auslagen. Der Friseur hatte einen frischen Anstrich bekommen und ein Juwelier war in die Stadt gezogen.
Auch ein neuer Konditor hatte sein Geschäft gegenüber der Kirche eröffnet.
Mit prächtigen Pastellfarben hob es sich deutlich von den schlichten Gebäuden herum ab. In der Auslage standen eine Hochzeitstorte, ein Marzipankuchen und eine Schwarzwälder Kirschtorte.
Rundherum noch der eine oder andere Leckerei. Die Blicke der Kinder blieben neugierig an der Scheibe haften. Auch Alice konnte sich nicht von den Süßwaren losreißen. Ihr Bauch hing ihr schon in den Knieskehlen.
Der Konditor, der gerade ein Schild vor dem Laden postierte, meinte zu den Nonnen, wie mager das Kind doch aussähe und bot Alice eine Cremeschnitte an.
Dieses Angebot wurde jedoch von den Nonnen ablehnt, mit der Begründung, dass das Kind keine Milchprodukte vertrage.
Sie schoben das Mädchen hastig weiter über die Straße, damit sie nicht den Anschluss an den restlichen Tross verloren.
Der hatte sich bereits vor der Kirche eingefunden und drängte hinein.
Alice warf einen hasserfüllten Blick auf das Gotteshaus. Es war das einzige Gebäude, das sich keinen Deut verändert hatte.
Die dicken Backsteinmauern waren das Moos und den Efeu immer noch nicht losgeworden. Das große Glasbild über dem Eingang mit der Heiligen Jungfrau Maria und dem kleinen Jesus sah immer noch ein bisschen krumm und schief aus. Die alten Türen waren dieselben und auch die uralten Glocken, die zur Messe riefen, hatten den gleichen, schrecklichen Klang behalten.
Die Kirche war so trostlos wie eh und je.
Alice ließ sich nur widerwillig durch die zwei Türflügel hinein bugsieren. Drinnen war es stickig und noch kälter als draußen. Unzählige Leute hatten sich in der winzigen Kapelle versammelt und die meisten der Bänke waren bereits besetzt.
Für das Waisenhaus wurden jedoch die ersten Reihen rechts unter dem Kirschenschiff frei gehalten. Die Kinder sowie die Nonnen schlängelten sich durch die Menge und ließen sich auf den reservierten Plätzen nieder. Alice hatte das Pech, in der ersten Reihe zu landen.
Zwischen einer äußerst hässlichen Engelsstatur und Schwester Margaret. Diese nahm wohl den meisten Platz auf der Bank ein und ließ Alice gerade einmal genug, um sich schräg an das Ende zu setzen.
Das Mädchen mühte sich, einen möglichst gemütlichen Sitz zu finden, aber nach ein paar kläglichen Versuchen gab Alice es auf.
Mehr als unzufrieden drehte sie schließlich den Kopf zum Altar und sah gelangweilt dabei zu, wie der Pastor in seinem überlangen Gewand vor sein Pult trat. In der Kapelle wurde es augenblicklich still. Alle starrten auf den hageren, großen Mann.
Dieser gab irgendeine Seite im Gesangbuch vor und die ganze Kirche erhob sich zum Singen. Alice hatte kein Buch und Schwester Margaret hielt ihres fiel zu hoch.
Das Mädchen öffnete einfach nur den Mund und bewegte stumm die Lippen, bis der Pastor allen gebot, sich wieder zu setzen.
Er räusperte sich kurz und als das Rascheln und Rutschen der Leute wieder verklungen war, begann er, einen Abschnitt aus der Bibel vorzulesen, den er sich zurecht gelegt hatte. Alice hörte wie immer nur mit einem Ohr zu. Es ging um Adam und Eva und ihre Söhne.
Der eine brachte den anderen aus Eifersucht heraus um. Oder so etwas...
Die Worte des Pastors zogen sich nur schleppen dahin und er sprach so leise, dass nur die halbe Kapelle ihn verstehen konnte. Nur eine Stelle betonte er so stark, dass sogar Alice aufsah.
„ ... Und Gott machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, wer ihn fände...“, sagte der Pastor mit einem Unterton in der Stimme, der andeutete, dass er diesen Zeilen in irgendeiner Weise abgeneigt war. Anscheinend fand er es nicht rechtens, dass dieser Kain am Leben blieb, während sein Bruder tot war.
Cain... Alice dachte sofort wieder an den seltsamen Jungen, der seit heute morgen aus ihren Gedanken verschwunden war. Sein Name klang sehr ähnlich dem aus der Bibel. Ob das wohl Absicht war?
