Allein...erziehend...gelassen

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HajoBe

Mitglied
Krachend fällt die Tür ins Schloss. Die Mutter lässt die schwere Einkaufstasche zu Boden sinken, wirft den Mantel über den Garderobenhaken.
"Na Lisa, ist die Oma schon lange weg?"
Das Kind rennt auf sie zu, klammert die Arme um den Bauch der Mutter, schmiegt sich eng an sie und verharrt als wolle es nie mehr loslassen.
"Nu warte doch erst mal...! Ich mache mir einen Kaffee..."
Das Mädchen lässt Kopf und Arme sinken.
Sie räumt das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und betätigt den Knopf des Kaffeeautomaten.
"Hat Oma dir was zu essen gemacht?"
Lisa ist ins Wohnzimmer gerannt. Der Fernseher flimmert und verstrahlt dämliche Werbung.
Auf dem Tisch die Reste ketchup-vermatschter Spaghetti.
"Oma hat gesagt, dass sie nicht mehr jeden Tag kommen wird..., der Opa will das nicht."
Die Kaffeetasse verströmt würzigen Duft in den miefigen Raum. Die Mutter betätigt den "Aus"-Knopf am Fernseher.
"Hast du denn mit Oma ferngesehen?"
"Oma hat den Apparat angemacht und gesagt, sie muss jetzt gehen..."
Die Mutter hat das Fenster geöffnet, feucht-frische Luft dringt aus regnerischem Vorabend ins Zimmer.
Das Kind rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her, zupft nervös an der Tischdecke.
"Und was kam im Fernsehen?"...fragt die Mutter.
"Ich glaube, das war was Schlimmes...?"
Die Mutter ist wieder in der Küche verschwunden, das Mädchen fingert an seinen Zöpfen herum.
"Erzähl` mal!"....Sie lässt sich mit einer Zigarette gedankenverloren neben der Tochter nieder.
"Weißt du, ich bin noch garnicht wieder richtig da...war ein anstrengender Tag."
Sie nimmt einen tiefen Zug und nippt an der Tasse.
"Also, was war da im Fernsehen?"
Das Kind windet seine ineinander verschränkten Finger.
"Da war ein Mann, der hat eine Frau geküsst. Die war fast nackt. Dann haben sie gestritten und laut geschrien."
"Und weiter...!" meint die Mutter und geht zurück in die Küche.
"Ich habe Angst..." ruft Lisa ihr nach.
"Nun red` mal weiter!"
Die Mutter legt lässig einen Arm um die Tochter...
"Der Mann hat seine Hände um den Hals von der Frau gelegt und fest zugedrückt...Sie hat dann die Zunge rausgestreckt...Vielleicht wollte sie ihn ärgern. Aber dann kam Blut aus dem Mund..."
Das Kind schmiegt seinen Kopf verstört in den Schoß der Mutter und umklammert ihre Schenkel.
"Ich glaube, er hat die Frau tot gemacht..." murmelt es.
Die Mutter streichelt über den zitternden Rücken der Kleinen.
"Ich habe dir doch immer gesagt, du darfst nur fernsehen, wenn Erwachsene dabei sind..."
"Aber die Oma ist gegangen und hat nicht ausgeschaltet..."
Lisa schluchzt und wischt mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.
"Willst du ein paar Kekse, Lisa?"
Die schüttelt heftig den Kopf.
"Weißt du was? Heute abend vor dem Schafengehen lese ich dir eine richtig schöne Geschichte vor."
"Eine ganz lustige...?"
"Ja Lisa, und jetzt geh` und spiel`noch ein bisschen...!"

Am Abend...

