Die Vorstellung sollte jeden Moment beginnen. Mehr als hundert Eltern saßen auf den Stühlen, die im Schulfoyer vor der provisorischen Bühne aufgebaut waren. Seit Tagen hatte meine Tochter der Aufführung entgegengefiebert, sich ihren Text endlose Male abfragen lassen und das Kostüm wieder und wieder anprobiert. Wahrscheinlich war ihr jetzt in der Garderobe schlecht vor Aufregung.
Plötzlich bemerkte ich, daß ich anscheinend der einzige Vater ohne Videokamera am Handgelenk war. Alle anderen schienen pflichtbewußt an die Verewigung des großen Moments für die Nachwelt gedacht zu haben. Während ungefähr vierzig oder fünfzig Videokameras auf Anschlag gingen, entdeckte ich mit einem Anflug schlechten Gewissens plötzlich Jürgen am linken Ende meiner Stuhlreihe. Seine Tochter Cora und meine waren befreundet.
Jürgen machte sich an einem Stativ zu schaffen, auf das er eine kleine, silberne Kamera montiert hatte. Als es plötzlich dunkel wurde, schaltete er sie ein – vorne brannte ein rotes Licht - und verließ den Zuschauerraum in Richtung Schulhof.
In der Pause traf ich ihn an der Getränketheke und fragte, warum er denn hinausgegangen sei. Er antwortete, daß er noch eine zweite Kamera auf der anderen Seite postiert habe. Beide Filme würde er dann – mit interessanten Perspektivwechseln – zusammenschneiden. Dabei würde er sich das Stück noch oft genug anschauen und habe jetzt ruhig rausgehen, in Ruhe eine Zigarette rauchen und die frische Luft genießen können.
Nach dieser Erklärung war die Frage, ob er das hobbymäßig betreibe, eigentlich überflüssig – schien ihm aber das richtige Stichwort zu liefern. Jürgen geriet richtig in Fahrt. Schon vor ein paar Jahren, erzählte er mir, hätte er mit Video 8 gefilmt. Ungefähr hundertzwanzig Kassetten habe er aus dieser Zeit – mehr als zweihundert Stunden Originalmaterial. Jetzt sei er gerade dabei, das unhandliche Format zu digitalisieren und auf CD-ROM zu archivieren. Seitdem er auf einen digitalen Camcorder gewechselt sei, wäre Speicherkapazität ohnehin kein Thema mehr. Coras Geburtstage, jedes Weihnachtsgedicht, jede Reaktion auf ein überraschendes Geschenk, jedes neu eingespielte Stück auf dem Klavier, jede Veränderung ihres Zimmers oder der Catwalk durch das Wohnzimmer mit neuem Top oder Sweatshirt – alles werde für die Nachwelt festgehalten.
Wann er sich diese Filme denn ansehe, wollte ich wissen – außer beim Schneiden?
Jetzt seien die Filme vielleicht noch nicht so interessant, gab er zu, aber da müsse man langfristig denken. Wenn Cora erst mal ihren eigenen Kindern oder sogar Enkeln ihre Freude über den neuen Bikini, ihr Meerschweinchen oder den Besuch im Streichelzoo im Original zeigen könne, würde sich der wahre Wert der Aufnahmen erweisen. Sie würde da mal über Möglichkeiten verfügen, von denen wir nicht zu träumen wagten.
Ich dachte an die wenigen Fotoalben, teils noch mit verwackelten Schwarz-Weiß-Schnappschüssen einer billigen Cassetten-Kamera, die ich zu meiner Kommunion geschenkt bekommen hatte, und mit deren Hilfe ich dann und wann versuche, meinem Nachwuchs einen verwackelten Eindruck meiner eigenen Kindheit zu vermitteln.
„Die Cora“, sagte Jürgen - und sein Gesicht nahm einen schwärmerischen Ausdruck an - „die kann ihren Kindern oder Enkeln später alles so zeigen, als seien sie selbst dabeigewesen.“
„Wir haben sogar“ - und jetzt rückte er ein wenig näher an mich heran - „ihre komplette Geburt auf Video. Sieben Stunden. Zwei Kameras hatte ich dabei, mußte im Kreißsaal eine Steckdose suchen, um den Akku immer wieder aufzuladen und einmal hat die Hebamme das Stativ umgerannt. Als Coras Köpfchen rauskam, habe ich das mit Makro gefilmt und nachher am Schneidetisch das ganze im Zeitraffer abgespielt, damit es nicht so langweilig ist.“
Ich war beeindruckt und bekam erneut ein schlechtes Gewissen, solch unvergessliche Momente für meine Kinder nicht digital festgehalten zu haben.
Mein anerkennendes Kopfnicken muß Jürgen noch weiter ermuntert haben.
„Ganz im Vertrauen“, sagte er, jetzt etwas leiser als zuvor. „Wir haben nicht nur ihre Geburt auf Video.“
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen.
„Wie, ihr habt...?“ fragte ich, als er mir schon ins Wort fiel.
„Genau,“ flüsterte er. „Cora ist ein Wunschkind. Exakt geplant. Wir wußten auf den Tag genau, wann es passieren muß. Und da habe ich nichts dem Zufall überlassen. Scheinwerfer, Zoom mit Fernbedienung, war alles da. Kriegt sie zum achtzehnten Geburtstag.“
Da läutete es zum Ende der Pause, der Saal verdunkelte sich – nur vom Glimmen zahlreicher roter LED´s durchbrochen – und ich hatte wieder dieses Gefühl, kein Kind dieser Zeit zu sein.