Alice drehte sich nachdenklich zu der Engelsstatur neben ihr um. Ihr Hals war ganz steif uns sie konnte nicht mehr auf den Pastor und den Altar blicken.
Es war viel angenehmer, in die Fratze des Marmordings zu starren (die im übrigen besser aussah, als der Pastor.) Das Mädchen legte den Kopf schief und versuchte die Mimik des Engels zu entschlüsseln.
Das schiefe Grinsen, das man ihm verpasst hatte, machte es nicht einfach. War er traurig oder lachte er? Oder sie?
Man hatte Alice gesagt, Engel seinen androgyn, doch wie sollten sie dann Kinder bekommen? Man brauchte doch einen Mann und eine Frau dazu.
Das stand ja sogar in der Bibel. Mit Adam und Eva.
Der Engel vor dem Mädchen hatte etwas weibliches, so fand sie. Er hatte lange Haare und weiche Gesichtszüge. Außerdem trug er so etwas Ähnliches wie ein Kleid. Und welcher Mann trug schon ein Kleid?
Nachdem diese Frage geklärt war, blickte Alice sich in der Kapelle um.
Hinter ihr waren drei Männer in eine Bibel vertieft und lasen stumm die Worte, die der Pastor vorne sprach. Bis hinten saß ein kleiner Junge, der eingeschlafen zu sein schien.
Eine Frau, die ebenfalls sehr weit hinten saß, sprach gerade aufgeregt mit einer anderen. Alice war also nicht die Einzige, die nicht richtig bei der Sache war.
Auch ein anderes Mädchen in der Mitte suchte die Kapelle ab und ihre Blicke trafen sich zufällig.
Sie warf Alice ein Lächeln zu und drehte sich dann wieder um. Alice ließ ihren Blick weiterwandern. Über die Orgel hinter dem Altar, die kleine Jesusikone, die am Kreuz hing.
Die Decke, an der ein abblätterndes Fresko thronte und auch die oberen Ränge, die heute leer geblieben waren.
Zumindest fast leer.
Ein Junge hockte über ein paar Bänken neben Alice und starrte, die Hände unter dem Kopf verschränkt, auf den Pastor.
Das Mädchen musste einige Male blinzeln, ehe sie sich sicher war, dass sie sich den Jungen nicht nur einbildete. Sie erkannte ihn sofort wieder.
Dasselbe weiße Hemd, die schwarzen Handschuhe und Haare... Die goldenen Augen, in denen sie sich im nächsten Moment spiegelte.
Es war dieser Junge von vor ein paar Tagen. Dieser Cain. Er warf Alice ein Grinsen zu und winkte freudig.
Sie winkte sprachlos zurück und ihr Mund klappte ihr dabei auf. Sie hätte nicht erwartet, ihn doch noch einmal zu sehen. Und vor allem hier. In der Kirche.
„ Alice!“, die scharfe Stimme von Schwester Margaret erklang und Alice drehte sich erschrocken um. Der Pastor hatte aufgehört zu reden und starrte sie missbilligend an. Auch manche der Leute warfen ihr düstere Blicke zu.
Alice bemerkte erst jetzt, dass sie beinahe auf der Bank stand.
Sie hatte sich wohl so zu Cain umgedreht, ohne es zu bemerken. Etwas verlegen wand sie sich wieder von ihm ab und setzte sich unter den wachsamen Augen von Schwester Margaret kerzengerade auf ihren Platz.
Der Pastor nickte stumm und versank abermals in der Bibel.
„ Und das mir das nicht noch einmal passiert!“, warnte Schwester Margaret sie zornig, ehe sie wieder nach vorne sah.
Alice warf ihr einen grimmigen Blick zu, drehte sich dann aber wieder leicht nach hinten.
Das Mädchen suchte die oberen Ränge ab, doch Cain war auf einmal nicht mehr da. Verschwunden, genau wie beim letzten Mal.
„ Pst! Hier drüben!“
Alice fuhr erschrocken auf, als die Stimme des Jungen plötzlich neben ihr ertönte. Cain lehnte auf einmal an dem hässlichen Engel, den sie vorhin gemustert hatte.
Sie wunderte sich, wie er dorthin gelangt war, bis ihr ja wieder einfiel, dass er auch so etwas wie ein Geist war.