Lisa hat sich im Bett in die Kissen gekuschelt. Die Mutter sitzt auf der Bettkante - wie auf dem Sprung.
Sie schlägt das Märchenbuch auf und erzählt hastig von Hänsel und Gretel, wie sie einsam und verlassen durch den Wald irren, hungrig sind, vom Hexenhaus naschen, Hänsel eingesperrt wird, geschlachtet werden soll und jeden Tag auf seine Schlachtreife überprüft wird und beide vor Todesangst fast verrückt werden ihre schützenden Eltern herbeisehnend...schließlich die Hexe bei lebendigem Leib verbrennen.
Die Mutter bemerkt nicht wie Lisa sich das Kopfkissen gegen beide Ohren presst.
"So, meine Kleine, nun schlaf gut! Mama ist auch müde und muss morgen früh raus. Ich rufe Oma noch an..."
Sie löscht das Licht, schließt die Tür und wendet sich dem Fernsehen zu. Es gibt "Tatort".

Später schaut sie nochmal ins Kinderzimmer. Lisa liegt mit weit geöffneten Augen und starrt an die Decke, glänzende Schweißperlen auf der Stirn.
"Ich habe solche Angst, Mama..."
"Ich mache dir noch eine heiße Milch mit Honig. Dann kannst du besser schlafen."
"Ich will nicht schlafen...dann kommen immer diese schrecklichen Bilder..."
Sie trinkt die Milch in einem einzigen Zug.
"So, nun mach` die Augen zu! Ich lasse das Licht noch ein bisschen an...Gute Nacht"...und wischt über die feuchte Stirn des Kindes.
"Kannst du morgen zuhause bleiben...?"
Die Mutter hat den Raum schon verlassen.


Einige Tage darnach...

Eine Nachbarin trifft die Mutter.
"Wird denn Lisa nun eingeschult?"
"Erst im nächsten Jahr. Der Schularzt hat eine kinderpsychologische Therapie empfohlen. Sie hat immer so Angst, wissen Sie...?"
Wendet sich ab.
"Muss schnell los. Die Arbeit macht sich nicht von alleine.
Und die Oma kann heute auch nicht kommen...."
 

Joneda

Mitglied
ich habe einmal gehört,
dass Kinder schon durch ein kleines Ereignis
aus ihrer Bahn geworfen werden können,
deshalb ist dieses Szenario
nicht abwegig,
im Gegenteil
unterstützt durch die Außenumstände
summiert es sich zu einem unüberbrückbarem Hindernis
für das Kind.

Könnte man in Seelen schauen,
würde man vielleicht auch bei der Mutter
solch ein Ereignis finden,
aus der Bahn geworfen.

Letztendlich ist dort ein weiter Raum
zwischen Mutter und Kind,
den Du aufgezeigt hast.

Die Abgestumpftheit kann auch nicht durch die Qual des Kindes
unterbrochen werden,
Gefühle sind eingekerkert und keine Hand, die sich ausstreckt
und hilft.

Übrigens ist es in Deutschland verboten Kinder in diesem Alter
längere Zeit alleine zu lassen, nicht ohne Grund.

LG
 

Hagen

Mitglied
Hallo Hans-Joachim,
das war ein zwar nicht schöner, aber guter Text!
Mir ging's ähnlich, nur handelte es sich um den 'Struwelpeter'
in dem die Jungs bei lebendigem Lebe durch die Mühle gedreht wurden, die Daumen abgeschnitten etc.
Noch in der Schule bin ich 'mit Deutschlands größtem Komiker'
konfrontiert worden, eben so mit Till Eulenspiegel, den meine Lehrerin so sehr liebte, obwohl er immmer irgendwas verdorben oder kaputt gemacht hat.
Du hast jedenfalls diese ganze Scheißszene gut auf den Punkt gebracht.
Weiter so!

Beste Grüße
Hagen
 
U

USch

Gast
Hallo HaJoBe,

ich finde auch, dass du die Szene gut auf den Punkt gebracht hast. Und dann noch die Mutter, die zum Schluss noch mit Hänsel und Gretel die Angst des Kindes steigert und das Elend steigert.

LG USch
 



 
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