Plötzlich bemerkte ich, daß ich anscheinend der einzige Vater ohne Videokamera am Handgelenk war. Alle anderen schienen pflichtbewußt an die Verewigung des großen Moments für die Nachwelt gedacht zu haben. Während ungefähr vierzig oder fünfzig Videokameras auf Anschlag gingen, entdeckte ich mit einem Anflug schlechten Gewissens plötzlich Jürgen am linken Ende meiner Stuhlreihe. Seine Tochter Cora und meine waren befreundet.
Jürgen machte sich an einem Stativ zu schaffen, auf das er eine kleine, silberne Kamera montiert hatte. Als es plötzlich dunkel wurde, schaltete er sie ein – vorne brannte ein rotes Licht - und verließ den Zuschauerraum in Richtung Schulhof.
In der Pause traf ich ihn an der Getränketheke und fragte, warum er denn hinausgegangen sei. Er antwortete, daß er noch eine zweite Kamera auf der anderen Seite postiert habe. Beide Filme würde er dann – mit interessanten Perspektivwechseln – zusammenschneiden. Dabei würde er sich das Stück noch oft genug anschauen und habe jetzt ruhig rausgehen, in Ruhe eine Zigarette rauchen und die frische Luft genießen können.
Nach dieser Erklärung war die Frage, ob er das hobbymäßig betreibe, eigentlich überflüssig – schien ihm aber das richtige Stichwort zu liefern. Jürgen geriet richtig in Fahrt. Schon vor ein paar Jahren, erzählte er mir, hätte er mit Video 8 gefilmt. Ungefähr hundertzwanzig Kassetten habe er aus dieser Zeit – mehr als zweihundert Stunden Originalmaterial. Jetzt sei er gerade dabei, das unhandliche Format zu digitalisieren und auf CD-ROM zu archivieren. Seitdem er auf einen digitalen Camcorder gewechselt sei, wäre Speicherkapazität ohnehin kein Thema mehr. Coras Geburtstage, jedes Weihnachtsgedicht, jede Reaktion auf ein überraschendes Geschenk, jedes neu eingespielte Stück auf dem Klavier, jede Veränderung ihres Zimmers oder der Catwalk durch das Wohnzimmer mit neuem Top oder Sweatshirt – alles werde für die Nachwelt festgehalten.
Wann er sich diese Filme denn ansehe, wollte ich wissen – außer beim Schneiden?
Jetzt seien die Filme vielleicht noch nicht so interessant, gab er zu, aber da müsse man langfristig denken. Wenn Cora erst mal ihren eigenen Kindern oder sogar Enkeln ihre Freude über den neuen Bikini, ihr Meerschweinchen oder den Besuch im Streichelzoo im Original zeigen könne, würde sich der wahre Wert der Aufnahmen erweisen. Sie würde da mal über Möglichkeiten verfügen, von denen wir nicht zu träumen wagten.
Ich dachte an die wenigen Fotoalben, teils noch mit verwackelten Schwarz-Weiß-Schnappschüssen einer billigen Cassetten-Kamera, die ich zu meiner Kommunion geschenkt bekommen hatte, und mit deren Hilfe ich dann und wann versuche, meinem Nachwuchs einen verwackelten Eindruck meiner eigenen Kindheit zu vermitteln.
„Die Cora“, sagte Jürgen - und sein Gesicht nahm einen schwärmerischen Ausdruck an - „die kann ihren Kindern oder Enkeln später alles so zeigen, als seien sie selbst dabeigewesen.“
„Wir haben sogar“ - und jetzt rückte er ein wenig näher an mich heran - „ihre komplette Geburt auf Video. Sieben Stunden. Zwei Kameras hatte ich dabei, mußte im Kreißsaal eine Steckdose suchen, um den Akku immer wieder aufzuladen und einmal hat die Hebamme das Stativ umgerannt. Als Coras Köpfchen rauskam, habe ich das mit Makro gefilmt und nachher am Schneidetisch das ganze im Zeitraffer abgespielt, damit es nicht so langweilig ist.“
Ich war beeindruckt und bekam erneut ein schlechtes Gewissen, solch unvergessliche Momente für meine Kinder nicht digital festgehalten zu haben.
Mein anerkennendes Kopfnicken muß Jürgen noch weiter ermuntert haben.
„Ganz im Vertrauen“, sagte er, jetzt etwas leiser als zuvor. „Wir haben nicht nur ihre Geburt auf Video.“
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen.
„Wie, ihr habt...?“ fragte ich, als er mir schon ins Wort fiel.
„Genau,“ flüsterte er. „Cora ist ein Wunschkind. Exakt geplant. Wir wußten auf den Tag genau, wann es passieren muß. Und da habe ich nichts dem Zufall überlassen. Scheinwerfer, Zoom mit Fernbedienung, war alles da. Kriegt sie zum achtzehnten Geburtstag.“
Da läutete es zum Ende der Pause, der Saal verdunkelte sich – nur vom Glimmen zahlreicher roter LED´s durchbrochen – und ich hatte wieder dieses Gefühl, kein Kind dieser Zeit zu sein.