„ Na? Du scheinst überrascht, mich zu sehen“, meinte er und seine goldenen Augen blitzten schelmisch auf. „ Habe ich dich erschreckt?“
„ Das kann man wohl sagen“, erwiderte Alice im Flüsterton. Sie wand sich kurz zu Schwester Margaret um, aber die hatte sie Gott sei Dank nicht gehört.
„ Was machst du hier?“
„ Was wohl? Du hast mich doch um etwas gebeten, nicht?“
„ Ja. Aber warum kommst du gerade jetzt?“, zischte sie verärgert und deutete dabei mit einem flüchtigen Blick auf Schwester Margaret.
„ Ich war gerade in der Gegend.“, erwiderte Cain. Das ließ für Alice natürlich nur den Schluss zu, dass hier irgendwo jemand gestorben war. Dieser Gedanke bereitete ihr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
„ Und?“, fragte sie, um es rasch wieder zu verdrängen.
„ Was und?“
„ Na... Was hat er gesagt, dieser Hades?“
„ Oh, eine ganze Menge!“, entgegnete Cain stolz. „ Scheinst etwas ganz besonderes zu sein. Er war total verblüfft über das, was ich ihm von dir erzählt habe. Hat gleich seine ganze Bibliothek auf den Kopf gestellt, um nachzuschlagen, ob so was schon einmal vorgekommen ist. Es wird dich sicher interessieren, was er herausgefunden hat. Komm nach der Messe wieder auf deinen Dachboden, dann können wir reden.“
„ Erzähl's mir doch gleich!“, warf sie drängend und etwas zu laut ein. Schwester Margaret drehte sich zu ihr um, doch Alice tat so, als hätte sie nur laut die Worte des Pastors wiederholt.
Die alte Frau sah sie skeptisch an, schenkte ihre Aufmerksamkeit dann aber wieder der Messe.
Alice atmete erleichtert auf und blickte zurück zu der hässlichen Engelsstatur.
Zu ihrer großen Enttäuschung hatte sich Cain wieder einfach so davon gestohlen. Dabei hatte er doch selbst gesagt, er hätte genug Zeit!
Nun gut, jetzt ließ es sich auch nicht mehr ändern. Sie würde sich wohl gedulden müssen, bis sie wieder im Waisenhaus war und dann...
„ Alice, steh gefälligst auf!“, Schwester Margaret packte Alice grob am Arm und stellte sie auf die Füße. Der Pastor hatte gerade seine Predigt beendet und zum Singen aufgerufen, als Alice sich nach Cain umgesehen hatte. Das Mädchen hatte das gar nicht bemerkt.
Sie sang rasch das Lied – dessen Text sie ausnahmsweise einmal kannte – und wartete ungeduldig darauf, dass es bald endete.
Nach einer unendlich langen Zeit trat dann die ersehnte Ruhe ein und der Messdiener ging mit einem Spendenteller durch die Reihen.
Der Pastor schlug die Bibel auf seinem Altar zu und die ersten Kinder und Nonnen gingen bereits aus der Kirche. Sie mussten keine Spende entrichten, da sie sowieso nicht sehr viel besaßen.
Alice wollte ihnen rasch folgen, doch noch ehe sie einen Schritt gemacht hatte, packte Schwester Margaret sie am Schlafittchen.
„ Du bleibst noch“, sagte sie knapp. „ Du musst noch zu deiner Beichte.“
Dämliche Beichte. Das hatte sie ja völlig vergessen. Alice verfluchte die alte Nonne und den Pastor, der gerade auf sie zukam.
„ Guten Tag Vater“, begrüße Schwester Margaret den Mann und verbeugte sich, was sicherlich graziös aussehen sollte, jedoch mehr den Anschein erweckte, als müsse sie sich plötzlich übergeben.
Dem Pastor schien das allerdings nicht aufzufallen. Er nickte kurz und wand sich dann Alice zu.
Schwester Margaret gab dem Mädchen einen schmerzhaften Stoß und es verbeugte sich ebenfalls vor dem Geistlichen.
„ Und, wie ist es ihr ergangen?“, fragte der Mann die Nonne.
„ Oh, sehr gut“, versicherte diese, woraufhin Alice ihr am liebsten auf den Fuß getreten wäre.
Auf dem Dachboden war es ihr – abgesehen von der Begegnung mit diesem Cain – alles andere als „ sehr gut“ ergangen. Das Mädchen zwang sich jedoch, darüber zu schweigen.
„ Und der Dämon?“, fuhr der Pastor fort, während sich tiefe Sorgenfalten auf seine Stirn legten. „ Ist er noch bei Kräften?“
„ Nein. Ganz sicher nicht. Wir haben getan, was Ihr uns rietet, Vater. Der Dämon ist sicher geschwächt. Ich bringe das Mädchen nur noch zur Beichte, damit er sie mit ihren Sünden verlässt.“
„ Ja, das ist einzig Richtige. Hast du das auch verstanden?“, er blickte kurz auf Alice hinab; mit einem freundlichen Lächeln, das noch gekünstelter nicht hätte aussehen können.
„ Du darfst nichts bei der Beichte verschweigen. Sonst bist du offen für das Böse.“
„ Oh, nein, das würde mir nicht im Traum einfallen...“, murmelte Alice sarkastisch.
„ Was hast du gesagt?“
„ Ach, nichts, Vater“, entgegnete das Mädchen schnell. „ Ich meinte nur, dass Ihr Recht habt.“
„ Gutes Kind“, lobte er. „ Na los, dann komm mit.“
Er nahm Alice bei der Hand und wies Schwester Margaret an, in der Kapelle Platz zu nehmen und auf sie zu warten. Dann führte er das Mädchen in den hinteren Teil der Kirche.
Dieser gefiel Alice noch weniger als das restliche Gebäude.
Die Beichtstube befand sich dort. Zwei kleine, hölzerne Kabinen, die nur durch ein kleines Fenster miteinander verbunden waren. Es stank darin immer fürchterlich nach einem Gemisch aus Parfüm, Zigaretten und Alkohol.
Außerdem war der Weg dorthin mit den unheimlichsten Skulpturen und Bildern versehen.
Einmal tötete der Erzengel Michael auf grausame Weise einen Dämon. Auf einem Ölgemälde sah man den gekreuzigten Jesus Qualen leiden, auf einem anderen eine wirklich unschöne Version des Jüngsten Gerichts.
Alice fröstelte es bei dem Anblick und sie war wie immer etwas froh darüber, als sie den Beichtstuhl endlich erreichten.
Der Pastor drängte sie sofort in den linken Raum und schloss hinter ihr die Tür, ehe er in den rechten ging und sich setzte.
Auch Alice ließ sich auf dem kleinen Holzschemel in der Kabine nieder und musste erst einmal die Luft anhalten. Der Gestank hier drin war noch unerträglicher als sonst. Das rührte sicher daher, dass sie so lange nicht mehr in der Kirche gewesen war.
Trotzdem fand das Mädchen, dass es heute besonders schlimm war.
Das sagte sie dem Pastor, der sogleich das kleine Fenster zwischen den Kabinen aufschob, natürlich nicht.
„ Mein Kind“, begann der Mann, wie er bei jeder dieser Sitzungen. „ Berichte mir von deinen Sünden. Ich werde sehen, ob Gott dir vergeben kann.“
Alice hingen diese Worte zum Hals heraus und sie trieben sie schier zur Weißglut.
Doch sie würde nicht aus der Kabine kommen, würde sie nicht irgendetwas darauf erwidern. Also,... was hatte sie denn schreckliches getan?
„ Nun, Vater“, fing sie vorsichtig an. „ Ich habe letzte Woche gesündigt. Ich habe Elly, einem der Mädchen, den Kamm weggenommen und wollte ihn nicht wieder hergeben.“
Ja, das war eine gute Story.
Nicht zu hart oder unglaubwürdig. Das sollte den Pastor zufrieden stellen.
Der Mann in der anderen Kabine schüttelte jedoch nur den Kopf und seufzte beklommen.
„ Mein liebes Kind“, sprach er mahnend. „ Ich kann dir nur helfen, wenn du mir die Wahrheit nicht verschweigst.“
„ Aber das ist doch die Wahrheit!“, stammelte Alice verblüfft. Was war nur mit dem Pastor los?
Was störte ihn an dieser Geschichte? Sonst schluckte er doch auch die erfundenen Untaten von ihr und den anderen Kindern.
„ Nein, das kann nicht die Wahrheit sein.“, warf der Pastor ein. „ Ein Dämon hat von dir Besitz ergriffen. Also musst du eine sehr große Sünde begangen haben. Also, was hast du getan?“
„ Aber ich sagte doch schon...“
„ Das ist eine viel zu leichte Sünde. Du verschweigst mir etwas.“
Alice wollte ihren Ohren nicht trauen. Eine „ zu leichte“ Sünde? Was sollte sie sich den noch aus den Fingern saugen? Vor allem etwas, bei der sie eine noch härtere Bestrafung erwartete?
Nein, ohne sie.
Das Mädchen verschränkte selbstsicher die Arme.
„ Tut mir leid, Vater“, sagte sie störrisch. „ Aber das war meine einzige Sünde. Ich habe ansonsten nichts gemacht.“
„ Du lügst schon wieder...“
„ Nein, ganz sicher nicht!“, beharrte sie.
Der Pastor atmete schwer ein.
„ Jetzt hör mir einmal gut zu, Mädchen“, seine Worte waren hart und nicht mehr so ruhig wie vorhin. „ Du musst etwas Schreckliches getan haben, das steht außer Frage. Schließlich hat ein Dämon von dir Besitz ergriffen. Würdest du mir also bitte sagen, was du getan hast, damit ich dir deine Buße nennen und du deine Sünden begleichen kannst?“
„ Ich denke nicht daran, für Sie einen so großen Blödsinn zu erfinden.“, rief Alice in nicht minder gereiztem Ton. „ Ich habe mich nichts schuldig gemacht. Und wenn Sie das glauben, dann hat Ihr Gott Ihnen wohl einen ziemlich dämlichen Floh ins Ohr gesetzt.“
So, jetzt war es raus. Alice hatte ihrer Wut einmal Platz verschafft.
Komisch, wie gut sich das anfühlte. Sie hätte sofort damit weitermachen und dem Pastor sicher noch paar Takte mehr sagen können. Doch dieser hinderte sie daran.
Nach einer beschämenden Pause klappte er das kleine Trennfenster des Beichtstuhles wieder zu und ging aus der Kabine.
Alice hörte wie er zu ihrer Tür ging. Der Mann riss sie auf und packte das Mädchen noch grober am Handgelenk als Schwester Margaret.
Er zog sie heraus, was sich, sosehr Alice sich auch werte, nicht verhindern ließ.
Der Griff des Pastors war fest und drückte schmerzhaft ihre Knochen zusammen.
„ Lassen Sie mich los!“, schrie Alice zornig, doch der Pastor schien nicht einmal im Traum daran zu denken. Er drückte fester zu und schleifte Alice an den unheimlichen Skulpturen und Ölgemälden vorbei zurück in die Kapelle. Dort saß, wie man sie angewiesen hatte, immer noch Schwester Margaret und vertrieb sich die Zeit damit, in der Bibel zu lesen.
Als sie den Pastor kommen sah, legte sie das Buch jedoch schleunigst zur Seite und erhob sich von der Bank.
„ Das ging aber schnell, Vater...“, setzte die Nonne erfreut an, vollendete den Satz aber nicht, als sie die dunkle Miene des Pastors sah.
Der Mann hielt vor ihr an und zog Alice neben sich, die mit seinem Schritt nicht wirklich mithalten konnte.
„ Liebe Schwester, ich glaube, es ist schlimmer, als wir annahmen“, eröffnete er mit düsterer Stimme.
„ Der Dämon ist stark und hat sich durch die Maßnahmen, die wir ergriffen, nicht beirren lassen.“
Die Nonne wurde aschfahl im Gesicht und ihr Mund kräuselte sich erschrocken. Sie zog ihr Kreuz aus dem Gewand und schickte ein stummes Gebet zum Himmel.
„ Das wird wohl nicht viel nutzen“, sagte der Pastor schweren Herzens und Schwester Margaret hielt entgeistert inne.
„ Aber... warum?“
„ Der Dämon ist zu mächtig. Er hat sich den Körper des Mädchens bereits zu Eigen gemacht, um sie daran zu hindern, ihre Sünden zu gestehen!“
„ Das ist ja schrecklich!“, stieß die Nonne aus. „ Vater, was bleibt uns in solch einem Fall zu tun?“
„ Ich fürchte, wir müssen uns an wahrhafte Exorzisten wenden. Ich kenne mich auf dem Gebiet leider nicht so gut aus, um diesen Dämon zu vertreiben... Ich werde gleich morgen eine Nachricht an den Vatikan schicken, damit man uns Hilfe entsendet.“
„ So schlimm ist es also...“, stellte Schwester Margaret fest und sah erschütternd auf Alice hinab.
Das Mädchen konnte ihr und dem Pastor nur einen verständnislosen Blick zuwerfen.
Was glaubten die Beiden bloß? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein, dass sie Exorzisten aus dem Vatikan holen wollten. Was für ein Schwachsinn.
„ Ich glaube, Sie beide übertreiben etwas“, warf Alice ein. Ihr dämmerte, dass die Sache kein gutes Ende nehmen würde, wenn sie sich nicht schleunigst aufklärte.
„ Ich bin nicht von einem Dämon besessen. Ich habe den Pastor vorhin mit Absicht beleidigt.“
„ Du!“, schrie Schwester Margaret erbost und packte die Schultern des Kindes, um es kräftig zu schütteln.
„ Du Dämon, was hast du bloß mit dem Mädchen angestellt? Ich weiß, ihr Inneres ist nicht das Reinste, aber das gibt dir keinen Grund, sich ihrer zu bemächtigen.“
„ Schwester Margaret, Sie tun mir weh!“, rief Alice und versuchte, sich der Frau zu entziehen.
Diese ließ jedoch erst von ihr ab, als der Pastor sie von Alice löste.
„ Das bringt nichts, Schwester“, versuchte er der Nonne klar zu machen. „ Da braucht es stärkere Methoden, wie schon gesagt. Man wird ihr Zimmer mit Kreuzen aushängen und mit Weihwasser segnen, damit der Dämon nicht entkommen kann. Und dann wird er ausgetrieben und vernichtet. Es wird eine schreckliche Prozedur werden, aber dann ist das Kind gerettet...“
„ Das ist langsam nicht mehr komisch!“, unterbrach Alice den Pastor. „ Es gibt keinen Dämon! Vielleicht in ihrer Fantasie, aber das geht mich herzlich wenig an! Lassen Sie mich endlich los!“
„ Schweig, Dämon!“, befahl der Pastor gebieterisch. „ Du kannst deiner gerechten Strafe nicht entkommen!“
„ Das werden wir ja noch sehen!“, schrie Alice, der es nun endgültig reichte.
Sie wollte nicht zu irgendwelchen Exorzisten und irgendeinen Hokuspokus über sich ergehen lassen. Sie musste sofort weg von hier!
Das Mädchen spuckte dem Pastor wütend ins Gesicht und trat ihn mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, auf den Fuß. Der Mann schrie vor Schmerz und lockerte wie beabsichtigt seinen Griff.
Alice zog ihre Arme aus seiner Hand und rannte los, ehe Schwester Margaret oder der Pastor irgendetwas dagegen unternehmen konnten.
Die Leute, die noch in der Kirche waren, sahen dem Spektakel teils erstaunt, teils erschrocken zu. Doch keiner maß es sich an das Mädchen, das da durch die Bankreihen rannte, aufzuhalten.
Nur Schwester Margaret, der es noch ein paar Sekunden gelang, zu reagieren, setzte Alice schließlich nach. Auch wenn sie nicht gerade die Zierlichste war, so war sie dabei unheimlich schnell.
Alice war in der Mitte der Kapelle, da hatte die alte Nonne sie auch schon fast eingeholt.
Das Mädchen legte einen Schritt zu, sosehr, wie es das unpraktische Kleid an ihr eben zuließ, und stürzte aus der Kirche.
Die Passanten draußen auf der Straße warfen ihr verblüffte Blicke zu und noch verblüffter sahen sie drein, als Schwester Margaret im nächsten Moment erschien.
Sie blieben stehen und sahen zu, wie die Nonne die Hand nach dem Mädchen ausstreckte und es schließlich zu packen bekam, ehe es an die Straße gelangte.
Alice versuchte verzweifelt, sich loszureißen, doch es war vergebens.
Schwester Margaret war um einiges kräftiger als sie. Besonders jetzt, da sie wütend war. Man sah das eindeutig an ihrem violetten Gesicht, das in ein sattes Rot überging.
Alice hatte eine solche Farbe bei der alten Frau zwar noch nie gesehen, war sich aber sicher, dass sie nichts Gutes verheißen konnte.
Was die Nonne das Mädchen auch deutlich spüren ließ. Sie drückte erbarmungslos das dünne Handgelenk und versuchte, das Kind in die Kirche zurückzuziehen.
„ Lassen Sie mich doch los! Ich habe nichts getan!“, rief Alice so laut, dass es jeder hören konnte. Die kleine Menge, die sich um sie versammelt hatte, tuschelte aufgebracht.
Doch die Nonne zog unerbittlich weiter und achtete nicht auf die Worte des Mädchens.
Sie murmelte nur andauernd ihre Gebete und stieß allerhand Verwünschungen gegen den Teufel und den Dämon, der Alice angeblich besaß, aus.
„ Hilfe! Helft mir doch!“, schrie Alice verzweifelt und wand sich zu der Menge um. Alle sahen sie schockiert an, doch keiner wollte es wagen, sich der Nonne in den Weg zu stellen.
Das Mädchen brach in Tränen aus, als sie merkte, dass sich keiner wirklich für sie interessierte. Die Leute sahen in dem Aufruhr wohl nur eine spannende Geschichte.
Alice spührte, wie ihre Füße sie nicht mehr auf der Stelle hielten und Schwester Margaret die Oberhand gewann. Sie weinte noch bitterliche und rief noch verzweifelter nach Hilfe.
Sie suchte die Menge nach jemanden ab, den sie kannte und der sie erhören würde. Doch selbst der Konditor von vorhin konnte ihr nicht mehr schenken, als einen mitleidigen Blick.
„ Brauchst du Hilfe?“
Alice glaubte, sich verhört zu haben. Sie drehte sich hoffnungsvoll um, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Und sah dabei in ein vertrautes Gesicht.
„ Cain!“, rief sie freudig, als sie den Jungen erspähte. Er stand wie durch ein Wunder plötzlich zwischen den anderen Leuten. Anscheinend war er doch nicht so einfach verschwunden, wie sie gedacht hatte.
„ Cain, oh gut, dass du da bist!“
Schwester Margaret hielt abrupt inne, als sie diese Worte vernahm. Sie drehte sich zu Alice um und sah ihr dabei zu, wie sie mit der Luft hinter sich sprach.
„ Kain?“, wiederholte sie in der dunkelsten Stimme, die das Mädchen je bei ihr gehört hatte.
Sie wollte wohl noch etwas hinzufügen, doch der Pastor, der gerade aus der Kirche kam, hielt sie davon ab.
„ Oh, Schwester, ihr habt den Dämon aufgehalten, Gott sei Dank!“, entgegnete er erfreut, während er die Stufen hinunter humpelte.
Die Menge rundherum starrte ungläubig auf ihn und dann wieder auf Alice. Dämon? Bis jetzt hatten sie einfach nur geglaubt, das Mädchen hätte sich in der Kirche einen üblen Streich erlaubt und wolle nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Doch jetzt...
„ Pastor!“, das Gemüt der Nonne erhellte sich etwas. „ Gut, dass Ihr kommt. Ich glaube, ich habe die Wurzel allen Übels gefunden.“
Sie deutete mit ihrer freien Hand hinter Alice, genau auf die Stelle, an die das Mädchen vorhin einige Worte gerichtet hatte. Direkt auf Cain. Dieser sah die Nonne verwirrt an.
„ Kann sie mich auch sehen?“, fragte er neugierig und ging auf die Frau zu, noch bevor Alice ihm antworten konnte. Er hob die Hand und wedelte damit vor dem Gesicht von Schwester Margaret herum. Doch die schien ihn nicht zu bemerken.
„ Fehlalarm“, Cain stieß einen erleichterten Seufzer aus und kehrte zu Alice zurück.
„ Hab ich einen Schreck bekommen! ... Aber sag' mal, was ist hier eigentlich los?“, er starrte auf die Nonne, die mit dem Pastor sprach, und die ganzen Leute um sie herum.
„ Was ist passiert? Dreht sich die Welt denn so schnell, nur weil ich für einen Moment nicht hinsehe?“
„ Ach, es ist schrecklich!“, entgegnete Alice schluchzend. „ Sie glauben, ich sei besessen oder so etwas und wollen Exorzisten holen!“
„ Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte Cain ungläubig. „ Du kannst nicht besessen sein! Hades bringt jeden eigenhändig um, wenn er sich eines Menschen bemächtigt. Und das macht er nicht gerade schnell und schmerzlos.“
„ Dann erklär ihnen das! Für die bin ich ein Teufel! Oh Cain, hilf mir doch!“
„ Da!“, die Nonne drehte sich plötzlich wieder zu Alice um, als sie Cains Namen vernahm.
„ Ich habe es Euch gesagt! Der Dämon in ihr spricht mit jemanden! ... Und wie es aussieht, ist dieser jemand kein geringerer als Kain selbst!“
„ Oh Gott, Schwester, Ihr habt recht! Ich habe seinen Namen auch vernommen!“, der Pastor schlug sich kreidebleich die Hände vors Gesicht. „ Wahrhaftig! Kain selbst muss den Dämon in dieses Mädchen geschickt haben!“
„ Aber wie sollen wir damit umgehen?“, fragte die Nonne verängstigt. „ Kain ist kein gewöhnlicher Dämon!“
„ Ich fürchte, wir müssen gleich hier einige Exorzismen vornehmen, wenigstens, um die Situation in den Griff zu bekommen. Wir können nicht auf die Hilfe des Papstes warten... Bringt das Mädchen in die Kirche. Ich habe einen Raum, den wir nutzen können...“
„ Nein, nein, lasst mich in Ruhe!“, schrie Alice und zappelte wie wild, um sich der Nonne zu entziehen.
Doch die griff noch stärker zu und Alice glaubte, ihre Knochen würden jeden Moment brechen.
„ Cain! Cain hilf mir doch!“, das Mädchen blickte den Jungen mit trüben Augen an.
Er zögerte einen Moment.
Einen Moment zulange, den kaum hatte Alice seinen Namen ausgesprochen, trat Schwester Margaret zu ihr und ohrfeigte sie kräftigt.
Die Menge zog entsetzt die Luft ein, als der Kopf des Mädchens zur Seite flog und man sah, wie ihr das Blut aus der Nase und dem Mund rann. Es tropfte auf das weiße Kleid und bildete dort große, rote Flecken.
„ Cain... Mach bitte etwas! Egal was, nur irgendetwas...“
„ Irgendetwas ist gut“, meinte der Junge und legte den Kopf schief, so, wie es bei ihm Gewohnheit zu seien schien, dachte er gerade über etwas nach.
„ Sag...“, fragte er dann nach einigen Sekunden. „ Gefällt es dir im Waisenhaus?“
„ Was soll das denn jetzt, Cain?!“, fragte Alice perplex und wurde von Schwester Margaret sofort dafür bestraft. Es knackte, als die Hand der Nonne Alices Gesicht traf. Ob ihre Nase gebrochen war?
„ Beantworte mir einfach die Frage“, entgegnete Cain gelassen.
„ Nein!“, rief Alice und wich gerade noch einmal der Hand der alten Nonne aus. „ Nein! Ich würde alles geben, um von dort wegzukommen! Alles!“
„ Wirklich alles?“, hakte Cain skeptisch nach.
„ Wirklich alles!“, bestätigte Alice aus lauter Verzweiflung heraus.
„ Nun gut... Ich werde dir helfen...“
Cain ging an ihr vorbei und zu Schwester Margaret, die das Mädchen immer noch in eisernem Griff hielt.
Der Junge schnippte mit den Fingern und wie Alice es schon einmal gesehen hatte, erschien plötzlich etwas in seiner Hand. Doch es war kein Pergament, wie letztes Mal.
Sondern ein kleiner Beutel, in den Cain beherzt hinein griff und eine Prise von einem bläulichen Pulver herauszog.
Er hielt es in der Handfläche genau vor das Gesicht der Nonne und blies kräftig. Das Pulver verteilte sich auf dem Gesicht der Schwester, mit der augenblicklich etwas geschah.
Ihre Augen schienen ihr auf einmal furchtbar schwer zu werden. Die Lider fielen ihr zu und wie durch einen Zauber sank die Nonne abrupt zusammen und schlief ein.
Dabei ließ sie natürlich auch von Alice ab.
Diese konnte es gar nicht fassen und vergaß ganz, mit dem Ziehen aufzuhören. Sie geriet aus dem Gleichgewicht und torkelte verwundert zurück über den Bordsteig hinaus. Das Mädchen fing sich erst dort wieder und konnte einen Blick auf die nicht minder erschrockenen Gesichter der Leute und des Pastors erhaschen.
Doch die schienen nur einen Moment ihr zu gelten. Denn kaum wenige Augenblicke später drehten sie all die Köpfe nach rechts und rissen entgeistert die Augen auf.
Alice folgte ihren Blicken. Und konnte selbst nicht anders, als laut zu schreien.
Sie stand mitten auf der Straße und ein Auto kam mit voller Geschwindigkeit auf sie zu. Der Fahrer sah das Mädchen, trat hastig auf die Bremsen und bedeutete dem Kind, zur Seite zu springen.
Doch das brachte Alice aus lauter Schrecken nicht fertig.
Sie schlug schützend die Arme vors Gesicht und kniff die Augen zusammen.
Alles, was sie danach noch hörte, war das Quietschen von Autoreifen und die Schreie der Leute, unter denen sicherlich auch ihre eigenen waren.
Dann fühlte Alice nur noch einen heftigen Schlag, der schlimmer war als alles, was sie bis jetzt von Schwester Margaret hatte einstecken müssen.
Alice